Porträt des Künstlers als Dummer August

von Wolfgang Behrens

Neuhardenberg, 15. März 2013. Wer in den letzten Wochen in Berlin öffentliche Verkehrsmittel nutzte, der musste nahezu unweigerlich darauf stoßen: auf ein Plakat, das Klaus Maria Brandauer mit wirrer Haarmähne und einer Knollennase zeigt, die ihre Herkunft aus der Theatermaske erst gar nicht zu verschleiern versucht. Ich assoziierte bei diesem Plakat spontan das großartig frührealistische Renaissance-Bildnis eines alten Mannes (samt Enkel) von Domenico Ghirlandaio und stellte mich innerlich auf eine Brandauer-Studie über das Alter ein. Freunde, mit denen ich über das Plakat sprach, reagierten anders: "Was soll denn diese dämliche Clownsnase?" fragten sie und blickten mich mitleidig an, wenn ich ihnen erzählte, dass ich zu dieser Knollennase, genauer: zu Peter Steins Inszenierung von "Das letzte Band" fahren würde.

beckett brandauer 280h jimrakete uKlaus Maria Brandauer ist Samuel Becketts Krapp
© Jim Rakete

Täppisch aufgepolstert

Sitzt man dann in der kleinen Schinkelkirche zu Neuhardenberg – wo, eine gute Autostunde von Berlin entfernt, eine Stiftung seit nunmehr 11 Jahren ein ausgesuchtes Kulturprogramm auflegt –, dann ist Ghirlandaio ganz weit weg und der Clown ist da: Zur täppischen Leibesfülle aufgepolstert, mit nach Art eines Dummen Augusts seitlich abstehenden Haaren, sitzt Brandauer im kegelförmigen Licht einer Lampe am metallbeschlagenen Tisch. Wenn er auf seine Taschenuhr schaut, reißt er überdeutlich ein Auge auf und kneift das andere zusammen: eine Clownsgrimasse. Wenn er Bananen aus den Schubladen des Tischs herausbefördert, gibt er seltsame vokalische Grunz- und Verwunderungslaute von sich ("ooo-i-ha"): Clownsgeräusche. Und wenn er schließlich in tapsiger Behäbigkeit auf der Bananenschale ausrutscht, macht er es gleichsam mit Ansage: ein Clownsslapstick.

Sicher, das meiste davon steht bei Beckett. "Weißes Gesicht. Wirres graues Haar", heißt es da. Auch die Uhr gibt es, sowie die Anweisung: "Sehr kurzsichtig (aber ohne Brille)." Selbstverständlich rutscht auch Becketts Krapp auf der Bananenschale aus. Und, ja, Becketts Figuren sind oft genug als Clowns bezeichnet worden: auch Krapp, dieser alternde Schriftsteller, der an seinem Tisch hockt und sich anhand alter Tonbandaufnahmen seine früheren Identitäten vor Ohren führt. Es wäre ein Unding, Peter Stein und Brandauer Ungenauigkeit vorzuwerfen. Nur die Nase, die steht so wirklich nicht im Text.

Penibles Ausbuchstabieren

Brandauer ist jedoch ein Clown, der aller Komik beraubt ist. Der Ausrutscher auf der Banane, das Kramen in den Hosentaschen, der tippelnde Schritt, die krächzend-fistelnde Stimme, ein Hustenanfall vor dem aus dem Tonband-Register vorgelesenen Wort "Liebe" (bei Beckett steht: "er blättert um") – das alles wird in unendlich unlustiger Langsamkeit zelebriert. Bei diesem Clown zündet nichts mehr, dieser Clown ist alt und schal geworden, so springt es einem jede Sekunde aus dieser Inszenierung entgegen.

Doch die Schalheit färbt ab: Je länger man zuschaut, desto mehr kann man den Eindruck gewinnen, dass nicht der alt gewordene Künstler Krapp jämmerlich ist, sondern das, was Stein und Brandauer hier mit ihm veranstalten. Im peniblen Ausbuchstabieren der Beckett'schen Vorlage nämlich verfehlen sie alles, was an dieser Figur noch lebendig und widerständig ist. Der traurige Clown, der ohnehin als Chiffre so ausgelutscht wie irgendetwas sein dürfte, wird in kalkulierter Virtuosität ertränkt.

Das Mal des Gemachten

Jedem Schmatzen, jedem Hüsteln, jedem Greinen, jedem gaumigen Auflachen, jeder greisenhaft gelallten Wiederholung eines auf dem Tonband gehörten Wortes, jedem Überschnappen der Stimme (das bei Brandauer immer mit einem intensivierten österreichischen Zungenschlag verbunden ist) ist das Mal des Gemachten eingeschrieben. Boshaft formuliert, hört man bei Brandauer ständig Subtexte wie: "Hört her, wie es klingt, wenn ein Großschauspieler schmatzt." Das ist dann im Grunde doch wieder komisch.

Vor ziemlich genau einem Vierteljahrhundert habe ich "Das letzte Band" das erste Mal gesehen: Bernhard Minetti spielte in der Regie von Klaus Michael Grüber. Als Minetti seine Banane aß, aß er eine Banane, gedankenverloren, seine Augen wurden hohl, und man blickte mit ihm in einen Abgrund aus Einsamkeit. Wenn nun Brandauer seine Banane isst, dann lässt er sie sich phallusartig aus dem Gesicht ragen. Das ist nur ein Nümmerchen, und man blickt nirgendwohin, nur auf eine phallusartig ragende Banane. Es ist das, was Peter Stein am meisten zu hassen vorgibt: ein blöder Regieeinfall. Wie übrigens auch die Clownsnase.

 

P.S. Im Zeit-Interview hat Peter Stein kürzlich die Kritiker mal wieder als "Feinde" bezeichnet. Ich sehe mich nicht als Feind Peter Steins. Feindschaft ist eine viel zu starke Emotion. Eine Aufführung wie "Das letzte Band" erzeugt bei mir als Kritiker (und Zuschauer, der ich ja auch noch bin) keine Feindschaft, sondern Desinteresse. Das immerhin, da bin ich mir sicher, beruht auf Gegenseitigkeit. Und wie gewöhnlich ist Peter Stein zur Premiere auch nicht erschienen.

 

Das letzte Band
von Samuel Beckett
übersetzt von Elmar Tophoven, bearbeitet von Peter Stein
Regie: Peter Stein, Bühnenbild, Ferdinand Wögerbauer, Kostüm: Annamaria Heinreich, Dramaturgie- und Regieassistenz: Sara Abbasi, Maske: Manuela Halligan, Technische Koordination: Christian Weißkircher.
Mit: Klaus Maria Brandauer.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schloss-neuhardenberg.de
www.movimentos.de

 

Mehr zu Arbeiten von Peter Stein mit Klaus Maria Brandauer im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Der frühe Beckett habe in den Clowns "eine Gegenwelt zum versteinerten Theater seiner Zeit gesucht", schreibt Matthias Heine im Online-Auftritt der Welt (17.3.2013). "Später trieb er, wenn er seine eigenen Stücke inszenierte, den Figuren die Clownerien wieder aus. Er muss wohl geahnt haben, dass der Clown zum peinlichen pseudoromantischen und unlustigen Klischee geworden war. Brandauer und Stein wollen nun Krapp reclownisieren." Dies sei "ein klassischer Regietheatertrick: Man sucht in den Fassungen und Selbstinterpretationen des Autors solange, bis man irgendeinen Hinweis findet, der die eigene Auslegung stützt." Wie immer, seit er mit Stein arbeite, sei "das oft heiß laufende Schauspielkraftwerk Brandauer auch hier auf eine sehr kunstbekömmliche Betriebstemperatur heruntergekühlt." Trotzdem werde "jede gehässige Bemerkung, die Krapp seinem jüngeren Ich nachwirft, und jedes Schmatzen natürlich zum Großschauspielervirtuosenstück".

Brandauers Krapp wirke "als Kunstfigur, nicht als Mensch, so, wie er zum Beispiel bei aller Komik doch von Martin Held in Becketts Berliner Inszenierung gespielt wurde", meint Hartmut Krug auf Deutschlandfunk (17.3.2013). Es sei "merkwürdig: Obwohl Regisseur Peter Stein auf die clowneskere Urfassung von Beckett zurückgreift, obwohl er dem Text getreu bis in die Regieanweisungen folgt, schaut man auf diese 1,5-stündige Beckett-Bedeutungsschau nie mit tieferem Interesse oder gar existentieller Betroffenheit. Der Zahn der Zeit hat doch mächtig an Becketts Textkonstruktion genagt und lässt einen fast denken, das Stück sei einst doch arg überschätzt worden." Es sei zwar "virtuos, wie Brandauer durch Krapps Erinnerungen tobt", aber es bleibe "immer aufgesagte tiefere Bedeutung und vorgezeigtes Mimenspiel."

Eigentlich müsste "weißer Rauch über der Schinkelkirche aufsteigen: Habemus Popanz", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (18.3.2013). "Die Existenz ist ein Witz ohne Pointe, wer hätte das besser als Beckett gewusst. Aber die fatale Setzung Steins – das Grotesk-Absurde des fortschreitenden Selbstverlustes in Clownsgestalt zu entäußern – verleiht dem Abend den Appeal einer Zaubervorführung auf der Geriatriestation. Wie soll denn die abgründige Komik spürbar werden, wenn man diesen Krapp nicht mehr ernst nehmen kann? Geschenkt, dass Brandauer ein großer Schauspieler ist."

Peter Stein möge Brandauer inzwischen "so gern, dass er ihm das Stück als rustikalen Virtuositätsvorzeige-Setzkasten hinstellt, den Brandauer nur noch zu bestücken braucht", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Rundschau (18.3.2013). "Wobei die einzige Virtuosität, die hier zum Ausdruck kommt, Brandauers Selbstdarstellung ist. Die hat er drauf. Er überzieht alles, was er tut, mit seinem Stolz, seinem Ruhm und seiner Einzigartigkeit. Brandauer spielt nicht, er brandauert. Alles − Gehen, Stehen, Blicken, Sprechen, Schmatzen, Rotzen, Husten, Sackkratzen − wird zum Brandauer-Markenprodukt." Und so brandauere er "anderthalb Stunden lang. Und dann brandauert endlich der Applaus auf. Da kann ein Kritiker noch so herumseidlern."

"Wie der Lebensgeist in den deregulierten Zellhaufen zurückkehrt und ihn zu einem einigermaßen strukturierten Individuum werden lässt", diesen Anfang des Stücks gestalte Brandauer "als eine Szene von faszinierend überwältigender Magie", jubelt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (18.3.2013). "In der schmerzhaft genauen Studie von Verfall, Verzweiflung und mitunter ein wenig Schalk und Freude wächst er über sich hinaus, was neben seinem enormen Können natürlich an der famosen Regie von Peter Stein liegt." Brandauer erspiele "sich und uns" Becketts Monodram "als tieftraurige Parabel über die Vergänglichkeit aller Dinge." Es sei leicht, "dieses hustende, greinende, schniefende, keifende, ziemlich unappetitliche Riesenbaby für eine schrullige Witzfigur mit schönen Händen zu halten. Bei genauerer Betrachtung allerdings bündeln sich in ihm all die Berichte von Demenzkranken, die seit einer Weile durch die Medien gehen und in Becketts Monolog bereits vorscheinen. Alt, schwach, krank und senil wird Krapp zum zerrütteten Albträumer seines eigenen Lebens."

Brandauer und Stein zwängen das Publikum "zu einer geradezu andächtigen Stille, indem sie bestimmt zwanzig Minuten lang kein einziges Wort fallen lassen", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (18.3.2013). "Das ist insofern ungemütlich, als es die Zuschauer aus ihrem gewohnten Zeitempfinden, aus ihrem vertrauten Theaterrhythmus reißt und zu einer ganz anderen Konzentration und Hinschaugenauigkeit auffordert." Die Pantomimen und Slapstickszenen seien "eindeutig Clownsnummern – nur eben keine schnellen, zündenden, auf laute Lacher getrimmte, sondern bis zur Nervenstrapaze ausgereizte, die man in ihrer betonten Langsamkeit und Behäbigkeit aushalten können muss." Brandauer betreibe "in aller Ungefälligkeit auch eine Alterskauzstudie, da ist jedes Schniefen genau gesetzt". Das "Bezwingende an diesem altersschweren Abend" sei, dass "dieser vor sich hin brabbelnde, von einem Menschen mit Aussicht auf Glück zum starrsinnigen Monsterclown mutierte Krapp kein Publikum zu brauchen" scheine, so tief drin sei er in seinem ureigenen Ritual, gefangen in einer rückhaltlosen Einsamkeit."

Äußerlich folge der Abend weitgehend der Vorlage, analysiert Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (19.3.2013). "Aber jeder Ton ist falsch. Jede Geste ist nichts als Getue. Jeder Blick ist aufgesetzt, inwendig hohl." Es sei, "als sähe man ein billiges Brandauer-Plagiat", nicht zu vergleichen mit jenem, der im "Zerbrochenen Krug" ein "dampfendes, irrwitziges Theatergrosskönigtum zu errichten vermochte. Hier ist er der Hauptdarsteller eines Desasters."

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