Mit terroristischem Selbstmitleid

von Esther Slevogt

Berlin, 15. Februar 2013. Am Anfang über der Szene eine kurze Videosequenz: Albernd springt ein junges Paar auf einer winterlichen Straße herum. Die Frau hat ein Baby auf dem Arm, immer wieder wird demonstrativ in die Kamera gewinkt. Irgendwann bemerkt man eine weitere Frau, die der Gruppe apathisch hinterher geht, einen Kinderwagen schiebend. Ehe man weitere Gedanken an sie verschwenden kann, ist das Bild wieder weg.

diegelbetapete5 280 stephen cummiskey xJudith Engel, apathisch. © Stephen CummiskeyMan begegnet der apathischen Frau dann auf der Bühne wieder, wo zuvor hektisch ein Szenenbild für sie eingerichtet worden ist: ein abgewohntes großes Dachzimmer mit Kamin und Messingbett. Und einer gelben Tapete mit wild wuchernder Ornamentik. Hier hat sich zuvor der Gatte und ein Kindermädchen ebenso an Arrangements versucht wie ein Kamerateam, das hier Stellung bezog. Links eine Tonkabine, in der die Geräusche live hergestellt werden, die bald die Filmbilder begleiten werden, in denen das Geschehen auf einer Leinwand über der Szene scheinbar wieder zusammengeführt wird, inneres und äußeres gleichermaßen. Rechts eine Tonkabine, in der, wie ein Ausstellungsstück ausgeleuchtet, die Schauspielerin Ursina Lardi an einem Mikrophon steht.

Die britische Regisseurin Katie Mitchell zerlegt in ihren Inszenierungen stets alle Elemente einer Erzählung in ihre Einzelteile, um so die Mittel des Erzählens selbst offenzulegen. Zu zeigen: Hier, so entsteht die Illusion, die ja stets etwas Gemachtes bleibt. Damit erzielt sie in ihren gefeierten Arbeiten oft den Effekt, dass der Prozess der Herstellung dieser Illusion auf der Bühne den eigentlichen erzählerischen (und illusionären) Sog erzeugt. In der Berliner Schaubühne tritt nun schließlich Judith Engel in das Zimmer ein, die apathische Frau, um die es in den nächsten 85 Minuten gehen wird.

Die Frau als Teil des Interieurs

"Die gelbe Tapete" heißt der autobiografisch grundierte Text von Charlotte Perkins Gilman, der die Basis dieses Abends ist – 1891 zuerst erschienen und ein feministischer Schlüsseltext. Denn er nahm in der Schilderung des psychischen Ausnahmezustandes einer jungen Frau ein Bild vorweg, das Virginia Woolf knapp 40 Jahre später in "Ein Zimmer für sich allein", ihrem Plädoyer für das Recht der Frau auf Teilnahme an der Kultur (und am Leben), so auf den Punkt bringen würde: "Frauen sitzen seit Millionen von Jahren im Haus, so dass im Lauf der Zeit die Wände ertränkt sind von ihrer schöpferischen Kraft." In "Die gelbe Tapete" ist das Zimmer, das Virginia Woolf eine Generation später zum Paradigma der Selbstbestimmung der schreibenden Frau gemacht hat, noch Gefängnis und die Frau Teil des Interieurs, in das sie sich aufzulösen droht.

Nach einer postnatalen Depression ist die junge Frau in Perkins Gilmans Text von ihrem Mann in ein altes Haus aufs Land gebracht worden. Ihr ist jede Tätigkeit untersagt. Heimlich schreibt sie hin und wieder, stets ihre Entdeckung fürchtend. Schließlich meint sie hinter der Ornamentik der Tapete eine gefangene Frau zu entdecken, die dort auf allen Vieren kriecht. An diese Frau knüpfen sich Befreiungsfantasien, die jedoch am Ende in einem fatalen Schreckensbild festfrieren, in dem das Innen und Außen unentrinnbar zusammenfällt.

Übers Babyphon brüllt der kleine Max

Bei Katie Mitchell nun ist die Geschichte ins Heute gebracht. Das Landhaus ist im Umland vor Berlin verortet. Es gibt ein osteuropäisches Kinderädchen, und den Ehemann spielt Tilman Strauß als sanften Mann von heute, der seine Frau liebend (und auf keinen Fall repressiv) umsorgt und angesichts der Radikalisierung ihrer Verfassung zunehmend hilflos agiert. Übers Babyphon brüllt der kleine Max. Die depressive Mutter schaltet den lästigen Apparat einfach ab. "Ich bin noch nicht soweit", sagt sie mit terroristischem Selbstmitleid, und die Kamera zoomt auf Judith Engels Schmerzensmadonnengesicht, das über der Szene überlebensgroß und drohend auf alles herabblickt. Mit entsetzensgeweitetem Blick sucht das von Iris Becher mit großer Sanftmut gespielte Kindermädchen das Weite.

gelbe-tapete 560 stephen-cummiskey xJudith Engel, Tilmann Strauß und die Kameraleute beim Verfertigen der Illusion. © Stephen Cummiskey

In der Tonkabine produziert die Schauspielerin Cathleen Gawlich mit höchster Konzentration die Geräusche, die etwa beim Herabgehen einer Holztreppe naturgemäß anfallen. Immer wieder werden die Schauspieler auch zu Kameraleuten, beteiligen sich also nicht nur durchs Spielen, sondern auch durchs Filmen an der Herstellung der Illusion dieses Abends. Das Vergehen von Zeit wird durch dauernd ausgetauschte Garderoben und schnell wechselnde Mahlzeiten (die dann überlebensgroß und allerästhetischst gefilmt wie in Hochglanzlifestylezeitschriften über der Szene erscheinen) kenntlich gemacht. In ihrem Kasten spricht mit größter Präzision Ursina Lardi den Text, mit dem wir Einblick in die Innenwelt der Frau erhalten sollen, die hier mit der Depression ihre Familie in Schach hält.

Wohlstandsverwahrloste Mittelschichtsmutti

Bloß: Was wird hier eigentlich erzählt? Der Orginialstoff ist in der Bearbeitung durch Lyndsey Turner maximal entradikalisiert. Die entrechtete und vom Leben ausgeschlossene Frau, der bei Perkins Gilman nur die Flucht in den Wahnsinn bleibt, wirkt hier nur noch wie eine wohlstandsverwahrloste Mittelschichtsmutti, die sich den Wahn als Ablenkung leistet. Man hat bald mehr Mitleid mit ihrer Umgebung als mit ihr.

Auch die Rolle der Frau in der Tapete (von Luise Wolfram als schönes 1930er-Phantom gespielt), bleibt unklar. Ihr Erscheinen wird zwar mit einigem technischen Aufwand in Szene gesetzt. Aber am Ende erlöst sie bloß die verrückte Madame – und uns –, indem sie sie zum Selbstmord mit Föhn in die Badewanne geleitet. Anders als im Original, wo nämlich der Mann das Bewusstsein verliert und die Frau mit der kriechenden Frau aus der Tapete eins geworden ist. Auch der ganze technische Apparat, sonst Sensation des Theaters von Katie Mitchell, produziert hier nur Aufwand ohne tiefere Erkenntnis.

 

Die gelbe Tapete
nach Charlotte Perkins Gilman
Fassung von Lyndsey Turner, Deutsch von Gerhild Steinbuch
Regie: Katie Mitchell, Bühne: Giles Cadie, Kostüme: Helen Lovett Johnson, Bildregie: Grant Gee, Video: Jonathon Lyle, Musik: Paul Clark, Sounddesign: Gareth Fry, Melanie Wilson, Licht: Jack Knowles, Beratung Geräusche: Ruth Sullivan, Dramaturgie: Maja Zade, Kamera: Andreas Hartmann, Stefan Kessissoglu.
Mit: Judih Engel, Ursina Lardi, Tilman Strauß, Iris Becher, Luise Wolfram, Cathlen Gawlich.
Spieldauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

Mit ihrer Kölner Inszenierung Reise durch die Nacht nach Friederike Mayröcker ist Katie Mitchell zum Berliner Theatertreffen 2013 eingeladen. 2009 gastierte sie dort mit Wunschkonzert.


Kritikenrundschau

Katie Mitchells "Konzept an sich", per Live-Filmproduktion sämtliche theatrale Elemente "wie in einem Labor" in ihre Einzelteile zu zerlegen, "ist schon hochgradig interessant", sagt Andrea Gerk im "Fazit"-Gespräch auf Deutschlandradio Kultur (15.2.2013, hier der Podcast). "Dass das mal nicht so gelingt, vielleicht auch heute nicht so, das kann ja sein", sagt sie mit Blick auf die Kritiker-Kollegen, die dieses Konstruktionsverfahrens langsam überdrüssig würden. Obwohl man an diesem Abend die ganze Zeit sehe, wie die Produktion gemacht sei, ermögliche er gleichwohl eine "Einfühlung", d.h. dass man "in diese Innenwelt" der Protagonistin eintauchen könne. Dabei sei es "phantastisch", was Judith Engel leiste, wenn sie die Hauptfigur quasi ohne Stimme verkörpere.

"Der von anderen Mitchell-Abenden bekannte Reiz, mal auf die Bühne mit den umherhuschenden Kameraleuten und Schauspielern und mal auf die darüber angebrachte Leinwand zu schauen, um mal die Teile mal das Ganze zu erfassen, will sich hier nicht einstellen", findet Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (17.2.2013). Ein cineastischer Fluss, ein Rhythmus der Bilderzählung, stelle sich nicht ein. Das radikal andere Ende als im Original, "wo eine geläuterte junge Frau über ihren Mann hinweg steigen musste, der in Ohnmacht gefallen war, nachdem er sie inmitten der abgerissenen Tapete erblickt hatte", sei "für diesen Klassiker der feministischen Literatur nach 120 Jahren Wirkungsgeschichte eine kuriose Bilanz".

Mit einem "Schade" quittiert Katrin Pauly von der Berliner Morgenpost (17.2.2013) in einer Kurzkritik diese Arbeit von Katie Mitchell: "Es hätte ein berührender Abend werden können, das Psychogramm einer Depression, doch am Ende vergaloppiert sich Mitchell, die das Geschehen allzu abrupt vom inneren Wahrnehmungs- in den Wirklichkeitsmodus schaltet."

Die Gefahr von Mitchells-Technik-Ansatz liege auf der Hand, so Andreas Schäfer im Tagesspiegel (18.2.2013). "Die Virtuosität, die beeindruckende Choreografie dieser multiperspektivischen Bildherstellung, der große Technikaufwand sollte gerechtfertigt sein durch den Stoff, um den es geht", der aber hält nicht Stand. Aus der Methode werde an diesem Abend effekthascherische Manier. "Die Mittel schnurren auf Autopilot" und es gehe einen bald nichts mehr an.

Der "herzzerknirschende Höhepunkt" des Abends ist laut Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (18.2.2013) nicht Annas Selbstmord, sondern "der Moment, in dem Anna das verzerrte Kindergeschrei aus dem Babyfon einfach abschaltet, nachdem jede Mutter-Kind-Bindung offenbar abgestorben ist". Die kalte, durchaus depressive  Frage des Abends laute: "Wenn man Zuwendung und Liebe, oder noch schlimmer, wenn man das Bewusstsein voneinander mittels Bild- und Tongebungsverfahren − zukünftig vielleicht noch ergänzt mit einer ausgefeilten Speicher- und Reizverarbeitungssoftware  − simulieren kann, bleibt da ein Rest, wenn man die Geräte abschaltet? Und wenn nicht auszuschließen ist, dass da keiner bliebe − täte der Sterbenskranke nicht recht? Wozu dann der ganze zwischenmenschliche Aufwand?" Die tapfere Wuselei, all der "hanebüchene Aufwand", "um die Sinnlosigkeit von Sinnproduktion vorzuführen", habe "fast was Tröstliches".

Mitchells Methode, Zeichen und Bezeichnetes zu trennen und unermüdlich darauf hinzuweisen, dass nichts so ist, wie wir es wahrnehmen, erschöpfe sich rasch in einer zwar raffiniert gearbeiteten, aber bald ausrechenbaren Dekonstruktion, schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.2.2013). "Jede Form von Wirklichkeit ist künstlich zusammengesetzt, doziert Mitchell mit dem ganz großen Regie-Zeigefinger." Fazit: "Der semifilmische Zauber, den Katie Mitchell mit einem riesigen Team und mit enormem technischen Aufwand veranstaltet, ist, gemessen am theatralischen Ergebnis, vor allem eins: faul."

Einen "Glücksfall" sah dagegen Peter Laudenbach (Süddeutsche Zeitung, 18.2.2013). Mitchell arbeite in ihrer Inszenierung nicht nur mit dem Medien-Kontrast zwischen Theater- und Filmbild, sie spalte auch die Protagonistin Anna in Stimme und Bild, in Körper und Bewusstseinsstrom auf. Dank Judith Engels Spiel entwickele die Aufführung einen faszinierenden Sog. Sie "spielt mit geradezu beängstigender Eindringlichkeit wie diese Anna sich abmüht, nach außen irgendwie die Form zu wahren und dabei von innen langsam zerbricht."

Weil das Mitchell-Prinzip in Berlin mittlerweile bekannt sei, "muss man diesmal nicht ganz so angestrengt der Technik auf der Spur bleiben und hat mehr Zeit darüber nachzudenken, ob mit den hochmodernen Mitteln nicht vielleicht ein ganz antiquiertes Frauenbild transportiert wird", erläutert Matthias Heine in der Welt (18.2.2013). So gestrig wie die Pseudokrankheitsbegriffe "Hysterie" oder "Nymphomanie". Doch die eigenen Einwände würden vom "beeindruckend in den Irrsinn abdriftende Gesicht von Judith Engel in Großaufnahme" überwältigt: "Das ist schon ein ziemlicher Horror!".

 

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