Ophelia liebt Barren-Bondage

von Stefan Keim

Bochum, 9. März 2013. Nüchtern betrachtet ist Hamlets Lage gar nicht so schlimm. Er ist Kronprinz im Staate Dänemark, hat eine standesgemäße Verlobte und einen Freund, Horatio, auf den er sich verlassen kann. Dass Onkel Claudius gerade Hamlets Vater ermordet, die Krone an sich gerissen und die Mutter des Prinzen geheiratet hat, mag die Stimmung dämpfen. Aber so etwas kommt vor in Führungseliten, und mit den richtigen Therapien und Medikamenten lassen sich Anflüge von Schwermut in den Griff kriegen. Nicht bei Hamlet, der junge Mann zelebriert seinen Weltekel.

Die Bochumer Textfassung verknüpft die romantische "Hamlet"-Übersetzung mit der aktualisierten Fassung von Peter Zadek und Gottfried Greiffenhagen und garniert sie mit Auszügen aus der geschichtspessimistischen "Hamletmaschine" von Heiner Müller. Der polnische Regisseur Jan Klata macht gerade einen großen Sprung und übernimmt im Sommer die künstlerische Leitung des Stary Teatrs in Krakau, einer der bedeutendsten polnischen Bühnen. Mit seinen grellen, bilderstarken Inszenierungen hat er Polen gerockt, bei seinen bisherigen zwei Bochumer Inszenierungen (Schillers "Räuber" und Kafkas "Amerika") allerdings weniger überzeugt. Auch im "Hamlet" legt er keinen Wert auf psychologische Feinheiten, sondern entwirft ein groteskes, grelles Gruselkabinett.

Körperliche Ertüchtigungen

Andreas Grothgar stottert als König Claudius herum, die Schuldgefühle lähmen sein Sprachzentrum. Seinen Verzweiflungsmonolog spricht er durch einen Stimmverzerrer, krächzende Hilflosigkeit am Rande der Verständlichkeit. Königin Gertud kichert und kiekst, ein Modemäuschen mit unendlich langen Beinen und noch längeren, hennaroten Haaren. Bettina Engelhardt spielt mit Lust am Trash eine Frau, die den letzten Rest Hirn längst verkifft hat.

Auf dem Weg dorthin scheinen auch Rosenkranz und Güldenstern zu sein, die Schleimer und Speichellecker, die düsteren Prinzen aufmuntern sollen. Roland Riebeling und Nicola Mastroberardino geben ein fröhlich improvisierendes Komikerpärchen, das keinen Plattwitz auslässt. Hamlet dreht ihnen irgendwann den Hals um, aber sie kehren als Totengräber zurück. Im Gegensatz zum königlichen Spaßmacher Yorick, dessen Schädel Hamlet findet, sind diese beiden Scherzinfarktgefährdeten nicht totzukriegen.

hamlet3 560 thomas aurin uHofstaat in Bewegung © Thomas Aurin

Es gibt keinen Charakter, zu dem Jan Klata nicht etwas Merkwürdiges eingefallen wäre. Polonius (Jürgen Hartmann), der oberste Staatsrat, ist ein Turnvater mit Trillerpfeife und treibt seine Kinder zur körperlichen Ertüchtigung. Tochter Ophelia (Xenia Snagowski) trainiert wie besessen klassisches Ballett und hat eine Vorliebe für seltsame sexuelle Praktiken. In der einzigen Liebesszene mit Hamlet lässt sie sich von ihm treten, zu Boden werfen und schließlich an ein Turngerät fesseln. Barren-Bondage – Ideenlosigkeit kann man dieser Inszenierung wirklich nicht vorwerfen. Manche Einfälle haben sogar einen Sinn. Als Hamlet seinen Onkel durch eine Theateraufführung entlarven will, nehmen Claudius und Gertrud oben im Rang Platz. Während Hamlet zunächst seinen berühmten "Sein oder nicht sein" – Monolog spricht, tastend und nachdenklich.

Debatte übers Gegenwartstheater

Claudius applaudiert begeistert und gerät dann ins Faseln. Schön, dass Hamlet nicht so herum gefuchtelt habe wie es heute so oft geschieht. Er müsse aber noch ein bisschen klarer sprechen und die Bühne besser ausleuchten. Schon sind wir in einer Debatte über das Gegenwartstheater. Hamlet führt nun – unterstützt von Rosenkranz und Güldenstern – eine wilde Performance auf. Zu Rockrhythmen und Bachmusik – die Zeit ist aus den Fugen – bespritzen sich die drei mit Dreck und Farbe, ahmen Schmierereien mit Exkrementen nach, eine Anspielung an Jürgen Goschs epochale Düsseldorfer "Macbeth"-Inszenierung. Am Ende taucht der Geist des ermordeten Königs (Marcin Czarnik) auf, und Claudius rastet aus.hamlet2 280 thomas aurin uDimitrij Schaad als Hamlet © Thomas Aurin

Einen tieferen Sinn hat diese Szene, weil Klata sich hier sowohl vom Regietheater als auch vom Diskurstheater distanziert. Schon zu Beginn ließ er eine Masse Bücher auf die Bühne klatschen, Ophelia wird später in Paperbacks begraben. Klata hat eine andere ästhetische Inspirationsquelle als Literatur und Theatertradition. Er erzählt Shakespeares Stück wie eine graphic novel, stilisiert, pathetisch, ironisch, mit großen Bildern und Popsongs. Hamlet könnte sich auch eine Fledermausmaske überziehen und als dunkler Ritter namens Batman über Dänemark wachen. Er kommt bloß nicht auf diese Idee.

Unter weiblichem Einfluss

Männlichkeitsbilder spielen eine große Rolle in dieser Aufführung. Hamlet hat Sex mit seiner Mutter und will sich nicht nur von ihr, sondern vom Einfluss aller Frauen befreien. Am Ende findet er im Duell mit Ophelias Bruder zu sich selbst, zwei Jungs mit nackten Oberkörpern, schwitzend, in einer aberwitzigen Kampfchoreographie. Sie benutzen keine Schwerter, sondern reißen sich pantomimisch gegenseitig das Herz aus der Brust. Jan Klatas "Hamlet" hat nervende Längen, aber auch kraftvolle Bilder, originelle Ideen – und mit Dimitrij Schaad als Hamlet einen umwerfenden Hauptdarsteller, der auch in größter Peinlichkeit nie die Glaubwürdigkeit verliert.


Hamlet
von William Shakespeare
Regie: Jan Klata, Bühne: Bartholomäus M. Kleppek, Kostüme: Mirek Kaczarek, Choreographie: Macko Prusa, Mitarbeit Kampfchoreographie: Ronny Miersch, Dramaturgie: Olaf Kröck.
Mit: Dimitrij Schaad, Andreas Grothgar, Bettina Engelhardt, Jürgen Hartmann, Ronny Miersch, Xenia Snagowski, Martin Bretschneider, Roland Riebeling, Nicola Mastroberardino und Marcin Czarnik.
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause.

www.schauspielhausbochum.de

 

Mehr zu Hamlet-Inszenierungen der jüngeren Zeit: Im November 2012 hat Roger Vontobel das Stück in Dresden auf die Bühne gebracht, im Oktober 2012 Alexander Riemenschneider in Bremen, im Februar 2012 Jan-Christoph Gockel in Oldenburg. Und bereits im September 2010 hatte Luk Percevals sehr sehenswerte, suggestive Inszenierung am Thalia Hamburg Premiere, in der Hamlet als Körper mit zwei Köpfen spricht.
 


Kritikenrundschau

Eine "merkwürdige Inszenierung" hat Ralf Stiftel für das Onlineportal des Westfälischen Anzeigers (10.3.2013) in Bochum gesehen. Klata verändere das Drama "drastisch" und füge "immer wieder selbstreflexive Kommentare ein, Zitate und eingespielte Popsongs". Der Held Hamlet "verliert dabei die Rationalität, erscheint fast als Rebell ohne Ursache". Die Inszenierung sei "schrill und plakativ, aber leider fehlt allzu oft der Blick auf das Stück. Der Abend hat kein richtiges Zentrum. Was ihn trotzdem ansehnlich macht, sind die fulminanten Schauspieler, die sich noch in die exaltiertesten Wendungen richtig reinhängen."

Einen "Starkstrom-Shakespeare" mit einem "grellen, überrumpelnden Mix aus Aktion, Lautstärke und grotesken Momenten, der oft an die Schmerzgrenze und meist darüber hinaus geht", hat Jürgen Boebers-Süßmann für die Onlineseite der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (10.3.2013) erlebt. Klata mache "lärmendes Ideentheater. Sein Protagonist ist Border-Liner zwischen aufsässigem Furor und verzweifelter Melancholie." Man staune über die "offenbar nie versiegende Zeichenhaftigkeit" der Inszenierung; sie sei "wie ein stotternder Funkverkehr; nachvollziehbar, aber immer wieder zerrissen." Es handle sich um "starkes Theater".

 

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