Sehnsüchte gefrieren im Packeis

von Elisabeth Maier

Konstanz, 15. Februar 2013. 39 Tage Dunkelheit brechen über die Menschen in einem verlassenen Dorf am Rande der Zivilisation herein. Nur die Alten sind geblieben. Sie dröhnen sich mit Fernsehflimmern zu. Die Jungen haben das ewige Eis längst verlassen. Allein die Verkäuferin Joana will nicht in die Stadt zurück.

In einer Tankstelle im hohen Norden siedelt der junge Schweizer Dramatiker Daniel Mezger sein Stück "Findlinge" an, das am Theater Konstanz von Thorhildur Thorleifsdottir uraufgeführt wurde. Die isländische Theater- und Opernregisseurin entdeckt in dem atmosphärisch dichten Endspiel schöne, erotische Momente.

Gespür für Gewalt

"So fangen Horrorfilme an", lautet der erste Satz des Stücks, dessen Triebfeder verdrängte Ängste sind. Der Dorfbewohner Lukas sagt ihn voller Bitterkeit. Zunächst aber ist die Welt in dem Laden, den Ausstatter Josef Haldorsson mit Konserven, Keksdosen und Petroleumlampen vollgestapelt hat, in Ordnung. Mit milchigweißen Plastikfolien hat er in der Spiegelhalle des Theaters, einer ehemaligen Güterhalle am Bodensee-Hafen, ein Winterwunderland geschaffen. Die Faszination des Gletscheridylls demontiert die kluge Lichtregie. Denn blaue Polarlichter verwandeln sich hier in einen Angstraum. Simon Birgissons bedrohliche Klänge einer Alptraumlandschaft verstärken die düstere Atmosphäre. In Tanzmusik und Versatzstücken von Volksweisen hallt ein gespenstisches Echo nach.

findlinge 560 iljamess u"Findlinge" in Konstanz © Ilja Mess

Mit feinem Gespür für Mezgers vielschichtige Figuren nähert sich Thorleifsdottir dem Text, der durch Klarheit und starke Symbole besticht. Die isländische Regisseurin, die mehrere Jahre im Parlament ihres Landes die Politik mitgestaltet hat, spürt mit dem Ensemble die nackte Gewalt auf, die unter hinterwäldlerischer Gefälligkeit gärt.

Öl-Konzern im hohen Norden

So verwandelt sich die fabelhafte Welt von Sophie Kösters Joana in eine Hölle. Die Fassungslosigkeit der jungen Schauspielerin, die wunderbar zwischen Naivität und Schrecken balanciert, geht unter die Haut. Die Rolle des hilfsbereiten Nachbarn Lukas demontiert Ingo Biermann meisterhaft. Hinter der Fernsehsucht seiner Frau Karen, die sich hilflos an Kochsendungen und Serien klammert, offenbart sich ein Familiendrama.

Eine Spur zu geschäftig und eindimensional legt Odo Jergitsch die Rolle des Tankwarts an, der sich nur schwer aus seiner buchhalterischen Kleingeistigkeit befreien kann. In schlampiger Blümchenschürze und mit zerrissenen, orangefarbenen Wollstrümpfen zeigt Annette Wunsch eine alte Frau, die sich in dem frostigen Gefängnis gehen lässt. Ihre Träume von Liebesabenteuern mit Fabrikarbeitern sind verpufft. Erst als Joana eine Revolte gegen den Konzern plant, der die Tankstelle am Ende der Welt als Abschreibungsobjekt betreibt und der dort Öl fördern will, leuchten ihre Augen wieder.

Dynamische Regie und politischer Tiefgang

Den Schweizer Daniel Mezger reizt die Magie der Einöde. Im Stück des Autors sind es nicht Trolle oder andere Geister, die das Leben aufmischen. Ein junger Mann taucht auf und konfrontiert die Dorfbewohner mit dem Fremden. Jonas Pätzold vermittelt brillant zwischen den Realitätsebenen. Betörend schön tanzt er durch den Raum. Es ist seine Sprachlosigkeit, die besticht. Die undefinierbaren Eier, die er in die Tiefkühltruhe packt, wecken Urängste. Dass sich die Wut des Mobs am Ende gegen ihn entlädt, ist ein kluger Kunstgriff des Autors.

Mezgers Stärke ist nicht nur eine Dramaturgie, deren atmosphärische Fieberkurven bis ins kleinste Detail sitzen. Aus der auf den ersten Blick klischeehaft anmutenden Tankstellenstory entwickelt er ein Stück, das auch politischen Tiefgang hat. Die zerstörerische Kraft der Globalisierung ist für ihn ebenso Thema wie die Wurzeln der Gewalt, die sich in Amokläufen oder im Selbstmord entlädt. Die Findlinge aus dem Stücktitel – riesiges Gletschergestein, das durch Erderwärmung aus den Eisblöcken gepresst wird – sind für ihn nicht nur archaische Symbole, sondern vor allem Zeugen des Klimawandels, der ganze Landstriche unbewohnbar macht. In Thorleifsdottirs dynamischer Regie kommt dieser Spagat bemerkenswert klar zum Tragen.    
       

Findlinge (UA)
von Daniel Mezger
Regie: Thorhildur Thorleifsdottir, Ausstattung: Josef Haldorsson, Musik/Sounddesign: Simon Birgisson, Dramaturgie: Michael Gmaj.
Mit: Sophie Köster, Ingo Biermann Odo Jergitsch, Annette Wunsch, Jonas Pätzold.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause.

www.theaterkonstanz.de

 
Kritikenrundschau

Im Südkurier (19.2.2013) attestiert Wolfgang Bager dem Stück eine "spannend-vielversprechende Ausgangslage" – parabelartig zeige es den Umgang einer eingeschworenen Dorfgemeinschaft mit einem fremden Außenseiter. "Dass sich die Isländerin Thórdildur Thorleifsdóttir der Uraufführung des Stücks annimmt, lässt nordisch-schweizerische Kongenialität für diesen Stoff erwarten." Doch das psychologisch ausgefeilte Kammerspiel mit dunklen und kalten Seelen finde nicht statt. Ein Spiel ohne Worte, die Wirkung ohrenbetäubender Stille sei den Darstellern von der Regie nicht vergönnt. "Sie brüllen herum, als ob sie Geister vertreiben wollten. Und Schauspieler, die ständig brüllen, haben es schwer, eine überzeugende Leistung abzuliefern." Schnell ersetze die Charge den Ausdruck, wirke jede Geste, jede Handlung hohl und hölzern. "Und so wird diese Konstanzer Uraufführung eines Stücks, das so viel zu erzählen hätte von Einsamkeit, Fremdenphobie, von Zivilisation, Einöde und Raubbau an der Natur, am Ende eingeschneit von überhitzter Geschwätzigkeit mitten im nordischen Winter."

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