Wir Voyeure

von Wolfgang Behrens

Berlin, 23. Februar 2013. Zunächst einmal ist da dieses Wort: Randgruppe. Das Wort kann es nur geben, wenn da auch irgendwo eine Mitte ist. Aber wo ist diese Mitte? Die Antwort scheint klar: Wir natürlich, wir sind die Mitte, wer sonst? Wer freilich "wir" sind, das ist dann schon gar nicht mehr so klar. Dieses Wir ist wohl vor allem dadurch gekennzeichnet, dass es sich selbst für die Mitte hält und sich auch selbst irgendwelche Mehrheitseigenschaften zuschreibt. Weiß zum Beispiel. Oder christlich geprägt. Oder deutschsprachig. Oder nicht-behindert. Durch eine solche Definition der Mitte werden auch die Ränder markiert: Ein Außenseiter – einer, der sich am gesellschaftlichen Rand bewegt – ist man nicht einfach, man wird durch den Definitionsprozess einer Wir-Gruppe dazu gemacht.

Mitte und Rand

Das Theater hat sich schon immer für die Randgruppen interessiert. Und es war auch schon immer ein gutes Medium, um aufzuzeigen, wie die Gesellschaft ihre Markierungen vornimmt. Theater ist allerdings selbst Teil der Gesellschaft – und als Institution agiert es üblicherweise eher aus der Mitte heraus als von den Rändern her. Und, jetzt wird es heikel, oft genug stellen im Theater Menschen, die selbst aus der gesellschaftlichen Mitte kommen, Menschen dar, die am Rand stehen. Das alles tun sie für ein Publikum, das sich selbst wiederum als Mitte definiert. Wie aber zeigt man den Menschen aus der Mitte den Außenseiter am besten? Indem man die Stereotypen reproduziert, die ihn markieren. Es entsteht so eine Art Stereotypen-Folklore, an der man sich voyeuristisch erfreut. Und während man noch glaubt, den Außenseiter jetzt viel besser zu verstehen, hat man ihn schon wieder als solchen denunziert und in seiner Rolle festgeschrieben. Das ist bei Othello nicht anders als bei Beppi.

stallerhof2 560 arno declair h"Stallerhof": Markwart Müller-Elmau und Mereika Schulz   © Arno Declair

Beppi ist das geistig zurückgebliebene Mädchen, das Franz Xaver Kroetz 1971 für sein karg-düsteres Volksstück "Stallerhof" ersonnen hat. Aufgrund ihrer Behinderung wird Beppi von ihren eigenen Eltern – einfache bayerische Bauern – kurz gehalten und an den Rand gedrängt, nur der seinerseits sich vom Leben benachteiligt fühlende Knecht Sepp schenkt ihr Beachtung und schwängert sie schließlich. In "Geisterbahn", einer Fortsetzung von "Stallerhof", versucht Beppi, ihr Kind aufzuziehen. Nachdem der Vater Sepp stirbt, soll es ihr jedoch weggenommen werden, woraufhin die verzweifelte Mutter zur Kindsmörderin wird.

Konvention und Innovation

Meines Wissens ist die Beppi bislang immer von nicht-behinderten Schauspielerinnen dargestellt worden: Bei der Uraufführung etwa war es die blutjunge Eva Mattes, in jüngerer Zeit hat man in Wien Sarah Viktoria Frick oder in Stuttgart Silja Bächli in dieser Rolle sehen können. Frank Abt hat nun für seine Inszenierung von "Stallerhof" samt der "Geisterbahn"-Fortsetzung an den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin die Idee gehabt, die Beppi mit einer behinderten Schauspielerin zu besetzen: mit Mereika Schulz, die zum Ensemble des integrativen Theaters Thikwa gehört.

Die Außenseiter-Markierungsproblematik ist mit dieser Besetzung nicht aus der Welt geschafft: Sie ist dem Stück immanent und somit unumgänglich. Mit der Stereotypen-Folklore aber ist es vorbei. Dafür wird ein anderes voyeuristisches Gen im Zuschauer aktiviert: Wie wird diese als besonders empfundene Schauspielerin im Ensemble des Deutschen Theaters bestehen? Wie wird sie Kroetz' teils deftig naturalistische Szenen, Nacktauftritte inklusive, spielen? Wird sie überhaupt spielen oder einfach nur "authentisch sein"?

Stocknüchtern und eindringlich

Frank Abt hat all diese Fragen geschickt unterlaufen, indem er aus "Stallerhof" eine stocknüchterne und gerade dadurch still eindringliche Veranstaltung macht. In dem spätestens seit Jürgen Goschs Inszenierungen wieder so beliebten weißen Bühnenkasten, den diesmal nicht Johannes Schütz, sondern Anne Ehrlich gebaut hat, führt Thorsten Hierse als Erzähler durch die Handlung. Er spricht die Regieanweisungen und auch Teile des Dialogs, enorm präsent steht er zwischen den fast überkonventionell im Bauerntheaterstil gekleideten Stückfiguren, folgt ihnen bei jeder Regung mit dem Blick und wirkt so beteiligt, als könne er jederzeit in die anderen Rollen einsteigen. Auf diese Weise wird er auch oft zum Stichwortgeber für die Beppi der Mereika Schulz, ohne dass man als Zuschauer wüsste, ob sie diesen überhaupt benötigt.

Immer wieder sagt Hierse auch das Wort "Pause", das in Kroetz' Text Zäsuren anzeigt und den Dialog mit lastender Stille auflädt. Diese Stille ist bei Abt gestrichen, der "Stallerhof"-Teil etwa schnurrt so in gerade einmal 45 Minuten ab. Gestrichen ist auch der Naturalismus, kein Beischlaf, kein Onanieren, keine Nacktszene – das alles bleibt erzählte Regieanweisung (und Mereika Schulz somit erspart). Die Darsteller begnügen sich mit ihrer genau in Kroetz' kunst-bajuwarisches Idiom hineinhörenden Wortkunst und mit ein paar hinreichend klar angedeuteten Körperhaltungen und Mienen: Markwart Müller-Elmaus geduckter Kopf etwa erzählt schon genug über seinen Sepp, er muss ihn nicht großartig hinchargieren.

Mereika Schulz ist einfach dabei, sie spricht mit ihrer klaren Stimme (und sagt "Hümmel" statt "Himmel"), sie hantiert mit Holzpuppen oder sie schaukelt das Kind in der Wiege. Und all die voyeuristischen Fragen, die man als Zuschauer an sie und ihre Behinderung hatte, stellen sich nicht. Oder sie werden nicht beantwortet. Jedenfalls nicht auf der Bühne, sondern höchstens im Kopf des Zuschauers. Man verlässt das Theater ohne jede Peinlichkeit. Denn die Begegnung mit der sogenannten Randgruppe ist in großer Selbstverständlichkeit abgelaufen. Und denunziert wurde, so glaube ich, niemand.

 

Stallerhof
von Franz Xaver Kroetz
Regie: Frank Abt, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Marie Roth, Musik: Moritz Krämer, Dramaturgie: Meike Schmitz.
Mit: Thorsten Hierse, Matthias Neukirch, Isabel Schosnig, Mereika Schulz, Markwart Müller-Elmau.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause 

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Bloß kein bayrisch-dörfliches Siebziger-Jahre-Abziehbild, tönt es hier quasi aus jedem Bühnenbrett", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (25.2.2013). An einem einzigen Punkt allerdings werde Abt plötzlich hyperkonkret, wenn er die geistig zurückgebliebene Beppi von einer behinderten Darstellerin spielen lasse. In Mereika Schulz begegne man "einer interessanten Akteurin, die durch den an sämtliche Schauspieleradressen Stichworte verteilenden Erzähler Hierse im Grunde perfekt ins Ensemble eingebettet ist".

Einen bebilderten Hörroman hat Doris Meierhenrich erlebt, wie sie in der Berliner Zeitung (25.2.2013) ausführt. Mehr noch: Der Abend sei in seiner "drögen Zwangsjacke" ein durch Angst "komplett gescheiterter Versuch integrativen Theaters". Abt erniedrige Beppi noch einmal, indem er Mereika Schulz’ Rolle kleinstutze und sie weitgehend dem Bericht des pseudokultivierten Erzählers überlasse.

In der Süddeutschen Zeitung (28.2.2013) schreibt Peter Laudenbach, der Regisseur stelle die Figuren auf eine "aseptisch cleane Spielfläche, die nun wirkt wie ein Menschenbeobachtungslabor". Die allgemeine Künstlichkeit werde nur durch die Besetzung von Mereika Schulz aufgebrochen. "Das ist alles ordentlich, aber leider keine Neu-Entdeckung oder -Interpretation des alten Stücks. In seiner fürchterlich rechtschaffenen Didaktik bleibt es auch arg zäh und etwas ermüdend."

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