Schläge nach neuestem Forschungsstand

von Sarah Heppekausen

Essen, 7. April 2013. Und dann stehen die Zuschauer auf und nehmen sich in den Arm. Tatsächlich. Ein experimentierfreudiges Publikum ist das im Essener Grillo Theater. Die Stimmung ist gut, verantwortlich dafür ist "Dr. Love". Der Neuroökonom Paul Zak versprüht gern Oxytocin, das Schwangerschaftshormon, das er auch Moralmolekül nennt. Denn das sei zuständig für die Empathiefähigkeit. Und acht Umarmungen pro Tag machen aus Forschersicht glücklich.

Schauspieler Daniel Christensen gibt den vertrauensfördernden Wissenschaftler in dieser dokumentarischen Performance, die Hermann Schmidt-Rahmer seiner Inszenierung von "Clockwork Orange" voranstellt. Zaks Vortrag ist im Internet abrufbar. Und es ist bei weitem nicht der einzige Originaltext, den der Regisseur an diesem Abend zitieren lässt. Deshalb nennt er ihn auch "Science Lecture".

clockwork3 hoch MartinKaufhold uPrügelknaben: Tom Gerber, Jörg Malchow; hinten: Daniel Christensen © Martin Kaufhold

Brutalos mit Täterprofilkenntnis

Anthony Burgess' pessimistische Zukunftsvision "A Clockwork Orange" von 1962 ist für Schmidt-Rahmer mehr Anlass als Vorlage, Anlass für eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit Gehirn- und Gewaltforschung. Die alte Geschichte vom jugendlichen Alex, der sich an Beethoven, Drogencocktails und brutal-exzessiven Überfällen berauscht, bis er verhaftet wird und eine Gehirnwäsche verpasst bekommt, reichert die Regie mit aktuellem Doku-Material an.

Während Alex und seine "Droogs" im Roman nicht lange fackeln, bevor sie ihre Opfer malträtieren, holen sie in Schmidt-Rahmers Inszenierung zur ausführlichen Täteranalyse aus. Sie erklären ihre Gewalt als Folge von ADHS, Missbrauchserfahrung, Wohlstandsverwahrlosung oder Desintegration. Der eine bekommt in der Schule keinen eigenen Gebetsraum, also schlägt er zu für die nötige Anerkennung. Der andere spricht von negativen Bindungserfahrungen. Sie heißen in der Inszenierung einfach alle "Alex" – oder auch Yilmaz, das ist der mit Migrationshintergrund. So lässt sich's leichter typisieren.

Unter Experimentalbedingungen

Getreten, geschlagen, gewürgt, geblutet und herzzerreißend geschrien wird an diesem Abend auch, klar. Aber nicht ohne theoretischen Unterbau. Burgess hält seine Leser durch artifizielle Sprache und einen ironisch-lässig plaudernden Erzähler auf Distanz. Schmidt-Rahmer erzielt einen ganz ähnlichen Effekt bei seinen Zuschauern, indem er die Metaebene mitspielen lässt. Tat und Täter stehen unter permanenter wissenschaftlicher Beobachtung. Oder sie beobachten sich gleich selbst.

Bettina Schmidt warnt im sozialpädagogischen Duktus vor pornografischen Inhalten oder hakt immer mal wieder nach: "Es beginnt also mit Drogen?", "Ist das hier noch normal? Ist dieses Kind behindert?" Im Marshmallow-Kinderexperiment legt Ingrid Domann als Hirnforscher Gerhard Roth die Frühindikatoren für Gewalt fest. Silvia Weiskopf wütet als Neuköllns Bürgermeister Buschkowsky gegen den Bodensatz der Gesellschaft. Und Gefängnisarzt Dr. Brodsky ist bei Tom Gerber nicht mehr zuständig für die "Ludovico-"Umerziehungsmethode, sondern untersucht als moderner Neurobiologe die biochemisch messbare Reaktion desjenigen Teils des Gehirns, der für moralische Urteile verantwortlich ist. Der stellt den freien Willen nicht mehr nur in Frage, der leugnet ihn.

Gewalt macht sie alle gleich

Und die drei Alex' (Daniel Christensen, Jörg Malchow und Johann David Talinski) verausgaben sich weniger bei ihren nebenbei durchexerzierten Gewaltorgien als vielmehr bei Non-stop-Typenwechseln: "kaltes Kind", Technotänzer, drogenberauschter Straßenzeitungsverkäufer, Dschihadist, Hooligan, Totmacher aus den Sümpfen Ruandas – zwischen all den Rollen springen sie spielfreudig hin und her als gäbe es keine Unterschiede. Gewaltbereitschaft vereint sie, das erklären ja die Wissenschaftler.

clockwork1 560 MartinKaufhold uIm Umerziehungslabor: Tom Gerber; hinten: Bettina Schmidt, Johann David Talinski
© Martin Kaufhold

Auf der Drehbühne leuchtet derweil das limbische System. Thilo Reuther hat ein übergroßes Gehirn in der Mitte platziert, ausgestattet mit blinkenden Lämpchen, als wollten die ihre Empathiebereitschaft signalisieren, an- und ausschaltbare Gehirnfunktionen. Bewusstmachung der plakativen, auch amüsanten Art, mit reichlich Assoziations- und Zitatenmasse – diese Methode haben der Regisseur, der Bühnenbildner und Kostümbildner Michael Sieberock-Serafimowitsch schon bei ihrer Essener Inszenierung von Jelineks "Ulrike Maria Stuart" erfolgreich durchgeführt. Diesmal aktualisiert Schmidt-Rahmer eine Anti-Utopie, er bringt sie sozusagen auf den neuen Stand der Forschung. Menschliche Freiheit gegen ein bisschen nachjustierte Moral – das Thema ist längst nicht durch.


Clockwork Orange
von Anthony Burgess
Deutsch von Bruno Max, Fassung von Hermann Schmidt-Rahmer
Regie: Hermann Schmidt-Rahmer, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Videografie: Karolin Killig, Dramaturgie: Carola Hannusch.
Mit: Daniel Christensen, Ingrid Domann, Tom Gerber, Jörg Malchow, Bettina Schmidt, Johann David Talinski, Silvia Weiskopf.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspiel-essen.de

 

Mehr zu Clockwork Orange auf deutschsprachigen Bühnen: Hier finden Sie Nachtkritiken zu Inszenierungen des Burgess-Romans in Rendsburg 2011 (Regie: Markus Bauer), in Halle 2011 (Regie: Katka Schroth), in Zürich 2008 (Regie: David Bösch).

 

Kritikenschau

Spannende Lektionen seien es, mit denen der Zuschauer konfrontiert wird, schreibt Stephan Hermsen auf derwesten.de (9.4.2013). "Lektionen allerdings, die über zwei Stunden vielKonzentration und Geduld fordern." Weil Gewalt nicht zur Schau gestellt, stattdessen darüber reflektiert werde, entstehe "viel Sicherheitsabstand fürs Publikum. Manchmal driftet das Geschehen ab in eine ambitionierte Multimedia-Lesung, in der die Laborkulisse oft zur Projektionsfläche wird und wo medizinischer Fortschritt einen falschen Frieden schafft, in dem auch die Willensfreiheit stirbt."

Wenn man sich einmal daran gewöhnt habe, dass am Abend keine klassische Geschichte erzählt werde, "sondern nur das Fortschreiten der Wissenschaftsgeschichte erzählt wird", folge man gern, so Max Florian Kühlem in der Rheinischen Post (9.4.2013). Auch diesmal verzichte Schmidt-Rahmer nicht darauf, das Publikum einzubeziehen: "'Abonnenten, wir wissen, wo euer Haus wohnt!', schreien die Droogs, als sie den Theaterraum verlassen. Ganz kurz bekommt man eine Gänsehaut."

Zwei Stunden Wissenschafts-Spektakel hat Britta Helmbold erlebt, wie sie in den Ruhrnachrichten (8.4.) schreibt. Vom Originaltext bleibe in dieser "Science Lecture", "die diverse Erklärungsmodelle für Gewalt liefert, wenig" übrig.

 

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