Die Menschenfreundliche

Jahrelang befand ich mich im Irrtum. Ohne je genau nachzurechnen, übernahm ich das Wort von der "Brecht-Schauspielerin" Carmen-Maja Antoni und verkündete, wann immer ich sie sah, den Menschen in meiner Umgebung: "Die hat noch mit Brecht selbst gearbeitet!"

cover antoni kein-pardonNatürlich Humbug – und peinlich dazu. In ihrer jüngst erschienenen Autobiographie musste ich mich belehren lassen: "Ich durfte ihm einmal einen Blumenstrauß überreichen (…). Ich war elf und hatte weiße Kniestrümpfe an." Zu meiner Verteidigung kann ich nur vorbringen, dass Carmen-Maja Antonis Spiel, in dem das Schalkhafte ebenso Raum findet wie eine stille Emotionalität und stets das gewitzt Zeigefreudige neben die Einfühlung tritt, doch wirklich ganz gut zu Brecht passt. Von dem sie denn auch fast alles gespielt hat – und das seit nunmehr fast vier Jahrzehnten an seinem Haus, am Berliner Ensemble.

Antoni erzählt in "Im Leben gibt es keine Proben" zumeist chronologisch und gerne auch anekdotisch von ihrer staunenswert langen Karriere, die bereits Ende der 1950er Jahre im Kinderfernsehen der DDR begann und sie über Stationen in Potsdam und an Benno Bessons Volksbühne schließlich an die Brecht-Bühne geführt hat, wo sie ganz zweifellos in den Rang eines Publikumslieblings aufgestiegen ist.

Von ihrem Buch strahlt eine große Menschenfreundlichkeit aus: Anschaulich und lebensvoll schildert Carmen-Maja Antoni, 1945 in Berlin geboren, das Theater- und Künstler-Milieu im Ost-Berlin der 70er und 80er Jahre, ohne dass allzu harte Worte fallen. Dem politischen Zwielicht, in dem manche ihrer Kollegen mitunter erscheinen könnten, weicht sie dabei meist aus, man ahnt es in einigen Szenen mehr, als dass es explizit würde. Wenn sie lästert – selten genug! –, liest man es mit gierigem Amüsement, um dann mitunter um die Namen der beteiligten Personen betrogen zu werden: Antoni blickt mit einer heiteren Diskretion auf die Theaterwelt. Übelnehmen kann und will man es ihr nicht, auch wenn man sich ab und an schonungslosere Einsichten wünschte.

Aber es gibt ja auch so noch genug zu entdecken, und sei es nur die herrliche Anekdote, in der Peter Zadek – kurz nach der Wende als "Wessi" in das legendär unglückselige Fünfer-Direktorium des Berliner Ensembles berufen – auf der Probe zu "Antonius und Cleopatra" englischsprachige, mit Kupferstichen illustrierte Bücher zur Einführung in den Stoff austeilt. Der Schauspieler Hans-Peter Reinecke "schaute sich das lange an, dann sagte er: 'Det is schade, dass er nich ooch Buntstifte austeilt, da könnte ick wenigstens die Bilder ausmalen.'" Ein pointierteres Bild für Peter Zadeks damalige Unfähigkeit, sich den ihm offenbar so wesensfremden Schauspielern aus dem Osten zu nähern, kann es wohl nicht geben. (Wolfgang Behrens)

 

Carmen-Maja Antoni, Brigitte Biermann:
Im Leben gibt es keine Proben.
Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2013, 256 S., 19,99 Euro

 

Die Experten des Zuhörens

In den Produktionen von Rimini Protokoll tun alle das, was sie am besten können. Bulgarische Kraftfahrer fahren Auto. Ägyptische Muezzine rufen zum Gebet. Indische Call-Center-Agenten telefonieren. Offenbar ist es das, was Rimini Protokoll, also die drei Theatermacher Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, am besten können: Die Anderen machen lassen.

cover rimini-protokoll abcNun haben sie etwas selbst gemacht und ein Buch geschrieben. Es heißt "Rimini Protokoll – ABCD" und ist aus Vorlesungen entstanden, die sie an der Universität Saarbrücken gehalten haben. Es ist ein fragmentiertes Werkverzeichnis geworden, ein lexikalischer Abriss der eigenen Arbeit. Das Ziel definieren sie so: "ABCD –­ Versuch einer Bestandsaufnahme nach zwölf Jahren. Nicht alles. Dazu wird die → Erinnerung nicht reichen. Aber einige Maschen im Netz."

Das Dickicht aus Theorie-Versatzstücken und Querverweisen ist zwar etwas verwirrend und manchmal auch gewollt bedeutungsschwer. Aber die Anekdoten sind schön. Unter dem Schlagwort "Held" heißt es von einem Lastwagenfahrer aus der Produktion "Cargo Sofia": "Warum ist eigentlich Juri Gagarin ein Held, nur weil er einmal um die Erde geflogen ist? Ich bin in meinem Leben schon mindestens dreimal um den Erdball gefahren und bin immer noch kein Held."

Es ist ein eigener Kosmos, den Rimini Protokoll sich über die Jahre mit Dutzenden Produktionen und unzähligen, oft liebenswert schrulligen Protagonisten erspielt haben und in den sie jetzt Einblick geben: Die nächtelangen Verhandlungen mit einem ägyptischen Zensor. Die Premiere, die um sieben Minuten verschoben wurde, weil die teilnehmende Astrologin dem Stück so mehr Erfolg vorhersagte. Die Anwälte, die kamen, als sie Theaterzuschauer zur Hauptversammlung der Daimler AG einluden.

Immer wieder kommentieren sie den deutschen Theaterbetrieb, der ihnen befremdlicher scheint als vietnamesische Arbeiterlieder: "Warum sind Proberäume von Theatern fast immer schwarz und haben keine Fenster? Als gelte es, eine Art Festung zu bauen gegen das, was da draußen geschieht." Rimini Protokoll machen das Gegenteil. Sie fahren Zug, besuchen Tierhandlungen und stehen in Operationssälen. Es ist nur konsequent, dass sie jetzt von diesem Zuhören berichten. Getreu ihrem Motto: "Wenn es um dein Leben geht, bist du selbst der Profi." (Mounia Meiborg)

 

Rimini Protokoll:
ABCD. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik.
Verlag Theater der Zeit, 2012. 176 Seiten, 16 Euro.

 

Solange wir böse sind

Es ist nicht unwichtig, dass die betreffenden Passagen von einem geschrieben werden, der offenkundig unter Drogen steht. Es gibt allerdings auch keine Gründe, es deshalb zur Seite zu tun. Eher im Gegenteil.

cover agejew roman-mit-kokainFolgendes: Vor 77 Jahren ist in einem russischen Exilverlag in Paris ein Roman von einem gewissen M. Agejew erschienen, er trug den Titel "Roman mit Kokain". Rasch wurde er vergessen – und fünfzig Jahre später wiederentdeckt. Dass Agejew ein Pseudonym war, wusste man bald. Viel wurde deshalb über den Verfasser spekuliert; nicht wenige glaubten sonderbarerweise, dass Vladimir Nabokov das Buch geschrieben hatte. Hatte er nicht. Dass man den russischen Juden Mark Levi als Autor dingfest machen konnte, hat allerdings auch nicht sonderlich viel Erhellendes zu Tage gebracht, weil über diesen Mark Levi wenig bekannt ist. Dies mag ohnehin nur strenge Positivisten interessieren und ist im Nachwort der jetzt erschienen Ausgabe nachzulesen, die den Roman erstmals nach dem russischen Original übersetzt dem deutschsprachigen Leser zugänglich macht. Wer immer Mark Levi war, er hat einen unbedingt lesenswerten Roman geschrieben.

Hier sei einzig eine Passage aus dem vierten und letzten Kapitel erwähnt. Zur Handlung nur so viel: Man hat es mit der Lebensgeschichte eines Wadim Maslennikow zu tun. Es wird von der Zeit in einem Moskauer Gymnasium berichtet, von einer sonderbaren und schmerzhaft scheiternden Liebesgeschichte, von der Verachtung für die Mutter, von der Revolution und, sehr eindringlich, sehr seelenberstend, von Kokainkonsum berichtet. Das letzte Kapitel liest sich, als sei das Kokain selbst der Autor.

Darin ist auch von einem Theaterbesuch die Rede. Maslennikow stellt sich einen "gutherzigen, sensiblen jungen Mann namens Iwanow" vor, der gebannt einem "Rührstück" folgt und in seinen Gemütsbewegungen durch das Husten des Sitznachbarn gestört wird. Iwanow wird daraufhin von einem "ganz ungewöhnlichen Hass" ergriffen, was Maslennikow Anlass für die Frage ist, den Grund "für diese bestialische Raserei" zu ergründen. Bei einem Rührstück scheint die Erklärung einfach: weil der Zuschauer Iwanow aus seiner "seelischen Ergriffenheit" gerissen wird.

Aber was nun, fragt Maslennikow weiter, wenn man es nicht mit Rührstücken zu tun, sondern mit solchen, die uns das "wahre Leben" zeigen. Stücke, in denen "das Lasterhafte siegt und das Tugendhafte untergeht". Dann stellt sich folgende Frage: "Warum nehmen wir das im Leben so hin, leben weiter, arbeiten; wenn uns aber das Gleiche, ein Abbild des Lebens um uns herum, im Theater gezeigt wird, erregen wir uns, erzürnen und verrohen?" Die Antwort: "weil wir niederträchtig sind, verdorben, habsüchtig und einfach böse". Heißt: "Würden wir im Leben gut werden, dann würden wir – von Gerechtigkeitsgefühl und Liebe zu den Gedemütigten und Schwachen durchdrungen, gar innerlich erschüttert – so viele Gräueltaten, Massaker, Folterungen und Vergeltungsmorde begehen oder zu begehen wünschen (...) wie sie noch kein Bösewicht begangen, ja nicht einmal zu begehen beabsichtigt hat". Weil die Ungerechtigkeit nicht zu ertragen wäre. Das heißt wiederum: "Solange wir böse sind, begnügen wir uns mit kleinen Niederträchtigkeiten; werden wir aber gut, töten wir."

Und was, frage ich mich, hieße das, wenn es denn stimmt, für das Theater? Hat sich diese Frage erübrigt, weil sich unser Gegenwartstheater (und unsere Gegenwart) in den letzten 77 Jahren gewandelt hat? Was ließe sich auf diese Romanphantasie heute antworten, im Leben so gut wie ästhetisch? Hat sich womöglich (im Theater wie im Leben) weniger geändert als wir glauben wollen?

Unabhängig davon, was man antworten mag, scheint es mir bemerkenswert, dass eben dies Fragen geblieben sind. (Dirk Pilz)

 

M. Agejew:
Roman mit Kokain.
Aus dem Russischen übersetzt von Norman Cassau und Valerie Engler.
Nachwort von Karl-Markus Gauß.
Manesse Verlag, Zürich 2012, 248 S., 22,95 Euro

 

 

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