Heldenpos(s)e in Badehose

von Beat Mazenauer

Zürich, 14. März 2013. Die Bühnenfläche erhebt sich steil ansteigend im Bühnenraum. Hoch oben, beinahe auf dem Grat, hält Tell den zitternden Gessler umfangen und hört zu, wie dieser sich zu verteidigen versucht. Dann stößt er ihn in die Tiefe. Der Tyrann ist tot, das Spiel ist aus. Für den Schlussapplaus senkt sich die Bühne und gibt sich wieder als harmloser Schweizer Holzboden zu erkennen. Nicht allen im Publikum mochte dieser "Wilhelm Tell" in der Umsetzung von Dušan David Pařízek ganz geheuer sein.

Vielleicht war es an der Premiere im Zürcher Schauspielhaus nicht anders als am 17. März 1804, als Goethe in Weimar den Tell uraufführte und sein Publikum eher ratlos zurückließ, wie überliefert wird. Es wusste niemand so recht, was dieses langfädige Hin und Her über die Freiheit dieser Alphirten denn bedeuten sollte.

Dicht, dichter, Kiffer

Schillers "Wilhelm Tell" ist eine Mythenmaschine, die seit 200 Jahren ihr Unwesen treibt. Willig lässt das Stück mit sich machen, wonach der Zeitgeist gerade steht. Es darf also mit Recht gefragt werden, was es heute mit diesem Freiheitshelden auf sich hat.

Jedenfalls tappt Dušan David Pařízek nicht in die Falle der Langeweile. Seine Version des helvetischen Klassikers geht dicht und kurzweilig in 130 Minuten über die Bühne. Anstatt langer Erörterungen reicht es, dass die entscheidenden Zitate aufgeworfen werden. Tell selbst ist ein Meister darin. Mit seiner Vorliebe für halluzinogene Pilze könnte dieser Kiffer kaum längere Passagen hersagen. Michael Neuenschwander trifft ihn akkurat auf diesem dünnen Grat zwischen Eigensinn und Lächerlichkeit. Mit der hasenherzigen Aufmüpfigkeit seiner Landsleute kann er nichts anfangen, doch den Apfel trifft er – anders als bei Schiller – nicht.

Tell 560 ToniSuter uGrüezi. © Toni Suter

Die Zürcher Aufführung verwehrt sich von der ersten Szene an gegen jegliches Pathos, die Reden von Freiheit gehen unter in kleinlichem Lavieren und launigen Späßen. Insbesondere Werner Stauffacher, von Lukas Holzhausen mit Lust als Januskopf zwischen Mundart und Hochsprache gegeben, tut sich damit hervor. So kaschiert dieser habliche, zugleich kleinmütige Bürger, dass er lieber von der Freiheit redet als dass er sie tatkräftig erringt.

Spaßvögel-Gegenspieler

Auf der kargen Bühne, dem Holzboden mit drei Stühlen, kommt es zur ersten Konfrontation mit dem sadistischen Gegenspieler, dem Landvogt Gessler (Frank Seppeler), der seinerseits zwanghaft den Spaßvogel mimt, zumindest solange ihn das störrische Schweigen dieser Hirten nicht verdrießt. Dann kann er sich zu bösartigen Schikanen hinreißen lassen. Doch man kennt sich, und so begegnet man sich. Man palavert und plauscht – und es käme zu nichts, würde nicht Gertrud Stauffacher (Sarah Hostettler) die Männer antreiben. Dabei sind es weniger die flapsigen Sprüche als die kleinen Gesten, die wie verstörende Zeichen haften bleiben, etwa wenn Fürst und Melchtal ihren Bund mit einem heftigen Kuss besiegeln.

Die Verbündeten erörtern mitsamt ihrer Frauen schließlich die Notwendigkeit einer Auflehnung. Der Rütlischwur ist bei Pařízek eine nächtliche Heldenpos(s)e in Badehose. Die witzige Persiflage auf den Bund der Urschweizer verzettelt sich immer mehr in Phrasen, die den Bogen vom Rütli zum Albisgütli schlagen, wo die schweizerische Volkspartei alljährlich ihre reaktionären Parolen bekräftigt. Tell trötet dazu auf einem Plastikrohr und isst Pilze, bis es ihn umhaut. Am Ende zeigt sich, dass Abstimmungstaktik alles ist – und deshalb der Aufstand verschoben.

Die doppelte Wendung

Die Szene kontrastiert zum programmierten Höhepunkt jeder Tell-Aufführung: dem Apfelschuss. Schwientek als Sohn Walter gibt alles. Unterlegt von diskretem Ambient-Sound beginnt sich die Szene jedoch zäh zu dehnen und den Zuschauern Geduld abzufordern. Es folgt, was muss: Gessler fordert Vergeltung für Tells Unbotmäßigkeit und so beginnt das große Warten auf den Schuss.

Da nimmt das Stück eine unerwartete Wendung, die schließlich in den Tod des Sohnes und den besagten Sturz von Gessler mündet. Während Tell stumm um den erschossenen Walter trauert, wenden sich die Miteidgenossen ab und erzählen als Chor dem Publikum die Geschichte, wie sie Schiller notierte. Gessler steht bloß verdutzt zwischen den beiden Gruppen: Wem von ihnen wäre zu trauen?

Und das Fazit von der Geschicht'? Hin und wieder störend wirken zwar die krampfhaften Kalauer, doch werden auch diese vom Ensemble überzeugend und mit Pep vorgetragen. Damit ist der Tell im Zürcher Pfauen eine agile und pathosfreie Umsetzung des geschichtsträchtigen Stoffes, die durchaus produktive Fragen zurücklässt. Die beim Parkettpublikum eher verhaltene Reaktion am Ende demonstrierte allerdings, dass vielen Schweizern der spielerische, ironische Umgang mit dem helvetischen Ursprungsmythos und somit mit dem Selbstverständnis als einzigartige Nation noch immer nicht leicht fällt. In diesem Sinn hat Pařízeks Tell also wunderbar funktioniert.

 

Wilhelm Tell
von Friedrich Schiller
Regie: Dušan David Pařízek, Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Musik: Roman Zach, Dramaturgie: Roland Koberg.
Mit: Gottfried Breitfuss, Fritz Fenne, Lukas Holzhausen, Sarah Hostettler, Irina Kastrinidis, Miriam Maertens, Sean McDonagh, Michael Neuenschwander, Siggi Schwientek, Frank Seppeler.

www.schauspielhaus.ch

 

Mehr zu Dušan David Pařízek: In Zürich kombinierte er in Faust 1–3 Goethe mit Jelineks Sekundärdrama "FaustIn and out"

 

Kritikenrundschau

Als "intellektuell durchaus anregende Postmodernisierung" bespricht Barbara Villiger Heilig den Abend in der Neuen Zürcher Zeitung (16.3.2013). Zwar werde einiges Allotria mit dem Stoff getrieben, und manches ziehe sich auch "etwas länglich" dahin. Auch fragt sich die Kritikerin, ob die in das als Generationsdrama gelesene Stück eingearbeitete Family-Soap zwingend ist. "Die hingebungsvollen Schauspieler vertreiben freilich die Skepsis." Den Abgang "vom hohen Reck seiner Umkonstruktion" findet Pařizek aus Sicht der Kritikerin "überraschend, doch sinnfällig in einem Treffen von Tell und Gessler. Zwei Einsame, Unangepasste, Aussenseiter konfrontieren sich, wie sie sich bei Schiller nie konfrontiert haben: die hohle Gasse als schwindelerregender Steilhang, den Gessler am Schluss hinabgleitet."

"Leider hat Parizek sich gleich in mehreren Fallen etwas verfangen," schreibt Torbjörn Bergflödt im Konstanzer Südkurier (16.3.2013). Und zwar "in der Ironiezwang- und Späßchenfalle, der Beiläufigkeits-, Ausnüchterungs- und Reduktionsfalle und der Dekonstruktionsfalle", führt der Kritiker weiter aus. Auch hat sich Parizek aus seiner Sicht nicht deutlich genug entschieden, was er eigentlich will. Zwar büste der REgisseur mit seiner ambivalenten Aufbrechung der Apfelszene diesen Klasiker Denn damit hat man als Regisseur den Klassiker pflichtschuldig gegen den Strich. "Nur: Der Erkenntniswert dieses Regie-Manövers tendiert gegen Null."

"Selten hat man, gerade bei diesem so häufig grundsätzlich missverstandenen Klassiker, gewichtige Fragen - wie etwa die nach kollektiver Identität - auf so fantasievolle, leichte Art vorgespielt bekommen, wie in dem von Regisseur Dusan David Parizek auf gut zwei Stunden Spieldauer verknappten Tell", jubelt Cornelie Ueding im Deutschlandfunk (16.3.2013). "Er zeigt, wie solche nationalen Mythen gemacht werden und in welch grotesker Beliebigkeit 'Authentisches' zusammengeschustert wird." Dabei scheue Parisek auch radikale Eingriffe nicht.

"Dušan David Pařízek ist für Klamauk und Zeitreisen nicht zu haben", konstatiert Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.3.2013). Pařízek mache aus Schiller nicht Kleinholz, sondern eine Art "Tell unchained": "Es ist die alte Geschichte vom Lonesome Cowboy und Sklavenbefreier, aber sie wird mit halluzinogenem Augenzwinkern erzählt. Tells leiser Humor ist nicht immer zielführend, sein Hinterwäldler-Vorderlader nicht unfehlbar. Aber aus dem zweiten Rohr seiner Wunderwaffe, einem australischen Didgeridoo, entlockt er Schillers altem, hohl gewordenem Gassenhauer jedenfalls erstaunlich neue und zumeist pfiffige Töne."

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