Es macht mir nichts aus

von Christian Rakow

April 2013. An einer heruntergekommenen Häuserecke steht Craig Bazan, leicht übergewichtig, in rotem T-Shirt und Zweidrittelhose: "Hi, my name is Craig Bazan, I'm from Camden, New Jersey, and I'll be doing the part of Hamlet, from the play 'Hamlet', written by Mr. William Shakespeare", sagt er schnell. Und dann stürzt er sich bebend in den Hamlet-Monolog (Akt II, Szene 2): "Now I am alone. O, what a rogue and peasant slave I am" ("Jetzt bin ich allein. Oh, welch ein Schurk und niedrer Sklav' ich bin.") Drei Minuten für die Ewigkeit, festgehalten für You Tube. Aus den Kommentaren brandet ihm der Applaus entgegen: "Bravo!!!!" – "Well done!" – "I love you. Keep it up, kid." Annähernd 500.000 Zugriffe hat der Clip, die erfolgreichste "Hamlet"-Performance im Internet.

Massenmagneten wie Craig Bazan, die gleichsam aus dem Hinterzimmer ins Rampenlicht der Netzöffentlichkeit treten, sind die Protagonisten in dieser panoramatischen Studie, mit der der Theaterwissenschaftler Ulf Otto 2011 an der Uni Hildesheim promovierte, und die nun im transcript-Verlag vorliegt: "Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien". Es ist ein Buch, das mit zahlreichen erhellenden Lektüren glänzt und zum Stöbern einlädt, zum Nachsurfen der diversen Online-Quellen.

cover internetauftritteWas ist ein Mensch?

In drei großen Analysekapiteln leuchtet Otto Untersuchungsfelder zur Theatralität im digitalen Kosmos aus: An frühen Versuchen des Internet-Theaters wie im Chatroom-Drama Hamnet schildert er die Wiederkehr des Karnevalesken und die Simulationen traditionellen Theaters. Eine längere Abteilung ist der Logik der Spielfigur (des Avatars) im Computer-Game gewidmet. Hier wird unter anderem das Bedeutungsgeflecht rund um eine Figur wie Lara Croft aus dem Action-Abenteuer Tomb Rider entwirrt und kühn, aber nachvollziehbar ein Bogen von Richard Wagners Gesamtkunstwerk-Konzept zum Online-Fantasy-Game World of Warcraft geschlagen.

Konzis zeichnet Otto nach, wie Ingenieure und Pioniere der Game Studies den Computer und das Computerspiel als Theater verstanden. Dabei deutet er auch an, dass die alte Differenz des bürgerlichen Schauspiels zwischen Selbst und Rolle in neuen Game-Formen zunehmend obsolet wird: "Mit dem Auftritt des Avatars wandelt sich nicht nur die Vorstellung von dem, was ein Mensch ist, sondern auch dieser Mensch selbst." Insofern sich der Spieler vollständig den digitalen Regeln anpasst, wird er zur Erweiterung der Maschine.

Ist das Theater?

Die Studie bleibt bei aller analytischen Distanz durchaus nicht unkritisch gegenüber solchen Entwicklungen. Das Ideal der Interaktivität, von dem Computerspiele getragen sind, diskutiert Otto als Bestandteil der Optimierung und Rundum-Aktivierung, wie sie die liberalistische "Kreativgesellschaft" (Andreas Reckwitz) abverlangt.

Eine finale Untersuchung widmet sich der Auflösung von traditionellen Persönlichkeitsschranken auf Homepages, Sozialen Plattformen und in Webcam-Phänomenen wie Lonelygirl15 oder JenniCam. Während die Jungmädchen-Inszenierung von Lonleygirl15 noch als Erbe bewährter Erzählstrategien erscheint, verkörpert Jennifer Ringley, die mit JenniCam Ende der 1990er Jahre ihren gesamten Alltag big-brother-artig abfilmte, den radikalen Entzug von Theatralität. Von ihr ist der schöne Satz überliefert: "I don't do it because I like to be watched but because I don't mind." (Ich mache es nicht, weil ich gern angeschaut werde, sondern weil es mir nichts ausmacht.)

In all dem ist das Buch auch eine Auseinandersetzung mit den Grundbegriffen der Theaterwissenschaft. Konzepte wie "Leiblichkeit" und "Ko-Präsenz" von Performer und Zuschauer werden als Basisgrößen des Theaters zwar nicht offensiv verabschiedet, aber doch relativiert und historisiert, als Effekte der Medienkonkurrenz. Denn erst wenn Aufnahmetechniken zur Verfügung stehen, entsteht überhaupt so etwas wie ein Wert der Echtzeit und des unmittelbaren Live-Moments. Das Theater, wie es die Theaterwissenschaft entwirft, ist praktisch Negation des Medienspektakels.

Welch Auftritt!

Otto selbst schließt eher an die neuere Theatralitätsforschung an, die mit theaterwissenschaftlichem Rüstzeug Inszenierungsweisen in diversen gesellschaftlichen Feldern untersucht. Zentral ist für ihn dabei der im Titel seines Werks apostrophierte Begriff des "Auftritts".

Ein "Auftritt" benötigt keine komplexe Inszenierung als Kontext. Er funktioniert auch punktuell als soziale Praxis, durch die eine Figur aus ihrer Umwelt hervor- und einem Publikum gegenübertritt, wobei dieser Akt eine rege Bedeutungserzeugung und Verbreitung auslöst. Von hier aus wird es Otto möglich, die diversen digitalen Bühnenereignisse als "Theater" zu beschreiben. Sie sind auf unterschiedlichste Weisen familienähnlich mit dem Theater, das man aus den Schauspielhäusern kennt.

Dass Ballungen von Fachsprache die Lektüre dieses Buches mitunter abbremsen, muss man bei universitären Qualifikationsschriften in Kauf nehmen. Der instruktiven Kraft tut das keinen Abbruch. Hier kartographiert jemand auf ungemein kenntnisreiche und inspirierende Weise ein faszinierendes Territorium.

Ulf Otto:
Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien
transcript Verlag, Bielefeld 2013, 324 Seiten, 29,80 Euro

 

Weitere Buchrezensionen gibt es hier. Mehr über Theaterauftritte in den neuen Medien finden Sie im nachtkritik.de-Eintrag Theater und Internet.

 

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