Der Himmel ohne Geigen

von André Mumot

Berlin, 8. März 2013. Wenn man verliebt ist, also so richtig, mit allem Drum und Dran, dann soll der Himmel ja voller Geigen hängen. Im Berliner Ensemble hängt da nur eine, und auch nur kurz. Dafür samt Bogen und in bequemer Greifhöhe, so dass Ferdinand von Walter, der angeblich so heiß und inniglich Verliebte, sie sich schnappen kann, als es schwierig wird mit seiner Luise. Erst kratzt er nur unwirsch schief auf ihr herum, dann immer wilder und wird schließlich ganz tobsüchtig dabei. Und dann zerschlägt er das hübsche Instrument mit reichlich Gekeuche auf dem Boden. Rockstars machen so was. Und kleine Kinder. Auch Schauspieler im Berliner Ensemble. Anschließend sagt Luise übrigens recht trocken: "Walter, Gott im Himmel, was soll das?" Man will es vielleicht nicht gleich zugeben, aber im Grunde steht sofort fest: Es ist der Satz des Abends.

Claus Peymann, der große alte Berliner Intendanten-Querulant, hat "Kabale und Liebe", Schillers funkelndsten fünfaktigen Gefühlsausbruch, inszeniert – in seinem Haus, wo Stücke, wie er gern betont, noch vollständig und so aufgeführt werden, wie sie geschrieben wurden, und wohin sich die Kritiker sowieso nur begeben, um alle Veranstaltungen unsiono zu verreißen. Man verfängt sich nicht gern in dieser Spirale mangelnder Originalität (beide Seiten nicht), aber dann geht doch wieder alles von vorne los.

Zirkusclowns

Dann sieht man nämlich, wie das komplette Ensemble an der nackten Bühnenwand steht und alle, die gerade nicht dran sind, bedeutungshubernd und bedeutungslos auf ihren Auftritt warten, während vorn in einem Kreidekreis die armen Bürger in schlichtem Klischee-Weiß unterwegs sind und die böswilligen Herren vom Hofe hauptsächlich Schwarz tragen und auch ein bisschen wie Zirkusclowns aussehen (was sich, wie wir seit Steinbrück wissen, für Politiker ja nicht gehört.) Der Präsident von Walter, den Joachim Nimtz mit professioneller Verve zur popanzigen Selbstgefälligkeitskarikatur veralbert, muss jedenfalls mit orangefarbener Perücke und auf Stelzen herumlaufen, durch die er anderthalb Köpfe größer ist als alle anderen und die prompt unter ihm wegknicken, als sich sein Sohn zum ersten Mal gegen ihn stellt.

kabale3 560 monika rittershaus uSabin Tambrea, Antonia Bill, Joachim Nimtz, Martin Seifert, Traute Hoess. © Monika Rittershaus

Diese oberflächlichen Illustrationen sind sinnfällig, sehr lau und trist und niemals ernst zu nehmen. Alles, was politisch oder emotional wahr und echt sein könnte, relevant im Gestern oder im Heute oder im Irgendwann, wird in stumpfer Regie- und Ausstattungsroutine zum Verschwinden gebracht. Ins von Achim Freyer entworfene Bühnenbild kommen dabei Stühle von der Decke getrudelt (ein bescheidener für die Bürgerlichen und ein ebenfalls um Stelzen verlängerter für den Hof) und für Lady Milford (Katharina Susewind) eine rosa Schaukel, auf der sie beim Schaukeln edel, hilfreich und gut und irgendwie erhaben und tragisch sein muss, aber nur sehr nett und fehl am Platze wirkt.

Die Liebe eine Suchanzeige

Es gibt Momente, wenn Martin Seifert als Miller den Präsidenten aus seiner bürgerlichen Stube schmeißt zum Beispiel, in denen man daran erinnert wird, wie viel Kraft in Schillers Szenen steckt, was für herausfordernd gefühlige, verletzlich ungestüme Figuren er entworfen hat. Bei Peymann dürfen sie meistens jedoch nur profan sein, schnoddrig oder forciert aufmüpfig. Wenn Antonia Bills Luise zum Beispiel den berühmten Satz von den Schranken des Unterschieds, die einstürzen müssten, aufsagt, tritt sie an die Rampe wie auf die Kanzel und hebt die Stimme. Aber nicht nur diese kurz und knapp abgehaltene soziale Anklage verpufft, weil sie die Inszenierung zu keinerlei Assoziationen, zu keinen weiterführenden Gedanken, zu keinen realen Bedenken verleitet.

Vor allem die Liebe, um die sich hier alles drehen sollte, ist unter einem solchen Himmel ohne Geigen nirgends aufzuspüren. Unendlich weit weg ist sie, und kein Charme, kein Leuchten in den Augen, keine Berührungen finden statt, die sie zurückholen könnten. Sabin Tambreas Ferdinand ist kaltschnäuzig und unbeherrscht, ein Geigenzertrümmerer, der gern mit vorgerecktem Unterkiefer spricht, als wolle er sich vor allem als harter Hund qualifizieren.

Paartherapeutenalptraum

Antonia Bill wiederum darf (offenbar aus Scheu, sie könnte zu verzagt und weibchenhaft erscheinen) ebenfalls nur wenig zarte Töne anschlagen. Mal erinnert sie in ihrem verhuschten Beleidigtsein frappierend an Piratin Marina Weisband, mal steigert sie sich in exzessives Ganzkörperschluchzen und zunehmend manieriertes Verzweiflungsgelächter hinein. Und wenn Luise und Ferdinand zusammentreffen, wird es ganz schlimm. In diesem Paartherapeutenalptraum einer Schillerverödung sind die beiden Liebenden besserwisserisch, pampig und unwirsch zueinander, gehen sich also gegenseitig und irgendwann auch dem Publikum auf die Nerven.

Es gibt Beziehungen, das wissen wir alle, für die es sich auch in Krisen zu kämpfen lohnt. Diese gehört ganz sicher nicht dazu. Ein Dilemma, das nicht nur sämtliche Kabalen vollständig sinnlos erscheinen lässt, sondern auch den ganzen Abend. Man ächzt sich trotzdem voran, trinkt die Giftlimonade, die Spirale dreht sich unbarmherzig weiter, und auf die Frage "Gott im Himmel, was soll das?" wird schon wieder keine Antwort gegeben.

 

Kabale und Liebe 
von Friedrich Schiller 
Regie: Claus Peymann, Bühne und Lichtkonzept: Achim Freyer, Kostüme: Achim Freyer, Wicke Naujoks, Dramaturgie: Jutta Ferbers, Herrmann Beil.
Mit: Joachim Nimtz, Sabin Tambrea, Thomas Wittmann, Katharina Susewind, Norbert Stöß, Martin Seifert, Traute Hoess, Antonia Bill, Laura Mitzkus, Gerd Kunath. 
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause 

www.berliner-ensemble.de

 

Das Team Claus Peymann und Achim Freyer arbeitete am Berliner Ensemble zuletzt für Frühlings Erwachen (Premiere im Dezemeber 2008) zusammen.

 

Kritikenrundschau

Am Premierenabend besprach Volker Trauth die Inszenierung auf Deutschlandradio (8.3.2013): Peymann streiche die "verlogene Versöhnung" des Schlusses zwischen Präsident und Ferdinand. Außerdem übertrage er die Regieanweisungen Schillers in ein modernes Formgefühl. Peymann suche weder nach "sozialem Gestus" noch nach "historischer Konkretheit", er suche nach "einem Spielgestus". Er löse das Stück in einzelne Kampfszenen auf, mit je eigenen Haltungen gingen die Schauspieler in den Ring. In den besten Szenen brenne da die Luft. Es gebe starke Bildmetaphern, wenn der Präsident auf Stelzen ins Wanken gerate, "ein Koloss auf tönernen Füßen", oder wenn sich ein Ring aus Autoscheinwerfern schräg stelle, sei eine Welt aus den Fugen. Ferdinand und Luise spielten, wie schwer es sei eine gemeinsame Sprache zu finden. Antonia Bill habe "große Momente" in Luises Ausbrüchen, Sabin Tambrea fehle es an "Spannkraft" in Körper und Sprache. Unter den Schauspielern gebe es ein "großes Leistungsgefälle".

Eberhard Spreng sagt in der Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (9.3.2013): "Es ist kurios: Hier will ein Theater erklärtermaßen die Stücke der Klassiker möglichst werktreu auf die Bühne bringen und kann doch trotz massiver Striche nicht einmal den Plot halbwegs plausibel vom Anfang bis zum Ende durch erzählen." Anders als bei Schillers "Jungfrau von Orleans" vor sechs Jahren mache Peymann dieses Mal "weder eine historische Distanz sichtbar, bei der man über das Verhalten der Figuren wenigstens erstaunen könnte, noch skizziert er Verbindungslinien, in denen die bürgerliche Tragödie aus heutiger Sicht wieder aufleuchten könnte. Da ist buchstäblich nichts zu sehen außer aufgedrehten Witzfiguren rings um hohle Floskeln deklamierende Protagonisten."

Wieder einmal "ungeheuer vorhersehbar" sei diese Peymann-Inszenierung geraten, sagt Ute Büsing im Inforadio des rbb (9.3.2013). "Es beginnt mit der bekannten Schwarzweiß-Malerei. Wie aufgepumpte Comicfiguren im weißen Zwirn pellen sich Papa und Mamma Miller aus dem schwarzen Bühnenschlund." Im Ganzen lasse Peymann in der "für seine Verhältnisse recht radikalen Strichfassung des Schillerschen Fünfakters" kein "Inszenierungsinteresse erkennen".

"Peymann versinnbildlicht das Drama ins putzig Clowneske", schreibt Andreas Schäfer im Tagesspiegel (11.3.2013). "In dieser märchenhaft zweigeteilten Welt der bunten Farben und Formen müssen Hofschranzen tuntenhaft stöckeln, während Sabin Tambrea als guter Ferdinand jugendwütig ausschreitet und kampfeslustig die Zähne bleckt. Norbert Stöß trägt als intriganter Haussekretär Wurm schwarze Strumpfmaske und erinnert mit seinen Rockschößen fatal an Willy aus der Biene Maja. Und die puffige Pelzstola, die Thomas Wittmanns Hofmarschall von Kalb spazieren führt, staubt bei jedem Trippelschritt so, dass die ganze Szenerie immer wieder in einer weißen Puderwolke verschwindet."

Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (11.3.2013) hätte "die Premiere von Peymann zur Abwechslung lieber einmal nicht verrissen". Jedoch: Wie "schnell hat einen der Missmut wieder im Würgegriff!" Schiller-Zitate würden mit den "erstbesten dazugehörigen Emotionalitäten und Charakteristika" vorgetragen: "Zitterpathos, Wutstampfen, Unterwürfigkeitsknickser, Bösigkeitsgrinsen, Leidenschaftsgedampfe, Autoritätsgeknatter und Verzweiflungsgeknietsche." Keine der Regungen "entsteht aus einer Spielsituation, nichts kommt aus der flüchtigen Wahrheit des Theateraugenblicks, alles wird auf Ansage veranstaltet. Das ist spielfreies, geheimnisloses Theatrigkeitstheater: Aufteilung und Illustration von literarischem Text."

Claus Peymann inszeniere Schiller "wie eine quälende Übung für den Deutschunterricht", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (11.3.2013). "Alles wird typenselig in didaktisch bemühter Überdeutlichkeit ausgestellt. Die Figuren sind bis zur Karikatur versimpelt, als würde der Regisseur seinem Publikum nicht recht zutrauen, sich ohne solche Grobzeichnung für Schillers Geschichte der Liebe in Zeiten des Duodez-Absolutismus zu interessieren." Gegen das Schiller-Pathos würden "Zirkuseffekte" gesetzt. "Allein, je krampfhafter Peymann komisch sein will, desto dröger wird sein Schiller-Zirkus."

Auf Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.3.2013) wirken Peymanns "bedauernswerte Schauspieler" so, "als wüssten sie überhaupt nicht, was sie hier tun oder lassen sollen". Die Inszenierung erscheint ihr "wie eine uninspirierte Laienaufführung, in der jeder froh ist, wenn er seine Sätze halbwegs und ohne zu stottern über die Rampe kriegt". Die Kritikerin wähnt sich gar momentweise im Kasperletheater, dabei befinde man sich doch "in einem Theater, das von sich in Anspruch nimmt, in der Hauptstadt mit an der Spitze zu stehen ..." Es sei dies ein "völlig flacher" Abend, "dem es an jeder künstlerischen Vision und handwerklichen Kraft mangelt".

Kommentare  
Kabale, Berlin: fragt einer: Fritsch, was soll das?
Bei der "Spanischen Fliege" von Fritsch fragt auch keiner "Gott im Himmel, was soll das?" und in zehn Jahren werden über Fritsch solche Kritiken geschrieben werden, wie obige über Peyman. So hat jede Zeit ihre eigenen Freuden - mit und ohne Sinn.
Kabale, Berlin: ein Rat
Witzige und im Kern punktgenaue Kritik!
Mein Tipp: sich erst an Nimtz, Seifert und Schiller erfreuen, denn für die starken Schauspieler und den Text lassen Peymann und Freyer viel Raum... und mit einem guten Gefühl in der Pause gehen.
Kabale, Berlin: tief resignatv
Claus Peymann findet aus diesem Bannkreis des selbstgesteckten Anspruchs und der tatsächlichen künstlerisch erreichten Ästhetik nicht mehr heraus. Was soll uns das ist natürlich der Knackpunkt der Inszenierung. Ich habe ja eine der vielen Voraufführungen zu „Kabale und Liebe“ gesehen. Das hat durchaus seinen Reiz, gibt doch der Hausherr jeweils zu Beginn eine seiner unnachahmlichen Erklärungen ab. Man kann sich sozusagen als Testperson fühlen und wird darauf aufmerksam gemacht, dass man ruhig lachen kann, wenn es einem danach ist, die Komik wäre da bei Schiller schon drin, aber eben bitte auch das Mitfühlen nicht ganz außer Acht lassen. Es geht also um die große Liebe und das Mitgefühl. Na um was geht es denn sonst seit über 2.000 Jahren am Theater. Große Gesten, Große Gefühle, alles ganz Groß. So hält es Claus Peymann ja auch seit Jahren. Allerdings schließt sich so langsam der Kreis, ohne dass sich Gewolltes und Gekonntes darin annähernd treffen würden. Claus Peymann hat letztens erst selbst vom Scheitern gesprochen. Diese Inszenierung ist in meinen Augen tief resignativ. Das weinende und das lachende Auge teffen sich bei Peymann im Bannkreis Schillers Trauerspiel der Intrige. Zu Lachen hat hier aber keiner mehr, auch wenn der höfische Popanz Kalb als Clown auftritt und Mottenpulver unter den Achseln zu haben scheint. Der Präsident als Zirkusartist auf Stelzen, die ihm im Angesicht der Liebe und des ungestümen Drangs seines Ferdinands wegzuknicken scheinen. Bei Peymann wird der Hof zur Manege, und Politiker zu finsteren Zauberkünstlern der Macht und Intrige. Norbert Stöß hat fast mephistophlische Ausmaße. Allerdings versagen seine Verführungskünste bei Luisen, die hier fast zum jüngfräulichen Gretchen mutiert. Und mit den Ferdinands ist das auch so eine Sache. Wenn sie nicht die Wände hochgehen (DT, Kimmig) dann zerschlagen sie Geigen. Mit einem Schlagzeug wäre noch mehr Furor zu erzeugen gewesen. Allerdings ist Miller nun mal nicht bei der Steve Miller Band angestellt und Ferdinand und Luise nicht Children of the Future. Der Musikus, halten zu Gnaden, übt lieber Bückling und überlässt seiner Tochter mit den großen Augen den Ring, um für das Gute zu kämpfen. Peymann inszeniert seine Frauen auch ganz groß. Sie heben sich schon in ihren Kostümen von der übrigen Personage ab und beherrschen die großen Gesten und die Gefühle nach Belieben. Katharina Susewinds Lady Milford in unschuldigem zartrosa und Luise ganz in weiß. Abstufungen in den Farben verdeutlichen klar die moralische Position oder hierarchische Stufe auf der sie stehen. Die Hoffnung trägt helle Farben und die Söhne marschieren auch heute wieder ins Ausland. Und es ist die gute bürgerliche Moral, die das feststellt, und um die es Peymann auch geht. Wenn schon nicht der Sieg der Liebe, dann doch der des Bildungsbürgertums. Wenn schon nicht Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, dann wenigstens Mitgefühl. Von Dantons Tod zum Limonadengift. Von der gescheiterten Revolution zum bürgerlichen Trauerspiel. Der aufgeklärte Schillerianer hebt den Zeigefinger und winkt uns noch einmal damit zu. Das sich Schillers Ideal nicht erfüllt hat, weiß aber auch er und so fällt die Schmacht- und Reuearie des Präsidenten aus. Das hätte ein großes kluges, wenn auch resignatives Alterswerk sein können. Das Vermächtnis des Claus Peymann sozusagen, obwohl er uns den Lear noch schuldig ist. Da er aber weiter machen will, bleibt es nur eine unter vielen verjuxten Alterswerken am Theatermuseum BE.
Kabale und Liebe, Berlin: falsche Hose
Die Kritik von André Mumot und Stefan erinnert mich an zwei Väter, die ihrem Sohn sagen: "Du hast deine Hose schon wieder falsch angezogen. Immer das gleiche mit dir." Und der Satz "Immer das gleiche mit dir" wird in Endlosschleife wiederholt.
Kabale und Liebe, Berlin: mehr auf den Vater hören
@ Die Brust
Wenn der Junge aber immer behauptet, die Hose stünde ihm besonders gut und dabei noch einen raushängen lässt, sollte man ihm das schon hin und wieder mal sagen dürfen. Aber er hört ja doch nicht der Claus. Hat halt seinen eigenen Kopf der Bursche.
Kabale und Liebe, Berlin: nicht nach dem Mainstream
@Stefan/Posting 5.
Ja, Gott sei Dank, hat er immer wieder seinen eigenen Kopf "der Claus", "der Bursche". Und lässt sich nicht verbiegen und verbeulen nach Mainstream-Strickmuster. Auf das "Kritik-Leckerli" für das brav apportierende Hündchen verzichtet er offensichlich gerne. (M.Hartmann in Wien könnte da sich ein wenig abschauen.)
Kabale und Liebe, Berlin: Schillerlocke
Himmel voller Stühle

Einmal waschen und legen - Claus Peymann dreht und föhnt „Kabale und Liebe“ zur Schillerlocke auf der Bühne des Berliner Ensemble

Kommt Peymann im Pulli und sagt Hallo. Sagt Hallo und bekennt seine Aufregung. Patriarch Peymann sagt alte Theatersätze auf: „Wenn Sie weinen müssen, tun Sie es leise, sollten Sie lachen wollen, bitte laut.“ - Eine Variation von: „Wenn es Ihnen gefallen hat, dann empfehlen Sie uns weiter und wenn nicht, schicken Sie Ihre Feinde“.

Er fragt: „Finden wir das Feuer von Schiller und seine Stille?“
Er erzählt von Rotarmisten, die mit dem Ruf „Für Luise“ „ins Trommelfeuer der weißen Garden rannten“. Peymann macht eine kleine Erzählung daraus. Wie er einmal im Moskau gewesen und den führenden Germanisten da getroffen und wie der sofort von Schiller angefangen und von der Revolution und der immensen Bedeutung von „Kabale und Liebe“ für die sowjetisch-russischen Revolutionäre. Und alle Birken rauschen zum Don Kosakenchor.

Peymann tuscht das so hin, eher chinesisch als japanisch. Die Leute sind zu einer öffentlichen Probe gekommen, es kann alles passieren, einschließlich einer Unterbrechung der Aufführung. Man darf besonders erwartungsvoll sein. Durchscheinende Arbeitsprozesse und private Momente sind möglich heute Abend auf der Bühne des Berliner Ensemble.

Ein Zeitfenster geht auf
und da ist der Miller, geduckt und listig, allezeit mit einer Fürstenfaust im Nacken und der eigenen laschen Patschhand in der Tasche. Ein Kujonierter, dem das Leben Sorgen macht. - Wen Gott bestrafen will, dem gibt er eine schöne Tochter. Der stellen dann die jungen Kennedys nach und winken mit ihren Prädikaten.

Friedrich Schiller hatte mehr als ein quentin Tarantino in sich, Sturm und Drang war Rock und Roll und zwar im Quadrat von AC/DC. Wie das Bürgerliche kreißt im Saal der toten Seelen, um die Mäuse ihrer feudalen Anverwandlungen zu gebären. „Kabale und Liebe“ erzählt von der Liebe einer Musikertochter namens Luise Miller zu dem Präsidentensohn Ferdinand von Walter. Dargestellt wird sie als unbefleckte Empfänglichkeit. Sympathie auf beiden Seiten. Doch kümmet so eine Luise an sich nur als erotische Gelegenheit im Fahrplan des Adels vor. Das versucht der alte Walter seinem auf Luise heißen Sporn klarzumachen. Klarzumachen versucht er ihm die Staatsräson.

So viel zur Handlung. Kunstpfeifer Miller spielt Martin Seifert im Ansatz feist als guten Kerl. In seinem Haus beansprucht er volle Souveränität. Seiner kläglichen Regierung als außerparlamentarischen Opposition dient die Millerin. Sie hat was Verschlagenes und ruchlos Nutznießerisches im Spiel der Traute Hoess. Sie möchte kuppeln und drehen an ihren Obliegenheiten. Die reine Seele ihrer Tochter ist ihr nicht geheuer, die romantische Liebe (als nachahmende Errungenschaft des aufstrebenden Bürgertums) muss wohl Wahnsinn sein.

Man steht also vor den Schranken der Stände, von Gleichheit weit entfernt. Ferdinand will darüber wie über eine Hürde so sportlich – in der Gestalt von Sabin Tambrea. Er nimmt sich das als feudale Freiheit heraus, das muss man richtig verstehen. Jede Tändelei sähe ihn genauso durchgreifend und aufgelegt.

Für Luise (Antonia Bill) sieht das anders aus. Sie könnte mit Ferdinand über ihre Verhältnisse sich erheben. Sie könnte regelwidrig aufsteigen – im Schiller´schen Subtext mit der ganzen Klasse sozusagen. Man hält sich fest an einem Zipfel vom Mantel der Geschichte und saust wie mit dem Lift hinauf. Von ihren Berechnungen will Luise aber nichts wissen.

Berechnend dürfen nur die Bösen sein, allen voran – als Meister aller Klassen – Präsident von Walter, den Joachim Nimtz auf kurzen Stelzen und mit karottenroter Perücke spielt. - So dass seine Erscheinung schon überragend wirkt. Vor ihm zittert ein ganzes Fürstentum, er kennt nur Erniedrigung. Sein Niedrigster ist Sekretär Wurm. Norbert Stöß spielt ihn wie einen mutierten Salamander im Damenstrumpf. Wurm bebt vor Ergebenheit und sinistrer Schläue. Er scheint sich von üblem Schleim zu ernähren, den der Präsident für ihn extra in Vorrat hält. Den kriegt sonst keiner, er müsste anderenfalls auch tot umfallen. Wurm legt Walter einen Plan vor, nach dem sich vorgehen lässt gegen alle zum Vorteil Weniger.

Gut, so sollte man das schon 1784 in Frankfurt am Main verstehen, Schiller wollte die verworfene Welt gerade rücken auf dem Theater. Er war im falschen Bett geboren und fühlte sich von den Standesschranken düpiert. - Ein mit Schreibverbot belegter Flüchtling, der keinem Fürsten schmeckte. Indes schauderte ihn der aus feudaler Finanznot notwendig gewordene Verkauf von deutschstämmigen Landeskindern nach England. Wo sie als Soldaten eingeschifft wurden, um in Amerika gegen Washington ins Feld zu ziehen.

In „Kabale und Liebe“ wirft Lady Milford (Katharina Susewind) aus Mitleid mit den Verkauften ihr schönes Leben als Mätresse weg. Sie hat „die Kraft zu entsagen“, schließlich auch dem feschen Ferdinand, der in der höfischen Ordnung und nach dem Willen des Vaters vorgesehen ist als Nachfolger des Fürsten bei dessen Favoritin, die sie keinesfalls ewig bleiben kann.

Da war schon viel Spaß im Spiel von Sanssouci oder Schloss Solitude, bloß nicht bei den Millers, die man bald festsetzt, um die liebende Tochter gehörig unter Druck zu setzen. Antonia Bill bricht immer wieder höchst anmutig zusammen als Luise, die kaum weiß, wo ihr der Kopf steht – im Zentrum höfischer Kabalen. In der Peymann-Inszenierung sieht man den ganzen Schiller, er steht förmlich auf … unter einem Strahlenkranz und einem Himmel voller Stühle. Man geht zufrieden aus der Sache wegen des großen Theaters und der Einsicht, dass alle mit der Zeit gehen müssen.
Kabale und Liebe, Berlin: alte Meister
Schade,
es gibt keine Altersweisheit mehr. Peymann, Grass, Schmidt, die alten Männer... trostlose Wiederholungen. Sie haben immer Recht und es bleibe dabei. So sangen schon alte Genossen.
Vergessen wir das. ich habe genug davon. Nichts bewegt mich mehr ins BE. Nicht immer, aber manchmal kann man den Kritikern nur zustimmen und den alten Peymannverehrern zurufen, ihr seid auch nicht anders, intollerant gegenüber den neuen Zeiten. Schwärzer kann auch Seehofer im tiefsten Bayern nicht sein. Das ist einfach nur traurig. Eine echt linke und rechte Koalition!
Fazit, ich muss zum Glück nicht ins BE. Nur nocheinmal den Arturo. Es gibt viel interessantes Theater in dieser Stadt.
Gehabt euch wohl, ihr alten Geister, der Sturm rast über euch und lässt euch zurück.
Ich finde es nur schade, da ich Peymanns Bernhardinszinierunge geliebt habe und immer noch ein wenig Sympatie für den alten Meister hege.
Kabale und Liebe, Berlin: anderes Rockkonzert?
@ 7
Aha, also ein Tusch für Herrn Peymann. Aber auf einer Glatze können auch Sie keine Schillerlocken drehen, Herr Tuschik. Oder waren Sie etwa auf einem anderen Rockkonzert?
Kabale und Liebe, Berlin: schon weit schlechteres gesehen
Ich habe schon weit schlechtere Klassiker-Inszenierungen an deutschsprachigen Bühnen gesehen als "Kabale und Liebe". Natürlich gibt's auch hier Einiges auszusetzen, aber ich finde es zu einfach, bei jeder Paymann-Inszenierung gleich einmal die Bashing-Keule auszupacken. Mehr zu meinen Gedanken bei www.capakaum.com
Kabale und Liebe, Berlin: wertfrei ist nicht
@ Capa-kaum: Wie kann man etwas oder jemanden "wertfrei" beurteilen? Nicht einmal die Wissenschaft ist wertfrei. Auch der Journalismus nicht. Und sie dürfen es auch nicht sein!

Und noch etwas, "Kabale und Liebe" an der Schaubühne hat Falk Richter inszeniert, im Jahre 2008.
Kabale und Liebe, Berlin: Geschmackssache
@ Inga und Capa-kaum
Dachte ich eigentlich auch. Und die Inszenierungen von Falk Richter waren in meiner Erinnerung nie wirklich schlecht. Allerdings ist mir auch nur noch Judith Rosmair als Lady Milford präsent. Aber das ist eben Geschmackssache und wie jede Erinnerung nie ganz wertfrei.
Kabale und Liebe, Berlin: abgeguckt?
Ach das ist ja interessant. Stefan Stern zertrümmert hier tatsächlich ein ganzes Cello. Hat sich etwa Claus Peymann die Rockerattitüde in der Schaubühne abgeguckt?

http://www.youtube.com/watch?v=OozyPDfkiyE
Kabale, Berlin: Textkenntnis ist alles
Liebe diskutierende Kinderschar: Das mit dem Zertrümmern von Saiteninstrumenten haben sie sich ALLE von einem anderen abgeguckt: Vom schlimmen Schiller.

Im dritten Akt, vierte Szene von Kabale und Liebe heisst es:
"FERDINAND hat in der Zerstreuung und Wut eine Violine ergriffen ... - jetzt zerschmettert er das Instrument auf dem Boden und bricht in ein lautes Gelächter aus.
LUISE: Walter! Gott im Himmel! Was soll das?"

- Jetzt aber nicht eine ebenso langweilige Debatte über Werktreue anfangen, bitte...
Kabale und Liebe, Berlin: Sturm und Drang
@ schiller sagt
Doch, könnte man. Es ist schon ein kleiner Unterschied vom auf dem Boden zerschmettern zum kurz und klein schlagen und sich dann noch selbst auf die Reste werfen, um sich darin zu suhlen. Hier ist schon die Frage Luisens durchaus berechtigt. Und wenn man einem Geladenen das Instrumente direkt vor die Nase hängt, muss er ja auch zwangsweise danach greifen. Das ist wie mit der Pistole. Schon Schiller wollte damit wohl einen ganz bestimmten Effekt erzielen, und kreierte gleichsam eine neue rebellische Art und Weise sich auszudrücken ohne abzudrücken. Man nannte das dann auch sehr schnell „Sturm und Drang“ oder Genieperiode. Und so manch verworrener Musikus oder selbsternanntes Bühnengenie verspürte seit der letzten Sturm-und-Drang-Phase der 1960er Jahre hin und wieder noch dieses zerstörerische Verlangen. Übrigens ist das Bühnenstück von Friedrich Maximilian Klinger, nachdem sich diese Epoche benannte, zur Hälfte selbst ein stark gefühlsverwirrtes Shakespeareplagiat. Nur Textkenntnis ist dann eben doch nicht immer alles. Aber wahrscheinlich haben Sie recht und Claus Peymann hat mit seinem großen Bühnenpathos den Werktreue-Preis verdient gewonnen. Herzlichen Glückwunsch.
Kabale und Liebe, Berlin: Werktreue
Die Szenenanweisung in dem von aberwitzigen Anweisungen strukturierten Stück lautet vollständig: „F. (hat in der Zerstreuung und Wuth eine Violine ergriffen und auf derselben zu spielen versucht – jetzt zerreißt er die Saiten, zerschmettert das Instrument auf dem Boden und bricht in ein lautes Gelächter aus.) Er hat „zu spielen versucht“ - im Haus des Geigers, vermutlich auf einem Instrument (neben der Flöte), auf dem er von Miller Unterricht erhielt, einen Unterricht, der zur ersten Begegnung mit Luise führte. Wie gut spielt Ferdinand? Spielt er schlecht und zerreißt daraufhin die Saiten, kann der schiefe Eindruck entstehen, er zerrisse sie, weil er zu wenig gelernt hat, um gut zu spielen; spielt er gut, zerreißt er sie, weil das Spiel die Erinnerung an eben die Zeit der ersten Begegnung heraufruft, an eine trügerische Harmonie, die nun zerstört ist, welche Zerstörung zur Zertrümmerung des Instruments führt, gefolgt von einem - lauten - Gelächter. Wie entscheiden sich Schauspieler und Regisseur (vorausgesetzt, die Anweisung wird nicht gestrichen und das Theater verfügt über ausreichende Etats und eine leistungsfähige Requisite)? „Zu spielen versucht“ bedeutet vermutlich nicht, dass er sich an einem Instrument vergreift, welches er nicht beherrscht; vielmehr scheint es, als griffe er gedankenlos, „zerstreut“, zu dem Versuch, sich durch das Violinspiel abzulenken - was ein Mensch, der ein Instrument nicht beherrscht, nicht tun würde: folglich wäre es weitaus angebrachter, man würde gewahr, dass er es auf der Violine (unter des Musikus’ Anleitung) einigermaßen weit gebracht hat. Der Darsteller des Ferdinand benötigt also, unter den genannten Voraussetzungen, gewisse diesbezügliche Fähigkeiten. Und was die Werktreue anlangt: welche von Glenn Goulds Aufnahmen beispielsweise der Goldberg-Variationen sind die „werktreuen“? Die frühen? Die späten?
Kabale und Liebe, Berlin: Darsteller nicht ernst genommen
der darsteller des ferdinand spielt sehr gut geige: "Musikalische Ausbildung in Violine, Viola, Klavier, Dirigat. Sechs erste Preise bei JUGEND MUSIZIERT auf Regional- und Landesebene" (s. agentur reed)
also? peymann hat es veschenkt. er nimmt die darsteller nicht ernst und sie ihn nicht, das ist das schlimmste.
Kabale und Liebe, Berlin: Aufwertung der Zerstörung
Gerade erfahre ich, das Sabin Tambrea (der Darsteller des Ferdinand im ’Berliner Ensemble’) ein ausgezeichneter Violinist sei, in der fraglichen Szene aber lediglich auf dem Instrument ein wenig herumkratzen würde, so dass just das Gegenteil insinuiert wird. Ist es nicht (im Sinne Schillers) ertragreicher, ein Instrument zu zerschlagen, dem ein Könner zuvor Töne entlockt hat, die es bedauerlich erscheinen lassen, dass es, noch dazu von dem Könner selbst, zerstört wird?
Kabale und Liebe, Berlin: missglückte Anweisung
Die Anweisung ist dem jungen Schiller schlicht missglückt und (unfreiwillig) sehr ulkig. Ein Tor, wer's werktreu nachzuspielen versucht...
Kabale und Liebe, Berlin: unfruchtbare Haltung
Zu Nr. 19: Was heißt denn ’werktreu’ in diesem Falle? Sie sehen doch, wie verschieden schon die Lesarten dieser einen Regieanweisung ausfallen können! Kommentator Nr. 17 kann Recht haben, wenn er schreibt "Peymann hat es verschenkt" - muß aber nicht. Ihre Haltung erscheint mir dagegen gänzlich unfruchtbar: Wieso "missglückt"? Inwiefern "(unfreiwillig) sehr ulkig"? Fangen Sie so an, gibt es im gesamten Stück kaum eine szenische Anweisung, die nicht unter diese Verdikte fiele!
Kabale und Liebe, Berlin: Selbstkarikatur
Da gibt es keine Unterschiede in der Lesart. Nicht am BE. Das Problem ist, dass man sich hier seit geraumer Zeit fast sklavisch an jede Regieanweisung des Autors hält. Diese antiquierte Marotte wirkt irgendwann zwangsweise unfreiwillig komisch. Peymann karikiert sich hier aber praktisch selbst. Er meint es auch noch so. Ist das jetzt Trotz, Ironie oder schon beginnender Altersstarrsinn? Günter Krämer bei den „Präsidentinnen“ und Tiedemann bei „Die schönen Tage von Aranjuez“ gehen nach dem gleichen Muster vor. Bei Tiedemann hätte man die Augen schließen können und wäre dennoch in jeder Sekunde sicher, dass sich die Schauspieler genau so verhalten, wie in Handkes Anweisungen. In diesem ziemlich handlungsarmen Stück geht es natürlich schon hauptsächlich um den Text. Es ist ja auch mehr eine Plauderei, ein Spiel mit Worten. Aber Handke ist sich dabei durchaus bewusst, dass man das inhaltlich assoziativ ganz verschieden interpretieren kann. Und wie man im Programmbuch lesen kann, hat er da auch kein Problem damit, dass dem Regisseur auch zu überlassen. Tiedemann macht aber im Gegensatz zu Bondy in Wien nichts daraus. Und so wird es dann auch nicht mehr als eine szenische Lesung. Schön artikuliert, mit allen Pausen, Blätterrauschen und Gehupe. Aber wie gesagt, da kann ich auch die Augen schließen oder selbst zu Hause lesen. Zwei so tolle Schauspieler so zu unterfordern, ist schon verschwendeter Luxus. Und dafür hat Tiedemann so lange gebraucht, dass die paar Gesten so zielgenau sitzen. Schöner Nebeneffekt ist, dass dabei der reine Text gut zur Geltung kommt, über dessen Güte man aber durchaus streiten kann. Ein sehr poetisches und an Metaphern reiches Langdicht in Prosa über die Vergänglichkeit, verpasste Chancen und die unterschiedliche Wahrnehmung der Liebe bei Mann und Frau. Aber das allein ist noch kein Theater. Soviel zu Werktreue und Regieanweisungen.
Kabale und Liebe, Berlin: quälendes Einfühlungstheater
ich meine, die ressourcen der darsteller werden überhaupt nicht beachtet - körperlich, geistig und eben, was sie mitbringen. das sieht man deutlich. alles was von ihnen verlangt wird ist dieses quälende einfühlungstheater.
Kabale und Liebe, Berlin: Die Kraft der Diskretion
Zu Nr. 22: Ich nenne es "Gefühlserzwingungstheater". Zu Nr. 21: Ich fühle, um beim Fühlen zu bleiben, eine tiefe Skepsis gegenüber Bemerkungen wie "Aber das allein ist noch kein Theater". Botho Strauß überschrieb seine Rezension zu Peter Steins Inszenierung von KABALE UND LIEBE in Bremen 1967 (Theater heute 12/1967) mit "Die Kraft der Diskretion". Kann es sein, dass wir, nahezu ein halbes Jahrhundert später, nicht mehr wissen, worin diese Kraft besteht?
Kabale und Liebe, Berlin: das rechte Maß
zu 23:
Lieber Herr Steckel, die Kraft der Diskretion? Wir reden hier aber schon noch von Claus Peymann, oder? Auch wenn ich kurz zu Peter Handke abgeschweift bin. Auf die Inszenierung seines Textes würde das auf jeden Fall zutreffen. Ich glaube auch zu verstehen was Botho Strauß damit meint, auch wenn ich seine Abhandlung nicht gelesen habe. Es ist die Kunst Maß halten zu können, die den Unterschied macht. Nicht dick auszupinseln. Es ist eben mehr ein Andeuten bei Stein, kein Ausdeuten. Es kommt eben immer auf das rechte Maß an. Handke z.B. legt mit seinem Dialog die Skizze zweier Figuren hin und der Regisseur kann diese ergänzen, wenn er will. Ein bisschen nur, wie Handke meint. Als Peter Stein 1967 "Kabale und Liebe" inszenierte, erblickte ich gerade das Licht der Welt und verband noch nicht allzu viel mit der Kraft der Diskretion. Also blähte ich meine kleinen Lungen und schrie meinen Unmut über die Welt hinaus, auf das man mich schnellstens wieder an die Mutterbrust nähme. Während Botho Strauß sich zu geistigen Höhenflügen über das Theater aufschwang, rührte ich die Trommel und rasselte meinen Erzeugern zum Trotz, meinem unstillbaren Bewegungsdrang folgend, meiner Umwelt die Nerven zusammen. Dem einen bleibt das ein ganzes Leben, andere entdecken die Kraft der Diskretion. Zu welchen Claus Peymann gehört, überlasse ich ihrer diskreten Wahrnehmung. Botho Strauß ist mittlerweile so diskret, dass man ihn kaum noch wahrnimmt. Seinen Unmut an der Welt steckt er heute in kleine diskrete Bücher, in denen er sich über die weltweite Mitteilungsinkontinenz und die Zunahme an Disgrazie und den Totalausfall an hetärischer Intelligenz bei Frauen beklagt. Man kann mit der Welt von heute über Kreuz liegen, man kann über ihr stehen, laute oder leise Töne anschlagen. Man kann Schiller und Peter Stein zu Füßen liegen, kann es aber auch lassen. Bei all dem kommt es eben immer nur darauf an, das rechte Maß zu finden.
Kabale und Liebe, Berlin: Nam June Paik
@16:
Was für eine wunderbare Szenenanweisung.
Ich muss an Nam June Paiks Performance Broken Violin denken, der 1962 im Whitney Museum eben das von Schiller Beschriebene tat. (...)
Kabale und Liebe, Berlin: dann bitte doch
@ Stefan: Hetärische Intelligenz? Ja, nicht wahr? Davon träumen alte Männer wie Botho Strauß: Von weiblichen Prostituierten, die wunderbar gebildet sind, aber nach dem fingierten platonischen Dialog dann bitte doch mit ihnen ins Bett gehen sollen. Nein danke, ich möchte nicht das Objekt dieser Alte-Männer-Fantasien sein.
Kabale und Liebe, Berlin: Vorschlag
Nam June Paik wäre demmnach die Kraft der Diskretion. Es geht auch so. Kleiner Inszenierungsvorschlag:
http://www.youtube.com/watch?v=dQVKQEJxx6o
Kabale und Liebe, Berlin: unmenschliche Musik
@ Stefan: Wer eine Geige, welche mich, ebenso wie das Cello - und das noch viel mehr -, von der Form her an einen Frauenkörper erinnert, so kaputt schlagen kann, der produziert wahrlich unmenschliche Musik. Es tut in der Seele weh. Wer ein Musikinstrument so zerstören kann, zerstört auch die Kultur als Basis von Gesellschaft. Das ruft unweigerlich den Drang zur Schöpfung, das Bemühen um den Erhalt, die Wertschätzung hervor. So wie das maßlose Beharren auf dem Immer-nur-Guten umgekehrt wohl bei manch einem den Drang zur Zerstörung (seines adlig-feudalen Lebensstils) hervorruft. Kommt auf den Menschen drauf an. Und der Typ im Video sieht fast aus wie Matthias István Köhler.
Kabale und Liebe, Berlin: am Instrument gespart
@Guttenberg: Bei Schiller wird mitnichten eine Geige zerlegt. Naheliegender wäre da schon ein Cello. Was man ja in der Schaubühne bewundern konnte. Die allseits bekannte Sparwut der BE-Leitung hat hier wohl das kleine Instrument durchgesetzt. Ist ja billiger im Einkauf.
Kabale und Liebe, Berlin: Klang der trügerischen Nacht
Ferdinand zerstört die Violine, nachdem er auf ihr zu spielen versucht hat, weil er die trügerische Welt, die ihr Klang evoziert, zu zerstören wünscht. Das Instrument, welches in "Solo für Violine" von Nam June Paik zunächst in die Höhe gehalten und nach einiger Zeit auf einem Tisch zerschlagen wird, repräsentiert diesen Zusammenhang, mit der entscheidenden Differenz, dass es, nach Auffassung des Künstlers, bereits einer zerstörten Welt zugehört - einer Zerstörung, der es nun, in einem bewußten Akt, überführt wird. Kurz gesagt, Ferdinands Zerschlagen war ein affektives, Paiks Zerschlagen ist ein analytisches. (Warum komme ich mir lächerlich vor, während ich mich hier, stümpernd, um diese Dinge bemühe?) "Die Kraft der Diskretion" ist ein Titel einer Aufführungsrezension, der heutzutage bei keiner einzigen Premièrenbesprechung mehr Anwendung finden könnte. Wir sind, ohne Ausnahme, der Unkraft der Indiskretion oder der Gewalt des Entlarvungsgewerbes ausgesetzt. Die Welten unserer älteren Stücke liegen, meinen wir, hinter uns, die Stücke aber werden noch gebraucht. Ihre Bloßstellung ist aus diesem Grund an der Tagesordnung.
Kabale und Liebe, Berlin: Vorausdeutung
Lieber Herr Steckel,
Ferdinands Zerschlagen ist ein affektives, Schillers die Violine durch Ferdinand zerschlagen lassen aber ein analytisches.
Ich interpretiere den Vorgang auch anders. Ich glaube, es ist für niemanden mehr überraschend und darum auch nicht mitteilenswert, dass die Welt nicht harmonisch ist.
Mitteilenswert aber ist der Moment, in dem Ferdinand merkt, dass er die Violine nicht spielen kann (ich halte Ihre Interpretation, er sei ein guter Spieler, der bei Musikus Miller in die Schule geht, für eine mögliche Spekulation, aber keine zwingende Feststellung). In diesem Moment "scheint auf", dass er möglicherweise auch auf Luise nur spielen wollte (aufgrund der von Inga und Man Ray bereits festgestellten Verwandtschaft der weiblichen Formen - und aufgrund des nicht ganz ungeläufigen Hamlet-Zitats: Haltet ihr mich für eine Flöte - Rosenkranz/Güldenstern). Schiller verwendet hier das literarisch-dramaturgische Mittel der Vorausdeutung: Er wird dann ja Luise auch mit Limonade "zerschlagen".
Diese Zweideutigkeit, sein Jähzorn macht Ferdinand zu einem schillernden Charakter - und dekonstruiert das Klischee vom Schiller-Jüngling. Ferdinand ist keine anzuschwärmende Identifikationsfigur, sondern wird kritisierbar. Dieser Staat brennt an allen Ecken und Enden und keiner kann sich zurück lehnen und sagen: Ich war's nicht.
Kabale und Liebe, Berlin: folgenloser Klatsch
Was ist denn jetzt mit der "Kraft der Diskretion" gemeint? Die Frage ist doch, geht es jetzt um Transparenz im Sinne der Aufdeckung einer Doppelmoral? Das heisst, nach vorn hin spielt einer den distinguierten Dandy, nach hinten raus aber kennt er keine Ethik des Gemeinsamen mehr, sondern handelt nur noch nach dem Ego-Shooter-Prinzip.

Oder geht es umgekehrt um die Frage, ob die Forderung nach Transparenz nicht eingeschränkt werden müsste auf den politisch-ökonomischen Bereich? Ich jedenfalls brauche keine privaten Geschichten über die erotischen Affären eines Adligen/Politikers, INSOFERN dabei keine Menschenleben zerstört werden. Das ist folgenloser Klatsch. Das ist der Verfall und das Ende des öffentlichen Lebens, die Tyrannei der Intimität. Da ist mir das öffentliche Rollenspiel und das Schweigen lieber, INSOFERN die gefräßige Medienmaschinerie nicht bereits angeworfen worden ist. Betroffene leiden unter nicht enden wollenden Gerüchten mehr als unter dem Schweigen.
Kabale und Liebe, Berlin: einfach lesen
Nr. 29: Lesen Sie einfach die unter Nr. 16 vollständig zitierte szenische Anweisung (keine "Regieanweisung", eher eine Anweisung für den Schauspieler).
Kabale und Liebe, Berlin: im Himmel
bill und peymann - a match made in heaven!
Kabale und Liebe, Berlin: ratlos
Irgendwie lässt der Abend ratlos zurück. Luises Frage ist berechtigt, Ulrichs Seidlers Verzweiflung ob der Unmöglichkeit, diesen abend zu verreißen ebenfalls. Meint der das wirklich ernst? Das hohle Pathos, die platten Gags, die Abwesenheit jeder erkennbaren Regiearbeit? Wahrscheinlich sollte man es mit Hamlets letzten Worten halten.

Habe ich aber natürlich nicht: http://stagescreen.wordpress.com/2013/04/26/rumpelstilzchen-in-der-mottenkiste/
Kabale und Liebe, Berlin: stark Bernhardscher Schiller
Ich hingegen fand bei „Kabale und Liebe“ wieder starke Akzente der Regie. Ich habe schon mit Heltau und Brandauer als Ferdinand um seinen (angeblich) felsenfesten Lebens- und Liebesentwurf geweint, ich habe in einem Film Kortner probt mit Lohner "Kabale" wenigstens ein wenig auch die Ratlosigkeit anklingen sehen. In Berlin sah ich hingegen einen Fedinand der die egomanen Bernhard-Weltverbesser-Züge in sich hat. Unsicher, in seinen Wortschwüngen sich selbst erst Mut machend, wiederholend und wiederkäuend sich selbst seine Liebe einredend und versichernd, der seine Mannbarkeit und seine Herkunft als Rüstung (fast lächerlich) vor sich herschiebt. Ein großes Kompliment von mir an Sabin Tambrea, der den Mut zu dieser Darstellung hat. Auf der anderen Seite sah ich die Bernhard’schen Frauenfiguren. Zwar leidend und duldend. Aber in ihrer Standhaftigkeit stärker, gezielter und die eigentlichen Erhalter, Möglichmacher, Überblicker. Und dass ich das in der „Berliner Kabale“ gesehen habe, halte ich doch für eine gezielte und überlegte Regiehandschrift und kein zufälliges Zusammenfallen von Schauspielergestaltung.
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