Im Jenseits torkeln

von Sophie Diesselhorst

28. Februar 2013. "Wir sind dazwischen" rufen die Performer etwa auf der Hälfte des Abends. Immer wieder. Dazwischen, ja. Das trifft aber vielleicht eher aufs Publikum zu. Das befindet sich zwischen dem im Programmzettel mit großen Worten beschriebenen Konzept des Abends – "Don't hope" ist Gegenentwurf zur Gegenwart" – und dem, was da gerade auf der Bühne passiert: Vier erwachsene Männer benehmen sich wie Kleinkinder: prügeln, streicheln sich, brabbeln einander Sätze nach. Sätze wie "Wir sind dazwischen."

Versandung im dementen Hirn

Doch die sind nicht dazwischen. Die sind drüber. Sie haben sich zu Anfang des Abends ein Jenseits geschaffen, in dem sie nun herumtorkeln. Das ging so: vor einem breit in Krankenhaustürkis, Schulhellblau, Altersheimbeige gestreiften Vorhang stellten sie sich auf und fingen an, Interviews zu reenacten. (Dass diese Interviews tatsächlich geführt worden sind, steht im Programmzettel).

Mitteljunge Menschen aus Berlin, denen irgendwie schon klar ist, dass ihre übertriebene Selbstbezogenheit lächerlich ist, versuchen sich mit alten Menschen aus einem Münchner Altersheim, die dabei sind den Verstand zu verlieren, über Fragen zu unterhalten wie die, ob Selbstverwirklichung sinnvoll ist (Frau T., die ansonsten ständig – misstrauisch ins Publikum äugend – fragt, ob "das da die Turnerdamen sind", sagt ja). Irgendwie rührend, aber lichte Momente sind rar. Das Gespräch, so beharrlich es nach jeder Versandung im dementen Hirn von Frau T. oder Herrn X. immer wieder begonnen wird, bietet keine Verständigungsmöglichkeit.

Einander hilflos hauen

Auch die Theaterbühne, die im folgenden enthüllt wird, bietet diese Möglichkeit nicht für Martin Clausen und Kollegen, das wird schnell klar. Der Vorhang fällt, und es beginnt zwischen zweien der Performer ein Ringkampf der Unentschlossenheit. Eine hilflose Prügelei, die immer mal wieder in Zärtlichkeit umschlägt. Und dann wird's wieder brutal. So wie im echten Leben, wenn man sich zu nah kommt.

Hinter den beiden steht ein großes, buntes Zelt. In das verschwinden sie irgendwann, und es tritt ein Mann mit Gitarre ins Bühnenzentrum. Er singt ein schönes Lied mit einer simplen Melodie und einem Text voll hübscher Sprachspielerei. Dann kommen die beiden wieder aus dem Zelt heraus und noch ein dritter. Und sie fangen wieder an, Übersprungsreaktionen zu spielen. Einander hilflos zu hauen. Und so weiter.

Ab und zu bricht sich zwischen gemeinsamem Nonsens-Gebrabbel bei einem einzelnen irgendeine Erkenntnis Bahn: "Ich hätt doch Astronaut werden können! Hab ich ja nicht gemacht. Und was mach ich stattdessen? Ich ernähre mich von Licht." Das Publikum gackert. Ja, so ist das. Dazwischen.

Lala-Lackmustest

Neben all den undefinierten Geheimnissen dieses Abends gibt es auch noch ein definiertes. Das heißt Johannes und läuft stumm zwischen alldem herum. Johannes wird immer wieder dazu gerufen, aber er macht nicht mit, sondern steht nur stocksteif da und guckt ins Leere. Wahrscheinlich ist er so eine Art Lackmus-Test? Solange Johannes nicht mitmacht, ist das Jenseits-aller-Verständigungsmöglichkeit, das "Erkenntnisprinzip Ernüchterung" (siehe Programmzettel) gewahrt? Man weiß es nicht.

Fest steht: Ein hübsches Lied hat noch jeden Abend gerettet. Und so wird am Ende eins angestimmt. Wie sollte es anders enden als mit einem versöhnlichen "Lalala".

 

Don't hope
Konzept/Regie: Martin Clausen, Musik: Doc Schoko, Mario Schulte, Harald Wissler, Raum und Objekte: Ivan Bazak – Karpatentheater, Lichtdesign: Benjamin Schälike, Kostüme: Anna-Lisa Kentner, Malena Modéer, Künstlerische Mitarbeit: Werner Waas
Performance: Martin Clausen, Johannes Dullin, Johannes Hock, Peter Trabner.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.hebbel-am-ufer.de

 

Kommentare  
Don't hope, Berlin/Bremen: ungeheure Euphorie
Im Theater gewesen. Gelacht. Geweint.

Ich verspüre eine immense Diskrepanz zwischen der Kritik von Sophie Diesselhorst und meinen Eindrücken des Stückes. Die Aufführung am 01.12.2013 in der Bremer Schwankhalle habe ich als berührenden, großartigen Theaterabend erlebt.

Der Abend begann mit einem, wie ich finde, sehr gelungenen Reenactment eines Gesprächs zwischen zweien der Performer und zwei Bewohnerinnen eines Münchner Pflegeheims in unterschiedlichen Demenzstadien. Aneignung und Selbstsetzung sind essentielle Dimensionen eines jeden künstlerischen Reenactments. Der Ausgangspunkt der inszenierten Wiederholung eines Erlebnisses, eines Gesprächs ist fraglos immer die Isolation der Situation in ihrer Wiederholung, in der sie zur Beute der Gegenwart wird und in der der Künstler seinen eigenen Status stabilisiert, indem er die Situation auf sich verpflichtet. Sophie Diesselhorst schreibt von übertriebener Selbstbezogenheit. Ich sehe die Selbstbezogenheit auch. Ja. Und?

Begeistert hat mich bei diesem ersten Teil des Stückes die Genauigkeit mit dem die verschiedenen Stimmungen der Performer bei dem Gespräch herausgearbeitet wurden. Wie sie genau wie die Bewohner nach Antworten suchen und um Worte ringen, wie sie resignieren und enttäuscht reagieren, wenn es an einem für sie interessanten Punkt (scheinbar) nicht weitergeht, wie sie versuchen ihren eigenen Ansprüchen an einen guten Umgang miteinander und an ein respektvoll geführtes Gespräch gerecht zu werden und dabei zwischendurch auch immer wieder scheitern, wie sie sich freuen, wenn sie etwas finden und festhalten können, mit dem sie weiterarbeiten wollen. Das Bild, das dabei von der in unserer Gesellschaft gettoisierten Erkrankung Demenz gezeichnet wird, habe ich als ein sehr ehrliches wahrgenommen, das auf Beschönigungen und Romantisierung weitgehend verzichtet. Eine Auseinandersetzung über Selbstverwirklichung, den Produktivitätszwang unserer Gesellschaft, Glück, das richtige Leben und Konsumkritik ist (trotzdem) möglich, wenn vielleicht auch langsamer, anders, fremd. Im Kopf geblieben sind mir hier die beiden folgenden wunderschönen Erklärungen und Erkenntnisse von Frau T. und Frau K.: Woran merkt man denn, wenn etwas nicht richtig ist?, fragt einer. Das merke man daran, wenn etwas dazukommt und das was wichtig ist, das lässt man dann weg, antwortet Frau T. Und Frau K. sagt an einer Stelle, dass es ganz normal sei, wenn man manchmal zu anderen mehr Takt habe, als zu sich selbst. Ja, das kenne ich auch, denke ich sofort und freue mich, dass diese Worte und Gedanken durch das Theater eine Weg zu mir gefunden haben.

Dieser erste etwa viertelstündige Teil funktionierte wie eine Prolog und überschrieb den Abend mit der ewigen Frage nach dem guten, dem richtigen Leben. Ist es gut, zu hoffen? Kann man/ muss man hoffen und streben gleichsetzten? Muss man immer vorankommen, in Bewegung sein, Veränderungen/ Verbesserungen erreichen und erreichen wollen? Wenn wir immer in Bewegung sind, immer hoffen und streben, wann leben wir dann je richtig und wann sind wir glücklich? Kann man auf etwas hoffen und trotzdem im Hier und Jetzt und glücklich sein? Wenn wir nicht mehr hoffen, stehen wir dann still und ist das dann unser Ende? Woher kommt dieses treibende Gefühl, das Gefühl immer etwas wollen zu müssen? Kommt es aus uns selbst oder wird es permanent von außen an uns herangetragen?

Der Prolog endete mit einem Countdown. Von zehn auf eins hörte ich die Stimmen der Pflegeheimbewohner*innen runterzählen. Johannes bis in die kleinste Gesichtsregung grandios gespielt von Johannes Hock trat auf die Bühne und ließ den Vorhang fallen und ich wartete gebannt und erwartungsvoll auf das, was nun kommen würde. Natürlich erhoffte ich mir Antworten.

Auf der Bühne stehen ein großes und ein kleines Zelt. Das Setting lässt mich an meine Kindheit und Jugend denken, an mein eigenes Mich-ausprobieren, Suchen und Finden, an meine Träume und Hoffnungen von damals, an Zeltlager mit Freunden und Nicht-Freunden und an lange Nächte am Lagerfeuer, in denen alles gut und richtig war. Es treffen in unterschiedlichen Konstellationen zu immer neuen Bildern die vier Performer und drei Musiker des Abends zusammen. Sie übersetzten das Demenz-Bild aus dem Prolog behutsam und abstrahierend von der sprachlichen Ebene in körperliche Bilder. Die ständigen Auf- und Abbrüche bieten keine einfachen Antworten, keine Narration. Zusammenhänge entstehen, bauen sich auf und zerfallen wieder. Als Zuschauerin bin ich ständig gefordert. Halte ich an dem gerade zerfallenden Bild fest oder lasse ich mich auf das neue ein? Irgendwann arrangiere ich mich damit und lasse mich gemeinsam mit den Figuren hin- und herwerfen. Lebe im Moment und erlebe die Intensität beim Streicheln, sich Nahe sein und gleichsam beim Sich-reiben und Schlagen, Sich-wegstoßen und Fressen-wollen.

Das Jenseits, dass Sophie Diesselhorst hier reinliest, sah ich nicht. Ich sah das Diesseits. Sah ein Abbild unserer Gesellschaft, die Versuche den eigenen Ansprüchen und denen der Gesellschaft gerecht zu werden, das ständige Streben nach Erfolg, nach Glück und der richtigen Konfektionsgröße, die die wunderschönen Momente, die sich zwischendurch entspannen, immer wieder zerbrechen und zerfallen ließen. Der Gegenentwurf zu unserer Gesellschaft, der in einer der Ankündigungen zum Stück versprochen wird, ist sicherlich sehr hoch gegriffen, liegt für mich aber nicht in dem, was auf der Bühne gezeigt wird, sondern in meinem Blick darauf. Hierzu als Leseempfehlung der Link zu einem Blog, in dem eine geschätzte Kollegin von mir im Rahmen einer Kolumne mit dem Titel "Theatervorurteil des Monats" einen Aufsatz zu dem Vorurteil "Theater ändert nichts" eingestellt hat: http://theaterverstaerkerbremen.wordpress.com/2013/07/05/theater-andert-nichts-2/

Unsere Welt ist konstruiert. Dass Bewegung, Streben, Veränderung positiv konnotiert ist, dass gelingende Kommunikation als normal gilt, obwohl eigentlich niemand niemanden wirklich versteht, dass Demenz als Krankheit definiert wird und in unserer Gesellschaft nur am Rande Platz hat und auch dort stört und nervt, ist nicht einfach so und unumstößlich, sondern anfecht-, diskutier- und änderbar.

Und Johannes? Johannes ist vielleicht die größte Lücke, der größte Möglichkeitsraum. Eine Projektionsfläche für das Publikum. Nun mach schon Johannes, mach doch irgendwas, will man vielleicht manchmal rufen. Oder: Lass dich nicht drauf ein, Johannes. Mach da nicht mit. Wenn man nicht aufbricht, kann man auch nicht ankommen und doch ist Johannes die ganze Zeit da. Er nimmt die ganze Zeit Anteil, ohne sich zu einem Teil des Ganzen zu machen. Held oder Antiheld? Wer weiß.

Last but not least muss auch die Musik dieses Abends noch Erwähnung finden. Sie bohrte sich in mich hinein, hat mich mich zu Tränen gerührt, warf, mich zurück in Zeiten in meinem Leben, in denen ich oft die Muße hatte am Lagerfeuer zu sitzen und jemandem beim Gitarrespielen zu lauschen (ja, ja, ein furchtbar überromantisiertes Bild), um dann gleichsam wie zuvor die Worte und die Bewegungen abzubrechen, zu zerfallen, Fragment zu bleiben oder zu werden, Freistellen und Lücken für meine eigenen Gedanken zu lassen.

Gespielt wurde an diesem Abend mit einer wunderbaren Ruhe und Gelassenheit und zugleich mit ganz viel ansteckender Energie. Vielen Dank an Martin Clausen und Kollegen für einen Theaterabend, der mir als Bilderrausch und Ohrwurm wohl noch lange im Kopf herumschwirren wird und mich seit Tagen mit einer ungeheuren Euphorie erfüllt, die jegliche Hoffnung überflüssig macht.
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