Auf der schiefen Meta-Ebene

von Andreas Wilink

Bonn, 22. Februar 2013. Frontstellung vor dem Eisernen Vorhang, ziemlich offensiv und massiv unterstützt von dröhnendem Punk. Die Formation bereitet die Attacke vor gegen die Unversehrtheit des Dramas – Gerhart Hauptmanns "Die Ratten". Zehn Personen, eine davon im Rattenkostüm (es trägt der Theologie-Student Spitta, der lieber von der Bühne herab predigen würde), lassen sich mittels Pfeilen zuordnen, die jeweils von den über dem gereihten Ensemble angebrachten Namen im Stück auf die Köpfe ihrer Darsteller weisen. Die Merker sind so etwas wie der ausgestreckte Zeigefinger des Regisseurs, mit dem dieser – Lukas Langhoff – ganz gern fuchtelt, zum zweiten Mal nun in den Godesberger Kammerspielen.

Nach Castorf'scher Konstruktionsformel

Jeder im Glied stellt sich mit einem Satz vor: "Ich spring' in Landwehrkanal und ersaufe". Die Drohung gehört zu der ein uneheliches Kind austragenden Pauline Piperkarcka, die zur russischen "Ostblock-Schlampe" umfrisiert wurde. Das "Milljöh" von Altberlin ist jetzt "Szene" und auch sprachlich den wechselnden Verhältnissen vom wilhelminischen Kaiserreich zur Berliner Republik angepasst: Punkszene (Bruno), Prekariat (die Knobbe als elend geschminktes Kind vom Bahnhof Zoo und der Hausmeister im Hassenreuter-John-Mietsbau), Ausländer-Szene (dito der türkische Hausmeister und die Russin Pauline), Gay-Szene (wiederum der multipel einsetzbare Hausmeister des Volkan T., der auch die Musik der Aufführung verantwortet); schließlich Volksbühne-Szene mit den Damen Walburga und Alice Rütterbusch, die nach Castorf'scher Konstruktionsformel funktionieren. Es mischen sich Kreuzberger Nächte mit Prenzlauer Berg-Café-Latte-Kultur.

Ich und mein Fernseher

Viel mehr Konzept, als einen vermeintlich abgelebten Naturalismus zur Gegenwart (aufgepasst: Realität nicht Realismus!) aufzumöbeln und dabei drastisch zu verknappen, ist nicht. Das Programmheft referiert zehn Statements zu "Theater und Wirklichkeit", darunter eine Einlassung von Einar Schleef, die naturgemäß am mundechtesten ist und verdient, genannt zu sein: "Im traditionellen Sprechtheater hat der Schauspieler den Traum vom Individuum zu erfüllen. Aber wo gibt's denn heute ein Individuum? Bei mir zu Hause ist kein Individuum – da bin ich, und da ist der Fernseher."

Entsprechend stellt sich die Realität dieser "Ratten" dar, die bei Stand-up-Comedians oder wahlweise dem Eurovision-Song-Contest-Vorentscheid Heimat nimmt. Was, selbstverständlich, ironisch zu verstehen sei, ebenso wie das gelegentliche Pathos, wenn in der Mutter-John-Tragödie die "La Mamma Morta"-Arie der Oper "Andrea Chénier" aus dem Schlaglicht einer offenen Tür in den erkalteten Raum dringt. Sonst sind E-Gitarre und eine modernisierte Singende Säge die bevorzugten Geräuschquellen.

ratten2 560 thilo beu uUnten auf der Wohlstandsleiter: Susanne Bredehöft und Falilou Seck als Ehepaar John sowie Gevatter Ratte  © Thilo Beu

Nun muss niemand, wie Michael Thalheimer in seiner Ratten-Inszenierung 2007, seine aus krummem Holz geschnitzten Schauspieler sich buckeln und nach der Decke strecken lassen, die auf ihnen lastet und sie in Beugehaft nimmt, um das existenziell Drückende zu versinnbildlichen. Aber es wäre schon schön, eine Verbindung zu stiften zwischen dem Hassenreuter-Dachboden und der John-Etage, was nicht mit einem rostfarbenen Gerüst aus Eisengittern getan ist, das sich zu allerlei Metaebenen versteigt. Karin Henkel in Köln gelingt dies, indem sie den Fundus (Hassenreuters) als konkrete Metapher nimmt, aus dem heraus Situationen und Haltungen auf ihre Spielbarkeit überprüft werden, mal herzinnig, mal selbstreflexiv aufs Theater als Ort der Schaulust bezogen.

Ein Schuss angewandte Theatertheorie

In Bonn haben die beiden Welten nichts miteinander zu schaffen. Wenn Susanne Bredehöft als Jette John und ihr Paul (Falilou Seck mit Hau-den-Lukas-Sensibilität) in vollem Ernst ihre Katastrophe erleiden, scheint man versehentlich von einem Spaßsender zappend beim Theaterkanal gelandet zu sein. Was sich als Eindruck wiederum nicht halten lässt, wenn Jette, Paul und Bruder Bruno das letale Finale wie die Protokollakte eines psychologischen Gutachtens vortragen.

Bei Harro Hassenreuter (Stefan Preiss), bei Spitta (Simon Brusis), der seltsamerweise zur Pink-Panther-Melodie sadomasochistische Fantasien entwickelt und es jucken lässt, trotzdem den "Woyzeck" rezitiert und demnächst vermutlich ein heulsusig frustrierter Vorabendserien-Darsteller sein wird, sowie bei der Rütterbusch (Johanna Wieking) herrschen hingegen viel angewandte Theatertheorie, Deutscher Bühnenverein-Appellcharakter ("Apparat verschlanken und Struktur erhalten"), wohlfeile Schelte (Unfreiheit des Stadttheaters, Willkür, Eitelkeit, Mittelmaß etc.) nebst anderen Redensarten und brav geprobtem, kabarettistisch aufgekratztem Stegreif, der auch kleine Scherze für den Insider produziert. Als solcher weiß man, dass Ibsens "Volksfeind" in Regie von Lukas Langhoff letztjährig aus Bonn nach Berlin zum Theatertreffen geladen ward. Die Sorge muss man diesmal nicht haben.


Die Ratten
von Gerhart Hauptmann
Regie: Lukas Langhoff, Bühne: Regina Fraas, Kostüme: Ines Burisch, Dramaturgie: Christopher Hanf, Musik: Volkan T.
Mit: Elmira Bahrami, Susanne Bredehöft, Simon Brusis, Anastasia Gubareva, Nico Link, Maria Munkert, Stefan Preiss, Falilou Seck, Volkan T., Johanna Wieking.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.theater-bonn.de

Kritikenschau

"Für Psychologie und Feinheiten interessiert sich Lukas Langhoff nicht", konstatiert Stefan Keim in der Welt (25.2.2013). "Bei ihm haben die Charaktere keine Beweggründe oder Schicksale. Sie sind gewissenlose Raubtiere, nur am eigenen Überleben interessiert, Ratten eben." Von Hauptmanns Text bleibe wenig übrig, Langhoff verweigere am Schluss jede Dramatik und wirke oft "wie ein Castorf-Epigone, ohne dessen Niveau an Selbstreflexion zu erreichen". Kurz: "Die Aufführung wirkt pubertär, maßlos in ihren Mitteln, kurzatmig und inhaltsarm."

Langhoff lasse "Komödie à la Langhoff spielen und Tragödie à la Hauptmann", findet Dietmar Kanthak im Bonner General-Anzeiger (25.2.2013). Das sei oft zum Lachen. Auch vor Albernheiten, wohlfeilem Klamauk und bereits 'Volksfeind'-erprobten Bonn-Berlin-Scherzen schrecke Langhoff nicht zurück. "Besagter Harro Hassenreuter extemporiert übrigens auch über das männliche Glied." Trotz der Musik, die Kanthak ausdrücklich lobt: "Zu einem stimmigen Ganzen addieren sich die assoziativ im Raum verteilten Puzzleteile dieser Inszenierung nicht."

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.2.2013) zieht Andreas Rossmann einen Vergleich zwischen den Kölner "Ratten" von Karin Henkel und den Bonnern von Lukas Langhoff: Das Personal der Tragikomödie von 1911 stelle in Bonn "eine Parade zwischen Prekariat und Prolligkeit, Punk und Pop" dar, zu Hause "im heutigen Berlin". Von der Mietskaserne bleibe im Bühnenbild nur ein Gerüst, mit "dem Milieu" falle auch die Tragödie der Mutter John "durch den Rost". "Not und Gewalt" würden "äußerlich skandalisiert", Hauptmanns Realismus "auf Gegenwart und Krawall gebürstet". Die Schauspieler dürften, "sozialexotisch aufgebrezelt", ihre Rollen so weit "ausbauen oder abtreten", dass sie mit dem Stück nichts mehr zu tun hätten. Die "Realismusdebatte über das Theater", die Hassenreuter mit Erich Spitta führt, falle dafür "weitgehend flach". Was von "Hauptmanns Sozialkritik" übrig bleibe, blitze in "eher unvermittelten Momenten auf", wenn die entkräftet-fragile Mutter John von Susanne Bredehöft und Anastasia Gubarevas verhetzte Piperkarcka aufeinander losgehen. "Die Bonner Kapitulation vor dem Stück muss sich nach der Neuerkundung, die ihm im vergangenen Herbst am Schauspiel Köln zuteilwurde, um so kläglicher ausnehmen."

 

Kommentare  
Ratten, Bonn: grauenhaft
Der Abend war grauenhaft, genau wie der Volksfeind damals. Ein Trauerspiel.
Ratten, Bonn: Ich weall niet na Berlin!
Wie Andreas Wilink beschreibt, besteht die Inszenierung aus sehr unterschiedlichen, willkürlich konstruiert erscheinenden Fragmenten, die man daher nicht mit dem gleichen Maß abwerten muss. Zumindest werden die drei gewollten großen Aspekte der Produktion sichtbar, - die soziale Lage, die psychische Zwangslage und die Selbstzweifel an der Schauspielerei. Gleichwohl werden die Besucher, die das Stück nicht kennen, kaum verstehen, worum es schlicht geht. Und wer es kennt, muss sich fragen, worauf Langhoff hinaus wollte. Warum ist ausgerechnet der theatergläubige Theologiestudent als Ratte vermummt? Warum trägt nicht dieser sondern der Schauspieldirektor die Verse nach Oscar Wildes „Nachtigall und die Rose“ vor? (Und warum überhaupt? Weil es vielleicht auf der selben Bühne am anderen Abend auch bei T. Williams „Sommer und Rauch!“ zitiert wird?) Und warum doziert er ausführlich, dass der Penis eine schwache Kompensation der männlichen Unfähigkeit für das weibliche Gebären ist? Man versteht, wenn seine Geliebte auf wienerisch plärrt, „ich weall niet na Berlin“; die Bonner wollen es ganz bestimmt nicht und das Bekenntnis könnte vielleicht die Besucher mit der Inszenierung versöhnen.
Paul Tostorf
Ratten, Bonn: nicht wienerisch
Ich weall niet na Berlin! ist sicherlich nicht wienerisch jedenfalls.
Ratten, Bonn: beeindruckt
Die Ratten
Ich war so beeindruckt, 1. von der Inszenierung und 2. von der schauspielerischen Leistung (das "wienerische" hätte man sich sparen können oder aber von einer richtigen Wienerin sprechen lassen), daß ich mir das Stück nochmals ansehen werde.
Ratten, Bonn: Sesamstraße
Ich fand den Abend auch eher grauenhaft. Weder die Inszenierung noch die Schauspieler konnten überzeugen.
Tolles Stueck aber hier wohl eher was für die Sesamstrasse.
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