Mein Bruder, der Selbstmordattentäter

von Ralph Gambihler

Dresden, 12. Dezember 2007. Im deutschsprachigen Theater ist eine neue Antigone-Adaption anzuzeigen. Sie stammt aus der Feder von Yael Ronen, einer jungen israelischen Autorin, die mit ihrer Version des Mythos einen großen Sprung über Jahrtausende wagt, nämlich den aus der griechischen Antike in den islamistischen Terror unserer Tage. Und wie gesprungen wird? Vehement!

Die Figurenkonstellation samt Konfliktmuster hat die 1976 geborene Ronen zwar von Sophokles übernommen. Neu sind aber sowohl Text als auch Kontext. Die Ödipustochter Antigone muss man sich dabei als eine junge Frau mit Migrationshintergrund vorstellen. Ihre Großeltern kamen einst als Gastarbeiter aus der Türkei in ein unbenanntes westeuropäisches Land (zum Beispiel nach Deutschland), in dem sich die Tragödie nun abspielt.

Hübsch parallelisiert
Die Enkelin ist, könnte man sagen, maximal assimiliert. Sie gehört zur Familie des Premierministers Kreon und soll bald dessen Schwiegertochter werden. Allerdings gerät sie durch eine Extremsituation in einen Drift zwischen den Kulturen.

Ein Selbstmordattentäter hat einen "heimtückischen Anschlag" auf den Staat verübt. Es war, wie sich herausstellt, Antigones Bruder Polyneikes. Kreon erklärt den Ausnahmezustand, beschwört den Krieg gegen den Terror und verweigert Polyneikes (wie im Original) ein Begräbnis. Stattdessen will er (abweichend vom Original) den Leichnam ausstopfen und als Mahnmal aufstellen lassen. Dagegen rebelliert Antigone – und wird zum Politikum.

Der Aktualisierungseifer der Autorin ist kaum zu übersehen. Gleichwohl hat die Uraufführung am Staatsschauspiel Dresden durch Yael Ronen selbst nicht den Eindruck vermittelt, dass dem Stoff Gewalt angetan würde. Es geht alles relativ glatt über die Bühne. Original und Adaption sind hübsch parallelisiert und liegen doch so weit auseinander, dass man nicht ständig über Sophokles stolpert.

Ein erweiterter Konflikt
Auf zeigefingernde Verknüpfungen via Zitat hat Ronen verzichtet. Korrespondenzen zwischen Original und Neuschöpfung stellen sich auch so ein. Und wenn dann doch einmal eine "Stelle" aus dem 2400 Jahre alten Urtext durchbricht, schwingt eine universale Begleitmusik mit: "Nicht zu hassen, zu lieben bin ich da", sagt nun auch die halbe Moslem-Antigone. Man glaubt es ihr aufs Wort.

Andererseits: Wo ist die Fallhöhe in diesem Drama geblieben? Wo die Wucht, zumal bei dieser thematischen Brisanz? Die 65 Minuten kurze, am Premierenabend beifällig aufgenommene Inszenierung entlässt die Zuschauer jedenfalls ohne größere Erschütterungen.

In "normaler" Sprache, bildarm und garantiert keimfrei, wird ein klassischer Konflikt, göttliches Gebot gegen Staatsräson, um einen modernen erweitert: Wie viel Freiheit und Demokratie opfern wir zur Verteidigung von Freiheit und Demokratie?

Kluge Köpfe in Eis
Die Leidenschaft bleibt dabei tendenziell auf der Strecke. Oder wird von den Figuren absorbiert, die alles in allem eher Träger von Ideen als Menschen aus Fleisch und Blut sind – das gut agierende Ensemble kann darüber nicht hinweg spielen.

Die Bühne von Heike Schuppelius ist spärlich möbliert. Sie zeigt eine arenahafte Situation zwischen zwei Zuschauerblöcken. Auf einer Seite schmelzen, im Spalier aufgereiht, antike Artefakte vor sich hin: ein Torso und diverse kluge Köpfe, die für jede Vorstellung aus echtem Eis angefertigt werden müssen. Von oben tröpfeln derweil die Tropfen der Vergänglichkeit in das Machtzentrum herein, das die Bühne darstellt.

Hier herrscht Kreon, ein staatsmännisch sich Gebender mit Bügelfaltenhose und akkurat gescheiteltem Haar (Philipp Lux). Ein Machtmensch, der keine Minute ohne seinen Berater sein kann. Selbst beim Abendessen im Kreis der Lieben sitzt der Herr vom Thinktank mit am Tisch (Sebastian Kuschmann).

Eine Ikone des Widerstands
Die einbrechende Wirklichkeit wirkt in dieser kühlen Kammer nicht so hitzig und befremdlich wie beabsichtigt. Per Videoprojektion quillt sie herein, mit allerhand medialem Rauschen und den sattsam bekannten Loops aus dem Nirwana der immer neuen Nachrichten.

Fazit: Yael Ronens Sicht bleibt, bei aller Modernisierung und Bedeutungsverschiebung, klassisch. Ihre Antigone ist wie ehedem eine Ikone des Widerstands, eine Provokation für die Macht in den Zeiten der Hybris, eben eine Heldin.

Allerdings steht sie nicht mehr auf dem Sockel höherer Gebote und Ideale, sondern auf dem Boden ihrer interkulturellen Prägung und Identität. Sie gehorcht sich selbst, nicht den Göttern. Das kann Anya Fischer in der Titelpartie genau zeigen, wenn sie mit ihrer ernsten, jungen Frau im modischen Wollkleid immer wieder an den Punkt der Beharrung zurückkehrt.

 

Antigone
Yael Ronen nach Sophokles, Uraufführung
Deutsche Textfassung von Nina Steinhilber
Regie: Yael Ronen, Bühne: Heike Schuppelius, Video und Kostüm: Isabel Robson, Kostüm: Amit Epstein, Musik: Harald Thiemann. Mit: Anya Fischer, Philipp Lux, Sebastian Kuschmann, Caroline Hanke, Seán Diarmùid McDonagh, Friederike Tiefenbacher, Hans-Christian Seeger, Udi Aloni.

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

Regisseurin Ronen und ihre Schauspieler entfalteten einen "hoch spannenden Konflikt, der sich nicht mit einfachen Antworten" begnüge, schreibt Katja Solbrig in der Sächsischen Zeitung (14.12.2007). "Das Spiel ist atemberaubend ohne hektisch zu sein". Hier werde "kein israelisch-palästinensischer Konflikt behandelt", sondern einer, "in dem es um Demokratie in Zeiten von Autobomben und um Integration in Zeiten der Krise" gehe. Diese "Verhandlung über die Ungeheuerlichkeit Mensch" habe das Premierenpublikum mit lang anhaltendem Applaus bedacht.

Fast möge es, schreibt Thomas Petzold in den Dresdner Neuesten Nachrichten (14.12.2007), auch heute noch so scheinen, als ob die Götter noch immer ihr "undurchschaubares Wesen trieben, angesichts vieler, scheinbar jeder Vernunft Hohn sprechender Konflikte, die von einem unheilvollen Gemisch allzu menschlicher, natürlicher und irrationaler Interessen bestimmt" seien. Wie sich auf der Bühne Kreon der "äußeren Zustimmung seiner Landsleute versichern" wolle, käme einem "aus früheren Zeiten schwer bekannt vor, währen Antigones Widerstand  gegen eine "verordnete Burgfrieden-Harmonie" wirke, "als sei sie eben nicht ganz von dieser Welt". Das sei "provokant, nicht unbedingt plausibel". Oft klängen die Dialoge "merkwürdig nach hohlem Polittheater, das zwar die Parodie glücklich vermeidet, aber am Ende der Farce doch sehr nahe kommt". Alle menschlichen Regungen verhallten da folgenlos. Aber vielleicht "soll, ja muss das auch so sein".

 

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