Der letzte Mann

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 27. März 2013. "Wozu haben wir uns denn jetzt so viel Mühe gegeben?", fragt Kathrin Angerer. Und holt aus zu einer Art Mission Statement der vorhergegangenen dreidreiviertel Stunden. Das mäandert – und enthält viel, wie auch diese dreidreiviertel Stunden. Unter anderem die Sätze: "Die männliche Abart, (...), die Drohnen, die man töten muss, die bleiben doch am Leben, die fressen doch den Honig auf, die demoralisieren und unterdrücken uns Bienen. Als Ergebnis haben wir die Vorherrschaft der Schwachen, der Männer, über die Starken, und die Degenerierung der Männer." Die wird gleich darauf eindrucksvoll vorgeführt – und das Problem damit abgeschafft: als die vom einzigen Mann des Abends gespielte Figur mit einer Pistole in der Hand auftritt, im vollen Bewusstsein ihrer beziehungsweise seiner Überflüssigkeit, und sich – peng – gerade abgegangen, erschießt. "Jetzt ist uns unser letzter Mann abhanden gekommen", haucht Kathrin Angerer.

Duell1 560 ThomasAurin hProvinzkaff mit Rieger-Projektion: "Das Duell" an der Berliner Volksbühne © Thomas Aurin

Frank Castorf hat Anton Tschechows "Kurzroman" "Das Duell" inszeniert – eine Erzählung, in der die Action sich unter Männern abspielt. Noch nicht einmal das titelgebende Duell findet um eine Frau statt; die großen Fragen, um die es da geht, sind so groß, dass Männer- und Frauenfragen darüber zu lästigen Fliegen werden. Umso spannender Castorfs Besetzung der größtenteils männlichen Rollen mit bis auf eine Ausnahme weiblichen Schauspielern. Und mit was für welchen! Neben Kathrin Angerer paradieren Sophie Rois, Silvia Rieger und Lilith Stangenberg über die Volksbühnen-Drehbühne, um nur einige zu nennen. Allein die Selbstverständlichkeit, mit der auf diese Weise Fragen der Stärke und Schwäche außerhalb des Gender-Diskurses angesiedelt werden, ist wunderbar. Nicht ganz so wunderbar, sondern eher verkrampft wirkt das Bedürfnis – der Regie? –, diese Setzung immer wieder explizit zu machen. Meistens, indem kalauernd darauf angespielt wird – siehe oben.

Sehnsucht nach Moskau und Kohlsuppe

Auf der zweiten, den Abend dominierenden Ebene wird Tschechows Kurzroman überraschend linear nacherzählt. Er wechselt zwischen dialogischer Erzählung und inneren Monologen, die oft sehr komisch veräußerlicht werden. Kurz und grob geht es um einen gewissen vergnügungssüchtigen Lajewski, der mit seiner verheirateten, noch jungen und schönen Geliebten Nadeshda Fjodorowna vor den scharfen Zungen der Großstadt in ein kaukasisches Örtchen geflohen ist, wo sich beide zu Tode langweilen. Die Gesellschaft besteht im wesentlichen aus dem altersmilden Militärarzt, dem dümmlichen Diakon und dem präfaschistisch gesinnten Naturwissenschaftler von Koren, von dem niemand weiß, was er hier eigentlich macht – und der findet, dass Lajewski und Nadeshda Fjodorowna als Repräsentanten von Müßiggang und wilder Ehe, also Schwäche, unbedingt ausgerottet gehören. Diese Forderung macht er am Ende gar zur (Duell)-Frage um Leben und Tod.

Lajewski wird durch Sophie Rois – dargestellt? Vitalisiert! Und am Ende zum Actionhelden gemacht. Die Drei Schwestern, der erste Tschechow, an den Castorf sich wagte, sehnten sich nach Moskau – Lajewski sehnt sich auch irgendwie nach Moskau, zunächst aber nach Kohlsuppe. Denn schon die scheint ihm schier unerreichbar in diesem Kaff, das bei Castorf ein Bretterverschlag ist, auf eine triste "Landschaft" aus dampfendem Kies gestelzt. Natürlich sind alle Ähnlichkeiten zu historischen oder existenten kaukasischen Käffern zufällig; natürlich befinden wir uns an einem Multifunktionsort in Bezug auf Zeit und Raum, was ab und zu durch unmotiviertes Kriegsgedonner und diffuse Anspielungen auf "die Amis", auf die als Befreier man kollektiv zu hoffen scheint, markiert wird.

Ehrenrettung zweier Verschlagener

Abgesehen davon gibt es außer Sophie Rois’ Lajewski noch eine zweite Frau, der dieser Abend gehört: Lilith Stangenberg als Nadeshda Fjodorowna. Dass die Action sich in Tschechows "Duell" unter Männern abspielt, bedeutet nicht, dass es in diesem Text nicht auch eine kraftvolle Frauenperspektive gäbe. Lilith Stangenberg macht sie noch kraftvoller: Mit irrem Blick und grölender Stimme bearbeitet sie das Schicksal ihrer Nadeshda Fjodorowna, die eigentlich viel verschlagener ist als Lajewski: Sie plant nicht nur – wie er – die Flucht, sondern probt sie auch schon mal in den Augen und Armen zweier (Fast-)Geliebter. Trotzdem schafft sie es nicht so recht in den Handlungsvordergrund.

Bei Tschechow sind Lajewski und die Fjodorowna am Ende zusammen als Geschlagene; Castorf lässt sie als Verschlagene wieder zueinander finden. Diese Ehrenrettung kostet zwei Menschenleben – das des Arztes, der vor dem Matriarchat kollabiert, und das von Lajewskis einem Nebenbuhler bei Nadeshda Fjodorowna, Kirilin (Kathrin Wehlisch). Was sie bringt, war im Prolog vorweggenommen worden. "Um eins mal vorweg zu sagen: Dieses pseudodarwinistische Geschwafel ist Bullshit", hatte Sophie Rois da an die Adresse ihres Duellanten von Koren (dem Silvia Rieger eine beängstigend strenge Dauermiene ins Gesicht meißelt) gekrächzt. Denn: "Wer der Stärkere ist, weiß man erst nach dem Kampf." Quod erat demonstrandum.

 

Das Duell
nach Anton Tschechow
Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denic, Kostüme: Adriana Braga, Teresa Tober, Licht: Lothar Baumgarte, Kamera: Mathias Klütz, Harald Mellwig, Video-Liveschnitt: Jens Crull, Konstantin Hapke, Sound-Design: Christopher von Nathusius, Dramaturgie: Sebastian Kaiser.
Mit: Sophie Rois, Lilith Stangenberg, Kathrin Angerer, Silvia Rieger, Leonie Jenning, Kathrin Wehlisch, Bärbel Bolle, Martha Fessehatzion, Hermann Beyer.
Dauer: 4 Stunden, eine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

Der Abend wird aus Sicht von Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.3.2013) "ungeachtet mancher Länge ziemlich konzentriert und fast geradlinig erzählt, amüsant bis zur Albernheit und ausgelassen bis in die absurde Verstiegenheit." So war es für sie diesmal "sogar vergnüglich", Frank Castorfs Spielern zuzusehen. Denn Castorf hat sich dem Eindruck der Kritkerin zufolge Tschechows 'überflüssigen Menschen' "überraschend liebevoll" genähert und ist selbst vor Sentimentalität nicht zurückgeschreckt, "ohne die Bühnenfiguren, wie sonst gern, durch seine zynische Dekonstruktionsmangel zu drehen. Mögen die Bretter, auf denen hier gezaubert wird, morsch und krumm sein, bedeuten sie hier doch tatsächlich: die Welt."

"Der vierstündige Abend beginnt breiig, aber Geduld, er wird immer mehr zum Schauspielerinnenfight, " hält Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (30.3.2013) fest.

Von einem "tollen, verstrahlten, wieder mal genial verschlampten Theaterabend" spricht Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (30.3.2013): "So menschenfreundlich, herzerwärmend und wahr wie an diesem Abend war Nihilismus lange nicht." Die Inszenierung sei "ein lässiges Sich-Treiben-Lassen, bei dem Tschechows kluge, also illusionslose Menschenliebe, der Kaukasus und die jüngeren Kriege in der Region mal schnell übereinander geblendet" würden. Für diesen Kritiker ist 'Das Duell' eine "Inszenierung ohne Erzähl- und Zeitökonomie", eine Dramaturgie also, die aus seiner Sicht zum verhandelten Stoff ein lässig-entspanntes, eher beiläufig interessiertes Verhältnis unterhält und stattdessen dem Spiel vertraue. Auch dank toller Schauspielkünstlerinnen.

Wenig Ertrag für den Aufwand dieses vierstündigen Abends kann Katrin Bettina Müller in der taz (30.3.2013) verbuchen. Oft ist es aus ihrer Sicht "allein die Dynamik der kreisenden Drehbühne, der aufgeladenen Musik und der zugespielten Filmzitate, die Spannung und Erwartung suggeriert. Die technischen Mittel greifen ins Große und Monumentale, die menschlichen Szenen davor verwuseln sich eher kleinteilig und verwirrend." Das sei, so Müller, möglicherweise eine Strategie, um das frustrierende Messen des eigenen Lebens an medialen Bildern zu thematisieren. Doch es sei eben eine auf Dauer ermüdende Strategie.

Für Christine Wahl vom Berliner Tagesspiegel (30.3.2013) liest sich Tschechows 1891 erschienener Kurzroman "wie die Antizipation bestialischer Großmachtsideologien und Massenvernichtungen des 20. Jahrhunderts". Frank Castorf habe jedoch nicht nur totalitäre Diktaturen im Blick, sondern multipliziere unterschiedlichste weltanschaulichen Perspektiven solange, "bis der Tschechow-Stoff angemessen heillos assoziationsumwuchert" sei. Die Darreichungsformen sieht die Kritikerin dabei "lässig vom entlegensten Philosophem bis zum allernächstliegenden Kalauer" springen. Wahls Eindruck zufolge strapazieren "die assoziativen Stoffdurchmessungen bewusst die Zuschauergeduld und produzieren zweifelsohne immense Durststrecken". Da aber aus ihrer Sicht "andernorts zurzeit die theatrale Wirkungsökonomie zu grassieren scheint, wo einem Regiegedanken gern genau ein Darstellungsmittel zugeordnet ist", könne man diesen Überschuss auch als beglückenden Luxus empfinden.

"Ein wüst blubbernder, gar komischer und zugleich ein entsetzlich glasklarer Diskurs über Sinn und Wahnsinn von Gedanken und Taten zum Zwecke des Fortschritts," schreibt Reinhard Wengierek auf Welt-online (30.3.2013) – ein Abend, der ihm zumindest bis zur Pause "super Theater" bot. Und einen Castorf "ganz auf der Höhe seiner Kunst".

 

Kommentare  
Das Duell, Berlin: großer Abend
die review bringt das stück nicht näher. großer abend. bitte danke.
Das Duell, Berlin: intensive Momente
Die Nacherzählung der Romanhandlung anhand der Inszenierung in einer Theaterkritik? Einer Castorf-Inszenierung? Was möchte denn diese Kritik?
Also ich habe gestern sehr intensive Momente erlebt, beeindruckende Zeitüberlagerungen, Bilder über Randregionen (des Bewusstsein? der Metropolen?), Deja-Vus, deren Zuordnung man beinahe verzweifelnd sucht, politische Statements, die sich im kurzen Aufblitzen eines Gewissens entladen, aber auch da weiss man nicht, wo sie genau hinführen, schon sind sie wieder weg. Das wär eine ziemliche Arbeit, das in Worte zu fassen. Und da würde Theater ja einen Sinn machen, wenn es etwas aufspürt, und das Feuilleton an dieser Aufdeckung weiter arbeitet.
Duell, Berlin: Was zu beweisen wäre
@ 2 und S. Diesselhorst
Was noch zu beweisen wäre.
Duell, Berlin: eine der besten Castorf-Arbeiten seit Jahren
Das war einer der klügsten, intelligentesten und interessantesten Theaterabende seit langem und ein der besten Arbeiten Castorfs seit Jahren. Ein Abend über Vernichtungswilllen und Gleichgültigkeit frei von jedem Zynismus. Ein Abend, der die Selbstzufriedenheit angreift und gleichzeitig komisch, berührend, irrwitzig und lakonisch ist.Ein Kommentar zur Zeit, der doch nicht zeitgeistig ist. Ein Abend der der provoziert und befreit. Ein grandioses Ensemble, das zusammensspielt, dass es ein Freude ist. Castorf und Volskbühne forever!
Das Duell, Berlin: der mit den Wölfen
hat jemand eine ahnung was das am ende für ein text ist (der mit den wölfen) kathi angerer spricht den nach ihren langen monolog auf der treppe.
Das Duell, Berlin: toll
Keine Minute langweilig. Gute Inszenierung, gut anzusehendes Bühnenbild und - vor allem! - ein tolles Ensemble. Besonders die großartige Sophie Rois und Kathrin Wehlisch. Kathrin Angerer war bei meinem Theaterbesuch krankheitsbedingt leider nicht dabei. Auch die typischen Volksbühnen-Videoprojektionen nervten diesmal (!) nicht.
Das Duell, Berlin: prototypischer Castorf-Abend
Mit Das Duell ist dem Volksbühnen-Intendanten das gelungen, was man wohl als „echten Castorf“ bezeichnen kann: Ein uferloses Assoziationswirwarr, mal philosophisch, mal kalauernd, ein Abend mit vielen losen Enden, einer, bei dem Reste bleiben, gewollte und wohl auch zufällige, einer, der davon ausgeht, dass im der Zuschauer nicht immer folgen können wird, der keine Richtung hat und in seiner Offenheit doch nie beliebig wirkt. Dabei hilft auch ein eher Castorf-untypisches Element: Er erzählt die Geschichte des titelgebenden Kurzromans chronologisch herunter, verzichtet auf längere Fremdtext-Exkurse und erlaubt sich lediglich einen etwas veränderten Schluss. Das Ergebnis ist ein prototypischer Castorf-Abend mit ungewöhnlicher Stringenz. Ja, Das Duell mäandert dahin, es hat keine erkennbare Richtung, kein identifizierbaren Thema und schon gar keine Botschaft. Und doch ist da alles Mögliche drin, manches, was Castorf hineingepackt hat, anderes, was der Zuschauer hinzuwirft. Und machte das nicht die großen Castorf-Abende der Neunziger aus?

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/04/15/ja-die-deutschen/
Duell, Berlin: nur mit Kult-Maßstäben beurteilbar
Es ist eben ein Castorf-Abend für Fortgeschrittene,ein Showdown der besten Diven. Kult, wie an der Volksbühne üblich nicht mit normalen Maßstäben zu beurteilen. Mehr dazu: www.capakaum.com
Duell, Berlin: Sammelsurium trivaler Albernheiten
Habe den Ring in Bayreuth gesehen und war fasziniert. Komme nach Berlin um Castorf zu sehen und bin schwer enttäuscht. In Bayreuth war C. gezwungen, sich dem Stück unterzuordnen, da konnte er nicht ausfransen. Schade um den armen Tschechow. Was er dem Stück zusetzt, ist ein Sammelsurium trivialer Albernheiten. Die gleichen virtuosen Videoprojektionen wie im Ring und als Bühnenbild eine Sparversion der Walküre, die hervorragend war. Wenn das der Kern der Inszenierungen Castorfs ist, dann habe ich jetzt genug gesehen.
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