Shakespeare spricht

von Esther Slevogt

Berlin, 19. Februar 2013. Kann man über ein Stück, das mehr als vierhundert Jahre alt ist, weltberühmt, berüchtigt fast, noch etwas Neues sagen? Über ein Stück, das Antisemiten und Philosemiten über Jahrhunderte eine Projektionsfläche bot: William Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig". Ein Stück dazu, dem besonders nach dem Verhängnis ein paradigmatischer Charakter zuwuchs, das das 20. Jahrhundert über die Menschen brachte, deren Religion und Kultur auch eine verhasste Hauptfigur dieses Stückes wie ein Stigma trug: der Jude Shylock nämlich. Eine Figur, mit deren empathischer wie emphatischer Darstellung sich so große jüdische Schauspieler des 20. Jahrhunderts wie Alexander Granach und Fritz Kortner tief in die Theatergeschichte eingeschrieben haben. Kann man über ein solches Stück, über dass im Lauf der Jahrhunderte Bibliotheken von Sekundärliteratur verfasst wurden, noch etwas sagen, was so nie gesagt worden ist?

covernagelMan kann. Zumindest wenn man von so erfinderischer Neugier, fundierter Kenntnis von Zeit- und Theatergeschichte ist wie der große, im April vergangenen Jahres verstorbene Theatertheoretiker  und -praktiker Ivan Nagel, darüber hinaus ein nachsichtiger Erforscher der Abgründe des Menschen und voller Einsicht nicht zuletzt auch in die Wunder, welche die Liebe in der Kunst zu vollbringen vermag.

Shylock, der blutrünstige venezianische Geldverleiher, kommt in Nagels letztem, nicht mehr ganz vollendeten Buch, kaum vor. Aus Nagels Sicht handelt es sich um einen reinen Theaterpopanz, ein verworfenes Fabelgeschöpf, mit dessen Erfindung Shakespeare die Blutrunst des judenfeindlichen christlichen Publikums seiner Zeit bediente, dass sich an Shylocks Untergang ergötzen wollte. Schließlich war "Der Kaufmann von Venedig" eine Komödie. Shylock, dem Shakespeare aber doch die berühmten Worte unterjubelte, die diese finstere Gestalt so unsterblich machen sollten (und dem Lachen über seinen Untergang für immer den Garaus, weil Shakespeare zur Empathie mit Shylock zwang): "Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? ... Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?"

Ein doppeltes Drama

Shylock bleibt in Nagels Buch eine Randfigur. Seine Aufmerksamkeit gilt der jahrhundertelang vernachlässigten Titelfigur des Stücks, dem Kaufmann von Venedig nämlich, Antonio mit Namen, der bei Shylock das Geld für die Brautwerbung seines Freundes Bassanio leiht und für die Rückzahlung des Geldes mit seinem Leben bürgt. Ein Pfund Fleisch darf Shylock ihm bei Zahlungsunfähigkeit aus dem Leib schneiden, so will es der Plot.

Durch akribische Lektüre weist Nagel nach, dass Shakespeare mit diesem widersprüchlichen Stück eigentlich zwei Dramen in einem schrieb. Eines, das auf der populistischen Ebene als zeitgenössisches Liebes- und Schauerstück funktionierte, und ein zweites, das sich nur jenen erschloss, die hören und sehen wollten. Und die vielleicht die eigentlichen Adressaten des Dramas waren, dessen Titelfigur für Nagel nun zum Schlüssel wird, mit dem er nicht nur Shakespeares Werk, sondern auch dessen Biografie neu liest.

Es ist ein großes Abenteuer, Nagel bei seiner Beweisaufnahme zu folgen, wie er Buchstaben für Buchstaben in diesem Drama umdreht und dahinter Unwahrscheinlichstes zu Tage fördert: die tragische Liebesgeschichte zweier Männer, Antonios und Bassanios zum Beispiel, der Antonio für Portia verlässt (und doch seine Hochzeitsnacht noch mit Antonio verbringen wird). Nichts, was Nagel nicht zu lesen und zu deuten versteht: was die Preise von Theaterplätzen über den Begriff von Theater in Shakespeares Zeit aussagen, welche realen Ereignisse in das Drama eingeflossen sind, wie die männerbündische Gesellschaft am englischen Hof lebte und liebte, wie die ökonomischen und künstlerischen Bedingungen waren, in denen nicht nur dieses Stück, sondern überhaupt Shakespeares Dramen möglich wurden.

Zeitenwechsel ins Schweigen

Jede Figur im "Kaufmann" hat ein zweites Gesicht, das Nagel mit stupender Genauigkeit der Lektüre enthüllt. Schicht um Schicht führt er durch Berge von Sekundärliteratur (samt deren Blindheit dem Offensichtlichen gegenüber: dass Antonio homosexuell ist). Nagel zeichnet ein genaues Bild der Kreise um König Jakob I., Shakespeares bedeutendem Förderer, und legt dessen Biografie samt seiner Liebe zum Herzog von Buckingham wie eine Folie über Shakespeares Theaterfigur Antonio, in der Jakob I. sich möglicherweise spiegeln können sollte.

Die eindrucksvollsten Strecken des Buchs gelten den Sonetten Shakespeares, die Nagel im Kern als ausgelagerte Liebesgedichte Antonios an Bassanio liest, als Antonios "intime Stimme", der im Stück selbst über das Wesentliche schweigt – (und die Nagel auch neben die überlieferten Briefe Jakobs I. an seinen "fair boy" Buckingham legt).

Was Antonio am Sprechen hindert, ist ein Zeitenwechsel: Es ist, wie Nagel schreibt, der Beginn des bürgerlichen, aufgeklärten Zeitalters, an dessen Schwelle die Theaterpopanze nun menschliche Seelen erhalten, die romantische (heterosexuelle) Liebe erfunden und der Homosexuelle plötzlich zum Krankheitsfall gestempelt wird (dessen Lebens- und Liebesform seit der Antike ohne Anstoß war). Und hier, wo plötzlich Sein und Schein auseinanderzufallen beginnen, treffen sich in Nagels Lesart auch die beiden Außenseiter, die die Achse des Stückes bilden: der Jude Shylock, mit dem Shakespeare durch die psychologische Öffnung (und Deutung) seiner Rachegelüste als Ergebnis seiner Ächtung und Verfolgung die Schwelle zur Aufklärung überschreitet. Und der Homosexuelle Antonio, den die Überschreitung eben dieser Schwelle in die neue Rolle eines Außengestoßenen und ins Schweigen zwingt.

Mit seinem faszinierenden Buch hat Ivan Nagel dieses Schweigen, in dem er auch das Schweigen Shakespeares erkennt, nun gebrochen. Und zwar so, dass man beim Lesen manchmal meint, durch die Jahrhunderte plötzlich Shakespeare selbst sprechen zu hören.

 

Ivan Nagel:
Shakespeares Doppelspiel. "Der Kaufmann von Venedig" neu gelesen
Insel Verlag 2012, 333 S., 32 Euro

 

Mehr Buchkritiken sind hier zu finden.

Besprochen wurden auf nachtkritik.de bereits Ivan Nagels Schriften zur Politik. Außerdem wurde über den Streitraum "Antisemitismus in Ungarn" an der Berliner Schaubühne berichtet, eine Diskussion im Januar 2012, wo auch Ivan Nagel mit auf dem Podium saß. Und hier gratulierte nachtkritik.de dem Allround-Intellektuellen zum 80. Geburtstag.

 

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