Eine Bombe für Berlin

von Mounia Meiborg

Berlin, 16. März 2013. Der junge Mann, der Berlin zerstören will, hält vorher noch eine Rede. "Rufen Sie mal wieder Ihre Mütter an!" – "Werfen Sie mit Steinen auf Grundschullehrerinnen!" – "Machen Sie Erasmus in Griechenland!" Es ist eine lange Liste von Appellen, und sie klingen, als hätte der Mann von Agitationsschriften über Karriere-Ratgeber bis zu Selbstverwirklichungs-Literatur eine Menge unterschiedliches Zeug gelesen und den Überblick verloren. Der wütende junge Mann von heute ist offenbar vor allem eins: verwirrt.

Unspielbares Stück

Jonas Jagow heißt dieser Mann, und er ist der Titelheld des Stückes, mit dem Michel Decar im letzten Jahr beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens einen Förderpreis gewann. Scheinbar willkürlich hat der Autor die Szenen und Textflächen angeordnet, sie tragen Titel wie "82. Szene, die gegen Ende des Stücks spielt." Decar hatte in einem Interview gesagt, er halte seinen Text für "unspielbar". Nun hat der Regisseur Jan Gehler mit seiner Uraufführung das Gegenteil bewiesen.

jonasdecar 560b thomasaurin uAngry Young Man: Matti Krause als Jonas Jagow © Thomas Aurin

Die Bühne im Studio des Berliner Maxim Gorki Theaters ist zu Beginn eine rote Kraterlandschaft, die vorwegnimmt, dass am Ende des Stücks ein Asteroid in der Stadt einschlägt. Die Zuschauer sitzen an allen vier Seiten um die Spielfläche herum, eine Anordnung, die Gehler offenbar dazu inspirierte, das Publikum miteinzubeziehen. Es wird mehrmals aufgefordert, die Plätze zu wechseln – ein Einfall, der allenfalls gesundheitsfördernd ist. Mit Decars Text hat er nichts Erkennbares zu tun.

Aus der Kleinstadt in die Metropole

Es geht um einen jungen Mann, der aus einer dumpfen Kleinstadt in die Großstadt Berlin gezogen ist. Weil ihm aber Berlin nach einer Weile ähnlich dumpf vorkommt, will er eine Bombe bauen und die Stadt zerstören – stellvertretend für das ganze Universum. Aber dazu kommt es nicht, weil der junge Mann zu sehr damit beschäftigt ist sich selbst zu zerstören.

Matti Krause spielt diesen Jonas Jagow nicht als großen Rebellen, sondern als einen unsicheren, liebenswerten Jungen. Wenn er seine dünnen nackten Arme um seinen Körper schlingt, wirkt es, als müsse man nicht die Stadt vor ihm schützen, sondern ihn vor der Stadt. Auf der Suche nach Liebe zieht er durch die Clubs und durch die Straßen und stößt dabei immer wieder auf Nina, mit der ihn eine sonderbare Hassliebe verbindet. Anne Müller spielt diese Freundin in der ihr eigenen Art: verstörter Blick, trotzig-vernuschelt sprechend, das Unbehagen mit dem eigenen Körper ausstellend. Wer von den beiden nun eigentlich krank ist, wird dabei nicht klar.

Im Occupy!-Zeltlager

Neun Studenten der Leipziger Schauspielschule agieren mal als Chor, mal als Komplizen Jagows, als Arbeiter, Polizisten oder Club-Besucher. Einmal sitzen sie alle im Kreis um eine Neonröhre herum, die als Lagerfeuer dient. Drumherum stehen Zelte, die aussehen, als seien sie von den Frankfurter Occupy!-Protesten übrig geblieben. Eine spielt auf der Gitarre, alle erzählen Geschichten. Und dieses Ferienlager-Feeling – lässig, lustig, jugendlich – überträgt sich auf den Rest der Aufführung.

jonasdecar 560 thomasaurin uLost in Berlin: Matti Krause als Jonas Jagow und Anne Müller als Nina © Thomas Aurin

Jan Gehler, der vor eineinhalb Jahren mit seiner einfühlsamen Uraufführung von Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick" bekannt wurde, hat diesmal beherzt in die Textvorlage eingegriffen. Die Reihenfolge der Szenen hat er umgestellt. Decars Sprachwitz übersetzt er in Körperlichkeit, die Textflächen in Szenen und macht den sperrigen, verwirrenden Text so zu einem lustigen Kammerspiel, in dem schon mal Witze à la "Der Döner zweier Herren" auftauchen. Das macht Spaß. Aber mancher menschliche Abgrund gerät darüber in den Hintergrund.

Was Jagow genau für ein Problem hat – mit sich, mit der Welt und mit Berlin – bleibt offen. Mal gibt er sich konsumkritisch, mal hedonistisch, mal konstruktiv und mal destruktiv, mal anarchistisch und mal konservativ. Und so wirkt es dann etwas banal, wenn er am Ende seiner vielen Appelle die eigentliche Botschaft verkündet: "Macht doch was ihr wollt. Aber macht etwas."


Jonas Jagow (Uraufführung)
von Michel Decar
Regie: Jan Gehler, Bühnenbild und Kostüme: Sami Bill, Dramaturgie: Rebecca Lang.
Mit: Matti Krause, Anne Müller, Katharina Alf, Pia-Michaela Barucki, Lorris Andre Blazejewski, Maximilian Grünewald, Raphael Käding, Robin Krakowski, Lina Krüger, Steffen Siegmund und Eric Stehfest.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.gorki.de



Kritikenrundschau

Decars Stück sei "eine radikal-dadaistische Textfetzencollage, an der jeder Inszenierer seine Fertigkeit im Umgang mit der Gedankenkettensäge prüfen muss", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (18.3.2013). Doch leider fehle "dem jungen Regisseur Jan Gehler der Mut zum Spiel mit dieser Schärfe". Und Matti Krause fehle als Protagonist Jonas Jagow im Vergleich mit seinem Kollegen Johann Jürgens in der Bosse-Inszenierung Die Gladow-Bande, die die Kritikerin auch bespricht, "Härte und Entschiedenheit". Sein "treuherziger, weicher Blick zerfließt ins Menschelnde und Gehler macht aus Decars schnellem, kühl-witzigem Gedanken-Jonglieren ein schleppendes Jugendcamp".

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