Barbaren - Maxim Gorkis Schauspiel von Katharina Rupp in Biel-Solothurn inszeniert
Anschluss an die Eisenbahn
von Nikolaus Merck
Solothurn, 15. März 2013. Allerliebst hebt sich die Altstadt von Solothurn über die Aare. Wie Maxim Gorkis namenloses Dorf, das sich wie ein Spiegelei in der Pfanne den Blicken der Ankömmlinge präsentiert. Solothurns Mittelalter scheint noch hervor in den Gassen. Der rund 220 Jahre alte Theatersaal ist wohl der älteste, wenigstens in Teilen erhaltene der Schweiz. Acht Reihen Parkett, zwei Ränge für ein begeisterungsfähiges Publikum, wie anderswo selten anzutreffen.
"Kleinstadt", rufen die Schauspieler auf der Bühne, werk- und texttreu, und Lachen antwortet aus dem Saal. Heiterkeit auch, wenn die vertrauten Gestalten des Ensembles nah ans Schrille kostümiert und zurechtgemacht daherkommen. Viel Aufsehen erregt die rote Perücke, die Jan-Philip Walter Heinzel als Eisenbahningenieur Tscherkun Gorki-treu trägt, viel Gelächter erntet Silke Geertz für ihre mit schweren Klunkern, goldscharnierter Sonnenbrille und dazu passender Haartracht aufgedonnerte Holzhändlergattin Pritykina. Der Stil von Cornelia Brunns Meublement und Kostüm durchquert das vergangene Jahrhundert von Ost nach West und kreuz und quer im Galopp.
Konfrontation mit der großen Welt
Wenn nun die Schweizer Erstaufführung von Maxim Gorkis "Barbaren" im 17.000-Einwohner-Städtchen stattfindet, ist das ein Ereignis. Für das um ein Drittel zusammengestrichene Personal des 1906 uraufgeführten Schauspiels musste Regisseurin Katharina Rupp immer noch StudentInnen, Teilruheständler und Jugendclub-Spieler zum Dienst an der Kunst (re)aktivieren. Dazu die Schweizer Erstaufführung eines fast 110 Jahre alten Stückes, allerdings, der Autor ist anrüchig (Kommunist) und nicht gerade ein Kassenmagnet, Rupp beweist Mut zum Risiko.
In den "Barbaren" kommen zwei Ingenieure, Männer des Fortschritts, um ein Dorf ans Eisenbahnnetz anzuschließen. "Das Eisen ist die Kraft, die dieses stumpfsinnige, primitive, hölzerne Leben kaputt schlägt." Die "große Welt" in Konfrontation mit dem Muff und Sumpf der kleinen. Mit ihrem Leistungsethos wirbeln die Techniker die auf Macht und Beziehungen errichtete Hierarchie ordentlich durcheinander. Die betrügerischen Honoratioren werden gedemütigt und entlarvt. Die Herzen der Frauen schlagen höher, die Jungen müpfen frech, die ohnehin schon angelegten Konflikte brechen auf.
Klar, auch beim noch nicht sozialistisch realistischen Gorki gibt es den positiven Helden, den Viertelübermenschen, das pädagogische Beispiel, das magnetisch wirkt auf seine Umgebung. Und in den "Barbaren" gibt es ihn gleich zweimal, in der Gestalt des Tscherkun, eine grobianische Mischung aus Menschenfeind und Fortschrittsmaniac. Daneben, als Held im Taschenformat, der Student Stepan Lukin (Dimitri Stapfer), der Katja, das bei Natalina Muggli sehr kess auftrumpfende Töchterlein des bösen Bürgermeisters zur Teilnahme am politischen Kampf in der Stadt verlockt. Weshalb ihm Ausstatterin Cornelia Brunn wohl auch die einschlägige Kommunisten-Lederkappe auf den Schopf gesetzt hat.
Kleine Überlebensstrategien
Man hätte den Stoff politisch zuspitzen, mit dem Phantasma des Fortschritts sich auseinandersetzen können. Rupp geht einen anderen Weg. Überraschenderweise verfrachtet sie den ganzen Sermon in Richtung Commedia, gelegentilch Non Stop weiter Richtung Boulevard. Rupp und die Ihren typisieren. Die Vettel, der betrügerische Feiste, der fiese Alte. Dazu ein bissel Tschechow: der welt- und liebesschmerzlerische Doktor (Matthias Schoch) und ein paar Gorki'sche Kleinbürger und freche Junge. Entsprechend verschieben sich die Gewichte. Plötzlich steht nicht mehr der rote Tscherkun im Mittelpunkt, sondern sein älterer Kollege Zyganow.
Zwar bricht Tscherkun nach wie vor die "Herzen der stolzesten Frau'n", aber man weiß eigentlich gar nicht wie. Heinzel steckt die Hände in die Taschen und zuckt mit den Schultern, er sieht dabei aus wie ein Bodybuilder, der seine Achseln belüftet. Trotzdem behauptet seine Gattin Anna, die in ihren verbeulten Hosenanzügen mit zuppeligem Halstüchlein wirkt wie eine Gymnasiastin, sie könne nicht ohne ihn leben, selbst dann nicht, wenn das stolze, deshalb Reithosen tragende Adelsfräulein Lidija ihr Herrenfrauenauge auf ihn wirft oder die törichte Nadeshda angesichts seines Rotschopfs augenblicklich erstarrt und nach allerlei romanhaften Reden sich am Ende sogar aus dem Leben schießt. Das steht bei Gorki und muss wohl alles sein.Günter Baumann als Zyganow dagegen erspielt sich seine Zentralgestirnhaftigkeit auf der Szene. Er setzt dafür auch unlautere Mittel ein. Er reckt sein Kinn zu seinem Gegenüber und mustert ihn von oben bis unten. So muss es um 1957 ausgesehen haben in Bergisch-Gladbach, wenn der Philipp auf den Posa traf im Schillerschen Carlos: "Was bist denn Du für einer?"
Erspielter Schmerz
Und Baumann, ein mächtiger Mann mit Vollglatze, hat mehr solcher Kniffe auf Lager. Wenn er trinkt, er trinkt dauernd, geschieht das gleichsam krachend, wenn er geht, kreuzt ein Dreimaster vor dem Wind. Er lacht – "Ho Ho Ho" – wie nur Schauspieler auf Stadttheaterbühnen lachen können, wenn sie eine Selbstsicherheit markieren, er rollt und kneift und schlitzt das Aug', steht erstaunt erstarrt – kurz: Baumann ist in allem eine Wucht. Eine Wucht, die alles und alle in die Komödie, eigentlich in die Commedia treibt, denn Baumann gibt ja nebenher auch den Typus des Dottore, den ekligen Alten, der die junge Doofe liebt. Nur, dass die sich halt hier am Ende erschießt, was aber den spätestens im inständigen Rein- und Rausgerenne in Akt vier zerstobenen Ernst des Stückes auch nicht wieder herbeischafft.
Der leuchtete nur einmal, kurz und ingeniös, wenn Hanspeter Bader als fieser Bürgermeister seine aus dem Haus geflohene Tochter bittet, doch zu ihm zurückzukommen. Schmerz, wirklich erspielter Schmerz – belohnt mit dreißig Sekunden Stille unter den Zuschauern. Bevor Gorkis etwas bemühter Witz auch nach 100 Jahren wieder Wirkung zeigt: "Lidijas Stute steht da." – "Stellen Sie mich ihr vor." – "Der Stute?" – Ha ha ha.
Barbaren (SchEA)
Schauspiel von Maxim Gorkij, Deutsch von Ulrike Zemme
Regie: Katharina Rupp, Bühne und Kostüme: Cornelia Brunn, Dramaturgie: Adrian Flückiger.
Mit: Jan-Philip Walter Heinzel, Lina Hoppe*, Günter Baumann, Barbara Grimm, Miriam Strübel, Hanspeter Bader, Natalina Muggli*, Gerrit Frers, Silke Geertz, Max Merker, Judit Cuénod, Wolfgang Grabow, Matthias Schoch, Dimitri Stapfer*, Kaspar Rechsteiner**
* Studierende/r der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK
** Mitglied Junges Theater Solothurn
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.theater-biel.ch
Katharina Rupp habe "offensichtlich sehr darauf geachtet, dass hinter den sich [in Gorkis Stück] anbahnenden Beziehungen zwischen den Kleinstädtern und den Neuankömmlingen immer auch die geheimen Absichten, Defizite, Ängste und Traumata sichtbar werden", schreibt Charles Linsmayer im Bund (18.3.2013). Man habe es jedoch mit einem "keineswegs bloss traurig-tragischen, sondern immer wieder komödiantisch-lustigen Abend" zu tun. "Ein vergessenes Stück aus der Mottenkiste des sozialistischen Theaters? Wenn jemand sich seiner so subtil und einfühlsam annimmt, wie Katharina Rupp es getan hat, erweist es sich durchaus als lebensfähig und wartet nur darauf, auch auf anderen Bühnen gespielt zu werden."
"Die Moderne in die Kleinstadt bringen sollen die beiden Ingenieure Tscherkun und Zyganow, glänzend charakterisiert durch Jan-Philip Walter Heinzel und Günter Baumann", schreibt Christophe Pochon im Bieler Tagblatt (18.3.2013). "Beiden nimmt man von ihrem ersten Auftritt an ab, dass sie in ihren Rollen nicht nur den Ort ans Eisenbahnnetz anschliessen sollen, sondern auch das Leben der Einwohner aufmischen werden." Leider verschwimme aber "von der in Solothurn und Biel verbindlichen Textstruktur her nach und nach die Einbettung in Ort und Zeitpunkt der Handlung. Vorne ist, durch das personalintensive Stück bedingt, ein ständiges Kommen und Gehen, und urplötzlich entstand an der Premiere das Gefühl, Liebe und Hass, Verbitterungen und Hoffnungen seien Selbstzweck und hätten wenig Bezug mehr zu einem Russland an einem Wendepunkt."
"Die Kleinstadt, in der die Fremden eindringen, lässt sich in der ausgezeichneten Inszenierung von Katharina Rupp überall auf der Welt finden", meint Angelica Schorre in der Der Sonntag (17.3.2013). "Sie existiert dort, wo es egal ist, ob man stolz aufs Geld oder auf wissenschaftliche Errungenschaften ist, dort, wo vermeintliche Wahrheitsliebe alles zerstört, dort, wo die 'Liebe überall gleich und erbärmlich' ist: Kernhandlung ist das Gegockel und Gerangel um die Kleinstadtschönheit." Die Gesamtleistung des Teams überzeuge und begeistere über weite Strecken.
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vielen Dank für Ihre Gegenkritik, für den Widerspruch.
Der Kritiker ist nicht voreingenommen aus der großen Stadt in die Schweizer Provinz gereist, sondern neugierig. Die Kritik sagt: weil Katharina Rupp aus dem Gorki-Stoff eine Komödie macht, verschieben sich die Gewichte und plötzlich steht Zyganow im Mittelpunkt der Inszenierung.
Was Sie vom Geheimnis schreiben, ist bei Gorki zu lesen, aber bei Rupp nicht zu sehen. Dass der Kritiker, weil er aus Berlin anreist, selbstverständlich einen scharfen Widerwillen gegen Texttreue im Herzen nährt, ist durch nichts belegt und insofern das Vorurteil der Schweizer Provinz gegen die Metropole und den Kritiker.
Das Entscheidende aber erwähnen Sie gar nicht. Und in meiner Kritik kommt es nur am Rande vor. Es ist die sonderbare Beziehung des Publikums zum Ensemble auf der Bühne. Es war zu beobachten, dass bei der Mitteilung, die junge Adlige reite hervorragend, Gepruste sich erhob, meiner Meinung nach, weil diese Mitteilung sexuell aufgefasst wurde. Bei Erwähnung der Kleinstadt: Gelächter, wie an vielen weiteren Stellen auch, der ganze Abend funktionierte als Komödie einwandfrei. Und wurde vom Publikum auch als Komödie gewollt. Meiner Beobachtung nach.
Nachzudenken wäre also über die Frage, was geschieht, wenn ein Ensemble lange in einer Stadt arbeitet. Wenn das Ensemble das Publikum sehr gut kennt und das Publikum das Ensemble. Wird Theater dann nicht in erster Linie zu einem Ritual, das immer neu Gemeinschaft stiftet? Eine Gemeinschaft, die einschließt und ausschließt (vielleicht den Kritiker aus Berlin?). Und wenn dies der Fall wäre, wäre es vielleicht ganz unangebracht, ein solches Theater mit ästhetischen Maßstäben zu messen?
Ich glaube, das sind Fragen, die zu erörtern gewinnbringender wären, als sich Voreingenommenheit und Arroganz gegenüber der Provinz vorzuwerfen.
Mit herzlichem Gruß
Nikolaus Merck
Mit Verlaub: Ihr Charles Linsmayer
Die "Nachtkritiker" haben es schlicht nicht überwunden, dass sich die SolthurnerInnen und ihre zugewandten Orte wieder mal in die top ten ihres so hoch profesionellen virtuellen Theatertreffens "rein organisiert" haben.
Da müssen wir doch mal zum Rechten schauen, wird man sich gesagt haben - und was treffen sie an?
Lauter BarbarInnen
@ 3 Lieber Charles Linsmayer, Sie sprechen nicht zur Sache. Haben Sie das Lachen gehört? Das Lachen beim bloßen Auftritt des Ensembles im Kostüm: Schau mal wie xyz heute aussieht.
Wie würden Sie das interpretieren?
Ich schrieb "nachdenken", nicht "dekretieren".
Ich glaube jedenfalls, dass Biel-Solothurn um sein Publikum ringt, wenn Sie als Kenner der Szene das sagen.
Das Übrige ist meines Erachtens Polemik.
Mit herzlichem Gruß
Wäre es aber nicht ein wenig herablassend, wenn der Hauptstadt-Kritiker an das Theater in der Kleinstadt "grosszügig und mit ein bisschen Wohlwollen" kritische Maßstäbe light anlegt, es "nicht so streng nimmt" und damit einen "Provinzbonus" gewährt?
Die Kunst des Reise-Kritikers besteht doch gerade darin, die Arbeitsbedingungen und Möglichkeiten eines Hauses nicht aus dem Auge zu verlieren und trotzdem leidlich allgemein verbindliche Maßstäbe anzulegen. Schon, um die Relationen nicht zu verdrängen und zur reinen Jubelkritik/Marketingposaune zu degenerieren. Oder - passend ausgedrückt: die Kirche im Dorf zu lassen.
Katharina Rupp, die vorher Dozentin an der Folkwang-Hochschule in Essen war, hat bereits vor ihrem Engagement in Solothurn – etwa in St.Gallen – überzeugende Regiearbeit geleistet. In Solothurn aber ist es ihr seit 2007 gelungen, anspruchsvolles, modernes, künstlerisch hochstehendes, gesellschaftspolitisch kritisches Theater zu machen und gleichwohl ein breites Publikum dafür zu gewinnen. Das ist nicht einfach, und dass ihr der Spagat gelungen ist, hat nicht zuletzt die grosse Zustimmung gezeigt, mit der der Solothurner Souverän zum Umbau des Stadttheaters Ja gesagt hat.
Nicht weil in Solothurn anbiederndes, sondern weil auf der kleinen Bühne weit über die Region ausstrahlendes, professionelles Theater gemacht wird, hat die Bevölkerung "ihrem" Theater die Stange gehalten.
Pauschal zu behaupten, die von ihr kreierten Bühnenfiguren würden "mit der stets gleichen Vergröberung der Oberflächlichkeit» preisgegeben, ist ebenso falsch und verleumderisch wie die Verdächtigung, Katharina Rupp sei "durch irgendwelche Internet-Tricks" zu einer «seltsam überschätzten Regisseurin aufgestiegen». Sieht man die Kritiken durch, die seit 2007 über ihre Inszenierungen in anderen Zeitungen als dem "Bund" publiziert worden sind, so sind sie durchwegs zustimmend und anerkennend. Wobei allerdings festzuhalten ist, dass die Zeitungen der grossen Schweizer Städte Solothurn seit jeher eher stiefmütterlich behandeln und ihre Kritiker nur höchst selten in die Aarestadt delegieren. Das war seit 2007 bei der NZZ siebenmal der Fall, bei der Basler Zeitung zweimal und beim Tages-Anzeiger überhaupt nie. Ja seit dem Ausscheiden von Roland Erne rezensiert nicht einmal mehr die Solothurner Zeitung jede Premiere. Immerhin nannte dieses Blatt am 5.9.2011 die Solothurn-Bieler «Dreigroschenoper» eine «Glanzleistung» der Regisseurin Katharina Rupp und brachte damit, ob man es nun mag oder nicht, zugleich auch den Eindruck des begeisterten Publikums auf den Punkt. Das mit den "quietschbunten Kostümen, verstellten Stimmen, dicken Brillen», die Katharina Rupps Aufführungen durchgehend kennzeichnen sollen, erinnert im übrigen fatal an jenes Gerede vom “Unterhosentheater” mit dem gewisse Kreise seinerzeit den grossartigen Regisseur Christoph Marthaler zu diskreditieren versuchten. Charles Linsmayer