Perlen aus Pickeln

von Stephanie Drees

Hannover, 19. April 2013. In der Riege berühmter letzter Worte bestechen manche mit mit Pragmatismus. "Du kannst die Sirupringe haben!", presst Louisa noch über ihre Lippen, bevor sie das Zeitliche segnet. An den Beinen wird sie flugs von der Bühne geschleift, derweil greift sie sich noch schnell die Picknickdecke mit dem festgeklebten Outdoor-Geschirr. Was für ein patentes Mädchen. Mag der rosa-rote Fatsuit auch alles andere als vorteilhaft wirken, ihr Verlobter Edgar ist untröstlich. So untröstlich, dass er ihr gar in den Tod folgen will. Bis er in einer opiumvernebelten Spelunke einen Tipp bekommt, wie sich die Erinnerung an die Geliebte buchstäblich aus dem Schädel saugen lässt.

So skurril das alles klingt und in vielen Momenten auch aussieht – "Edward Gants Bravourstücke der Einsamkeit" ist durchzogen von widerspenstiger Melancholie. Der britische Dramatiker und Regisseur Anthony Neilson hat ein Stück über wunde Seelen geschrieben, verpackt in einer verschachtelten Posse über die menschliche Sehnsucht nach Vervollständigung im Anderen. Verlorene Liebe, der Zynismus des irdischen Seins, die Häme des genetischen Glücksspiels: Viele große Themen stecken in diesem Stück um eine Theatertruppe im viktorianischen England, die Episoden von besonders großer Tragik auf die Bühne bringt.

Hingabe zum Klamauk
Auf der Cumberlandschen Bühne des Hannoveraner Schauspielhauses zieht die junge Regisseurin Juliane von Sivers das Stück mit unerschrockener Hingabe zum schnellen Effekt auf. Ein Kabinett des tapsigen Grauens tummelt sich da. Dabei beweist sie wahre Hingabe zum Klamauk. Was sieht die Regisseurin in Neilsons Werk? Oder: Was glaubt sie, wollte er Andere darin sehen lassen?

edwardgants2 560 isabel machado rios u"Dies ist keine Freakshow!" © Isabel Machado Rios

Recht leichthändig fängt das Ganze an. Auf einer breiten Treppe, die zur Bühne führt, findet das Intro statt. Edward Gant ist der Impresario dieser Theatertruppe mit drei Schauspielerin. Da ist der junge, attraktiv-androgyne Nicholas Ludd mit Tendenz zu Machtspielen mit dem Patriarchen. Camill Jammal spielt diese Figur mit einem Maximum an Intensität – nicht nur mit energetischer Charakterkunst, sondern auch als Musiker, der auf verschiedenen Instrumenten die Inszenierung illustriert. Nachdem er mit goldenem Kopfschmuck die Sonne verkörpert hat, setzt er sich ans Klavier und bereitet seinen beiden Kollegen den Auftritt. Die zarte Madame Poulet (Katja Gaudard) muss möglichst geschmeidig den Mond verkörpern und der Kriegsveteran Sergeant Jack Dearlove (Christoph Müller) kommt mit zwei Planeten, die an seinem massiven Körper befestigt sind, herein. Der Mars behindert ihn stark beim Gehen.

Seelische Auffälligkeiten
Da steht es nun, dieses Ensemble der Unvollkommenheit, das die Unvollkommenheit der Welt aufzeigen soll. "Das ist keine Freakshow!", ruft Gant. Dieter Hufschmidt zieht ihn mit moderater Selbstgerechtigkeit auf. Nein, hier geht es um die viel größere Show: die Tragödien des Lebens und der Bühne und wie die einen die anderen erträglicher machen – oder schlimmer. Nicht körperliche Auffälligkeiten werden hier ausgestellt, sondern seelische.

Es gelingt der Regisseurin ein Auftakt, der dieses große Versprechen ansatzweise einlöst: die Tragik in der Komik auszustellen. Doch die Wirkung schafft es nicht die Treppe hinauf, auch wenn im Hauptraum der große Budenzauber wartet. In zwei Stunden und drei Akten wird die Bühne immer wieder in neuen, turmartigen Fragmenten zusammen gesetzt, die Schauspieler erklimmen ihre Stufen als linkische Glückssucher und Schicksalswandler. Ein feiner, durchsichtiger Vorhang dient als Fläche für Videoprojektionen von oftmals poetischer Schönheit. Die Illusion von Dreidimensionalität entsteht. Sie greift das mehrschichtige Erzählen des Stücks auf. So wehen sanfte Schneeflocken vor dem Haus, in dem Gant die Geschichte um die junge Sanzonetta beginnt. In ihren monströsen Pickeln wachsen echte Perlen. 

Revolution für mehr Wirklichkeit
Alle Entscheidungen, die Raum und Bühne betreffen, sind gut. Da ist es umso tragischer, wie sehr das Ganze nach und nach im Orkus des Slapstick-Kitsches absäuft. Auch die Theater-im-Theater-Situation macht das nicht plausibel. Der indische Wunderheiler, den Edgar auf seinem Weg zum Vergessen aufsucht, spricht mit einem Dialekt, der jedem "Wolle-Rose-kaufen?"-Klischee gerecht wird. Und die Pickel von Sanzonetta singen mit hochrotem Kopf gemeinschaftlich ein Liedchen.

Das Stück endet schwer selbstreferentiell. Nicholas Ludd hat nach einem Textaussetzer eine traumatische Begegnung mit dem "Hängerphantom" – einem echten Plagegeist der Schauspieler – doch auch diese Episode ist wieder nur von Gant inszeniert. Ludd startet eine Art performative Revolution für mehr "Wirklichkeit" auf der Bühne. Doch die bleibt außen vor. Genau wie die wirkliche Tragik.    

Edward Gants Bravourstücke der Einsamkeit
von Anthony Neilson
Regie: Juliane von Sivers, Bühne: Christian Beck, Kostüme: Elke von Sivers, Video: Fraser Watson, Musik: Camill Jammal, Dramaturgie: Vivica Bocks.
Mit: Dieter Hufschmidt, Katja Gaudard, Camill Jammal, Christoph Müller.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

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