Ach, Liliom

von Martin Krumbholz

Bochum, 6. April 2013. Ein bisschen interessant wird diese Aufführung erst auf der Zielgeraden. Wenn Liliom schon tot ist; wenn die Bühnenschräge sehr steil gestellt, die breit orchestrierte Musik sehr laut gedreht wird und der Titelheld in den Bühnenhimmel oder sonstwohin kraxelt und erklären soll, warum er den Hausmeisterposten auf Erden abgelehnt, stattdessen einen dilettantischen Raubüberfall inszeniert und sich das Leben genommen hat (Antwort: aus gekränktem Stolz), und ob er denn irgendwann, nach sechzehn Jahren oder so, noch mal zurück will auf diese Erde und alles wieder gutmachen. Interessant heißt in Wirklichkeit aber auch nur: spektakulär. Es gibt mal was anderes zu sehen als aneinander stoßende Autoscooter, die zeitgemäße Entsprechung für das "Ringelspiel", in dem Liliom arbeitet oder jedenfalls das tut, was er dafür hält: Leute aufreißen. Liliom, der Strizzi, der Hallodri, der Macho, das Großmaul, der Faulpelz, der "Hutschenschleuderer", der Nicht-Hausmeister, der Verbrecher aus Verlegenheit, das verkannte Genie.

Verführerisch und kompliziert

Schade. Man hätte diesem Abend einen Erfolg gegönnt: Hier in Bochum hat die Regisseurin Christina Paulhofer in den Neunzigern ihre Karriere begonnen; jetzt kehrt sie nach einer längeren Theaterpause an den Ort des Anfangs zurück. Mit einem Stück, das auf den ersten Blick verführerisch und auf den zweiten kompliziert ist – so ähnlich wie sein Titelheld. Warum überhaupt den "Liliom" spielen, das bekannteste Stück des Ungarn Franz Molnár, der von 1878 bis 1952 lebte, einige Jahre davon in New York, und dessen Charme, dessen spezielle Idiomatik Schauspieler nördlich des Mains auf eher peinliche Weise herausfordert? Aus sentimentaler Liebe zum Rummel? Da wäre Horváths "Kasimir und Karoline" das bessere, weil dramaturgisch dichtere Stück. Aus Sehnsucht nach dem Fin de Siècle? Da ist fast alles von Hofmannsthal, Schnitzler, Wedekind bei weitem besser geschrieben.

Körperchen und Seelchen

Aber irgendwo in diesem seltsamen "Liliom" meint man ein Herz schlagen zu hören, ein etwas sentimentales Theaterherz; man muss es nur auch auf der Bühne hörbar und sichtbar schlagen machen. Da reicht es nicht, ein Quartett munterer Akrobaten von "Urbanatix" auf die Bühne und das im Hintergrund verankerte Trampolin zu bringen und den männlichen Teil des Ensembles unter Anleitung des nimmermüden Herrn Figge zum Dauer-Raufen zu animieren. Da wäre schon auch die subtilere Schauspielkunst gefragt. Da sind ja nicht nur Körperchen auf der Bühne, sondern auch Seelchen. Florian Lange, ein in Bochum vielbeschäftigter Schauspieler, zeigt vom Liliom leider nur den Raufbold, das Stehaufmännchen – nicht aber den Trickser, den raffinierten Verführer, und schon gar nicht den Charmeur. Felix Rech, ein in Bochum notorisch unterforderter Schauspieler, zeigt als Freund und Ganove Ficsur am Anfang ein paar Zauberkunststückchen, dann wird er von der Regie verlassen. Frau Muskat (Julika Jenkins): eine Kaugummiblase. Der Linzmann (Daniel Stock): ein Tarantino-Abziehbild. Und so weiter.

Liliom3 560 DianaKuester uFlorian Lange und Kristina-Maria Peters auf dem "Ringelspiel" in Bochum. Foto: Diana Küster

Hingucker

Die rühmliche Ausnahme dieses Schauspieler-Desasters und den Lichtblick des Abends stellt Kristina-Maria Peters dar, die eine wunderbare Julie ist in ihrer jähen und verdatterten Verliebtheit, ihrer zähen Anhänglichkeit an den Macho ihres Lebens, in ihrer fatalen Schicksalsergebenheit – und die als einzige wirkliche Frauenfigur des Stücks natürlich schrecklich und endgültig aus der Zeit gefallen ist. Vielleicht hat Paulhofer sich um diese Julie ja besonders intensiv gekümmert; vielleicht handelt es sich auch einfach um unschlagbares Naturtalent. Man weiß es nicht, will es nicht wissen, aber diese Julie ist der Hingucker schlechthin: der einzige.

Nach gut zwei Stunden, die nicht vergehen wollen, beschließt die Regisseurin das Ganze mit einem Zitat aus Leo Carrax' Film Holy Motors: Die Autoscooter im "Ringelspiel" veranstalten, blinkend und sprechend, ein zwitscherndes nächtliches Meeting. Das ist sehr hübsch.

 

Liliom
Eine Vorstadtlegende
von Franz Molnár
Deutsch von Alfred Polgar
Regie: Christina Paulhofer, Bühne: Alex Harb, Kostüme: Lili Wanner, Musik: Silvain Jacques, Choreografie: Takao Baba, Kämpfe: Klaus Figge, Dramaturgie: Thomas Laue.
Mit: Florian Lange, Kristina Peters, Maja Beckmann, Julika Jenkins, Felix Rech, Matthias Eberle, Daniel Stock, Mascha Schneider und Tänzern und Artisten von URBANATIX. Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Mehr zu Liliom: Zuletzt besprochen auf nachtkritik.de wurden der Braunschweiger Liliom von Daniela Löffner im Januar 2011, Christoph Mehlers Frankfurter Version im September 2011, Julia Hölschers Inszenierung in Dresden im Juni 2012 und jetzt Barbara Freys Produktion am Burgtheater.

 
Kritikenrundschau

Ein misslungenes Comback von Christina Paulhofer hat Vasco Boenisch von der Süddeutschen Zeitung (8.4.2013) in Bochum gesehen. Dabei beginne der Abend mit dem "Taschenspielertrick" von Felix Rech und harter Techno-Musik auf dem Prater, der "eine dumpfe Bedröhnungsamüsierhölle geworden" ist, noch vielversprechend. Dann aber werde es "nicht radikal. Nicht groß, sondern Kleinklein – wenn auch mit beträchtlichem Aufwand. Was die Sache erst richtig provinziell aussehen lässt." Die Akrobatentruppe sei zwar "toll anzusehen", werde aber "im Verlauf als menschliche Turn-Deko banalisiert"; das Spiel am Autoscooter erscheint dem Kritiker sinnfrei. Und auch in der gewalttätig gezeigten Beziehung zwischen Liliom und Julie sei die Inszenierung "weit davon entfernt, das Phänomen, das sie laut vorführt, auch nur ansatzweise zu ergründen".

Für "unbedingt sehenswert" hält Max-Florian Kühlem in der Halterner Zeitung (8.4.2013) diese Inszenierung, in der Paulhofer "den riesigen Bühnenapparat des Bochumer Schauspielhauses virtuos bedient". Herausragend ist für den Kritiker die Figur der Julie, "weil Kristina Peters sie hinreißend spielt", als "zartes, aber furchtloses Wesen, dessen einziges Unglück es ist, sein großes Herz an den Flaschen zu verlieren". Florian Lange werfe sich als Liliom dagegen "zwar mit aller Macht" in die "Rolle dieses Raufbolds", die Figur bleibe dabei aber auch "eindimensional – ihr einziger Antrieb scheint die Triebbefriedigung zu sein".

In der Frankfurter Rundschau (8.4.2013) schreibt Sarah Heppekausen, der Autoscooter, wo die coolsten Kirmesgänger posen, sei ein zeitgemäßer Ort für den Poser Liliom. Dieser "Vorstadtversager" flüchte bei Florian Lange vor der Freude, stolpere über die Bühne wie über seine Emotionen. Nicht mal sein Selbstmord wolle ihm zunächst gelingen. Man müsse ihn einfach bedauern, nur bleibe bei allem Verständnis seitens der Regisseurin "die Entschiedenheit auf der Strecke". Die vier Tanzakrobaten von „Urbanatix" wirkten nach starkem Beginn wie Fremdkörper, Frau Muskat (Julika Jenkins) mehr wie eine "Klette" als ein "sexy Kaliber". Die Bühne sehe gut aus, zwinge aber die Darsteller zu "ungelenken Rutschpartien". Kraftvoller sei die Julie der Kristina Peters, eine "erschrocken Unerschrockene" voller blauer Flecke, die trage aber nicht allein den Abend.

"Die Inszenierung geht dramaturgisch kein Risiko ein, streut gelegentlich Musikzitate, ohne es damit zu übertreiben, verlässt sich aber stets auf die Kraft des Molnar-Textes", befindet Jürgen Boebers-Süßmann auf dem Onlineportal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung derwesten.de (8.4.2013). Florian Lange, "der die Titelrolle mit gewohnter Einsatzfreude als omnipotentes Kraftpaket" anlege, wird bei ihm positiv hervorgehoben. Fazit: "Wuchtig und gefühlsbetont fügt Paulhofer das vielschichtige Rummelplatz-Gleichnis zu einem schlüssigen Theaterabend zusammen. Der Einsatz von vier jungen Street-Artisten der Bochumer Gruppe 'Urbanatix' akzentuiert die heftige Körperlichkeit der Einrichtung noch."

 

 

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