In der Schablonenfabrik

von Eva Biringer

Berlin, 27. April 2013. Im metaphorischen Sinn ist der Flughafen ein Platzhalter für die Unbehaustheit des modernen Menschen. Die Schauplätze von "Wastwater", dem vielfach ausgezeichneten Drama des britischen Autors Simon Stephens, liegen in unmittelbarer Nähe eines solchen "Nicht-Ortes" (in den Worten des Anthropologen Marc Augé): ein Hotelzimmer, eine Obstwiese und ein Lagerhaus in der Flughafenperipherie. Florian Lösches Bühne ist eine schräg abfallende Startrampe oder Landebahn, je nachdem. Eiskalte Neonröhren sind oft die einzige Lichtquelle. Wenn sie hektisch flackern, donnern Flugzeuge über die Bühne hinweg und erinnern die Menschen unter sich an ihr transitorisches Dasein.

Nicht Sterben! Okay.

Frieda und Harry: Scheinbar unaufgeregt lässt Frieda ihren Pflegesohn nach Kanada gehen, in Wahrheit bricht ihr der Abschied das Herz. Keines ihrer Kinder kehrte je zurück. Und auch Harry rechnet nur pflichtbewusst den Zeitunterschied für das anstehende Telefonat vor. Thorsten Hierse spielt diesen Harry als einen Berufsjugendlichen, die Hände entweder in der Trainingsjacke vergraben oder mit dem Smartphone beschäftigt (dieser Anblick von Leuten, die mitten im Gespräch ihre Emails checken, ist vertraut). Barbara Schnitzler, in Gummistiefeln und Gartenkluft, kontert als Frieda solche Unverschämtheiten mit einer Karotte im Mund (das Phallussymbol als unbesetzte Vaterstelle?) und spielt das verletzte Muttertier auch sonst von oben herab, als kommentiere sie sich permanent selbst. "Nicht sterben", sagt Frieda, "nie." "Okay", sagt Harry.

wastwater1 560 arno declair hInnerlichkeitstaucher: Das Ensemble des Deutschen Theaters Berlin erkundet die Untiefen des Wastwater. © Arno Declair

Lisa und Mark: Noch haben der Maler und die Polizistin nicht miteinander geschlafen. Sie ahnen, ihr Verhältnis wird alles ändern. Lisa (tänzelnd im Punktekleid: Susanne Wolff) ist erst ein Häuflein Unsicherheit, das um seinen frischen Atem fürchtet, bis sie mit dem Taschenaschenbecher in der Hand ihrem Gegenüber Geständnisse von Sex, Drugs und Demutsfantasien um die Ohren knallt. Mark (Moritz Grove mit den Händen in den Hosentaschen, das signalisiert Understatement!) wird immer stiller und holt dann im wahrsten Sinn des Wortes mit drei gezielten Ohrfeigen zum Gegenschlag aus. "Ich bin ein guter Mensch", sagt Mark. "Ich weiß", sagt Lisa, "ich auch."

Der tiefste See

Sian und Jonathan: Weil Jonathan und seine Frau auf legalem Weg keine Kinder adoptieren dürfen, beschafft Sian ein Mädchen von den Philippinen. Ihre Machtposition kostet Sian aus (schwacher Kontrast zum zitronengelben Kleid: Elisabeth Müller), indem sie einen sinnlosen Fragenkatalog durchgeht, der zum Trigger für Jonathans verschüttete Kindheitserinnerungen wird.

Als mit Abstand blasseste Figur des Abends passt Bernd Stempels Jonathan (eine Schlaftablette in Beamtenkostüm) gut in das Schema, das Simon Stephens all seinen Figuren überstülpt: Am Liebsten versinken sie in ihrer Innerlichkeit wie die Leichen im Wastwater-See. Der Titel des Stücks nämlich verweist auf den tiefsten See in Großbritannien, was für den Fortgang der Handlung allerdings so irrelevant ist wie die Knotenpunkte zwischen den Figuren. Warum Jonathan Mark mal eine runtergehauen hat interessiert so wenig wie der Umstand, dass Harrys toter Freund ein Schüler von Mark war.

(K)ein well-made play

Simon Stephens' Drama möchte das sein, was man kunstvoll verstrickt nennt und doch: Die Koinzidenzen wirken bemüht und beliebig zugleich. Allen Figuren gemein sind ihre Bastelneurosen und eine Haltung zwischen Fatalismus und Melancholie. An Ulrich Matthes' behutsamer Regie liegt die laue Bühnenwirkung nicht. Matthes hält sich eng an die Vorlage und lässt dem Ensemble doch den Raum, sich abzuarbeiten – an sich selbst wohlgemerkt, nicht am Gegenüber.

Entspricht "Wastwater" möglicherweise der Vorstellung eines zeitgenössischen well-made plays oder warum wurde es 2011 zum besten ausländischen Stück des Jahres gewählt? In seinem Bemühen um Originalität und darum, Schablonen zu vermeiden, ist Stephens' Drama genau das: eine Schablonenfabrik. Alle Figuren scheinen auf der Couch zu liegen und die Flugzeuge über sich kreisen zu sehen. Für uns Zuschauer bleiben die Flugzeuge unsichtbar.


Wastwater
von Simon Stephens
Deutsch von Barbara Christ
Regie: Ulrich Matthes, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Pauline Hüners, Musik: Thies Mynther Licht: Dramaturgie: Ulrich Beck.
Mit: Barbara Schnitzler, Thorsten Hierse, Susanne Wolff, Moritz Grove, Elisabeth Müller, Bernd Stempel, Luca Nourozi, Collien Noack.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Ulrich Matthes auf der Bühne gab es in dieser Saison in Das Himbeerreich (Regie: Andreas Veiel) und Ödipus Stadt (Regie: Stephan Kimmig).


Kritikenrundschau

Im Tagesspiegel (29.4.2013) schüttelt Andreas Schäfer den Kopf über die "viel zu vielen Leichen und Schrecklichkeiten, die der überambitionierte Autor seinen Figuren in die Backstories geschrieben hat". Bei Stephens dürften Figuren eben nicht Figuren sein, sondern "müssen auch superkrasse Vergangenheiten, hochglanzpolierte Firstclass-Traumatisierungen mit sich herumschleppen, die durch ihre Klischeehaftigkeit auch noch doppelt wiegen". In Ulrich Matthes' Umsetzung im DT entdeckt er dagegen eine "Tschechow-Verlorenheit". Die Regie sei "zurückhaltend, aber präzise". Matthes und das Ensemble "unterstreichen das Vorsichtige und Tastende, die Angst vor Zurückweisung".

Auch Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (29.4.2013) widmet den Großteil seiner Kritik dem Text von Simon Stephens mit den "drei handlungsarmen und wortreichen" Dialogen. Über die Inszenierung heißt es: "Die DT-Recken spielen mit der gebotenen Bravour Individualisten-Pingpong, die Kommunikation läuft heiß und leer zugleich." Matthes habe "sie auf Abstand arrangiert und ihnen Mikroports ins Gesicht kleben lassen, auf dass das feine Menschendarstellereibesteck geräuschlich zur goutierbaren Geltung kommt". Er verzichte als Regisseur "auf die Brutalitäten und Abgründe, die das Stück erlauben würde", und zeige es "als literarische Fingerübung, sauber, gekonnt, zurückgenommen und durchaus harmlos vom Blatt inszeniert".

"Der Titel 'Wastwater' bezieht sich auf den tiefsten See Englands, auf dessen Grund viele Leichen liegen sollen. Entsprechend hat das Personal des Stücks Leichen im Keller", sagt Ute Büsing auf Inforadio (29.4.2013) und konzentriert sich in ähnlicher Weise ganz auf den Stücktext. "Ulrich Matthes als Regisseur folgt der sehr bewusst konstruierten Vorlage mit viel Empathie für diese transitorischen Menschen, deren dunkle Seiten einem doch nicht so richtig ans Herz greifen."

Regisseur Ulrich Matthes habe Stephens' Szenen weitgehend ihre Härte genommen. "Es ist eine sensible Inszenierung, die sonst menschliche Beziehungsversuche zwischen Nähe, Angst, Zuneigung und Unsicherheit sehr genau auslotet", bilanziert Hartmut Krug im Deutschlandradio Fazit (27.4.2013). "Ganz aber kann auch diese handwerklich ungemein solide Inszenierung nicht überspielen, dass die Figuren weder psychologisch noch emotional genau entwickelt sind, sondern eher als Funktionsträger in einem Bedeutungs-Andeutungskonstrukt fungieren." Ulrich Matthes habe sich insgesamt zwar nicht als eine große neue Regiebegabung aufgedrängt, "doch er hat bewiesen, dass er Schauspieler in doppeltem Wortsinn sehr schön bewegen kann."

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