Kalt war der Weg durch's Feuer

von Sabine Leucht

München, 5. Mai 2013. Ihn interessiere, schrieb Heiner Müller 1973, an dieser Geschichte "das Feuer, nicht die Asche. Ich wäre froh, wenn 'Zement' begriffen würde als Beitrag gegen die politische Weltverschmutzung durch antisowjetische Propaganda; die Darstellung der Kämpfe und Mühen von gestern als eine Ermutigung im heutigen Klassenkampf". Diese Möglichkeit auch nur einzuräumen, fällt schon bei der Lektüre des selten gespielten Stückes schwer.

Aus den Zeiten der russischen Revolution

Müllers Dramatisierung eines Romans von Fjodor Gladkow aus dem Jahr 1925 behandelt die Geschichte der russischen Revolution. Mit dem Fokus auf Einzelschicksalen wie dem des heimgekehrten Bürgerkriegshelden und Schlossers Gleb Tschumalow, der seine Zementfabrik von Rost und Ziegen übernommen vorfindet und seine brave Frau Dascha zur eisernen Kämpferin für die Sache verwandelt, die Kind und heimischen Blumenschmuck gegen das neue Gefängnis der Ideologie eingetauscht hat. Was nun folgt, ist der Konsolidierungs-Kater nach dem Befreiungs-Rausch, das ganze schmutzig-miese Paket, das einen nur überrascht, wenn man vergisst, dass die Menschen selbst es sind, die jedwedem System ein Machtgefälle verpassen – und dass der Hunger ihre Güte nicht nährt.

zement 560 armin smailovic uSebastian Blomberg als Gleb Tschumalow hinter der Armee der Toten © Armin Smailovic

Und nun nimmt Dimiter Gotscheff dieses Trumm von Text, in dem etliche knappe, kluge Sätze von Verlautbarungsprosa, Sexualkitsch und Pathos fast überwuchert werden, in dem es Müller-typische Einschübe aus der griechischen Mythologie gibt, tapfere Revolutionäre wegen Lappalien hingerichtet werden und Bürgersöhne ihre Eltern enteignen und aus lauter Angst, dass das zur Rehabilitation noch nicht genügt, lautstark nach einer Terrorherrschaft rufen.

Hoher Tragödienton

Gotscheff nimmt also diesen Text, weil er praktisch immer mit einem Müller-Text schwanger geht, weil Martin Kušej "ja" gesagt hat zu "Zement" (wie Castorf seit 20 Jahren nicht) und außerdem zwei von Gotscheffs Lieblingsschauspielern in seinem Ensemble sind. Also hat der bulgarische Regisseur inszeniert: am Residenztheater, über seinen siebzigsten Geburtstag hinweg und zum allerersten Mal in München.

Und nach den vier Stunden, die die Premiere wegen eines Problems mit der Bühnenmechanik gedauert hat, ist man hin und her gerissen: Ja, es gibt beeindruckende Momente an diesem Abend – da wo er ganz sparsam ist oder ganz wuchtig. Etwa der liebliche Gesang des toten Kindes der Tschumalows, der sich zu einem hohen Tragödienton aufschwingt: Allein und klein steht Valery Tscheplanowa in Ezio Toffoluttis großem, hellem Raum. Noch bevor sich zehn gekalkte Gestalten mit verbundenen Gesichtern, dargestellt von Schauspiel-Eleven der Otto Falckenberg Schule und der Bayerischen Theaterakademie August Everding, aus Schlitzen im rückwärtigen Vorhang hinausschieben und fortan als individuell choreografierte Armee der Toten das Geschehen begleiten oder als Schreibmaschinentasten im Bühnenzentrum herumhoppeln (bis der Boden nachgibt).

Das letzte Alphabet

Anrührend ist jene Stelle, wie der zum Tode verurteilte Makar mit seinem Vollstrecker noch einmal das Alphabet übt – und auch einiges von dem, was Sebastian Blomberg und Bibiana Beglau spielen. Die Gotscheff-Vertrauten haben die Rollen von Gleb und Dascha inne. Er ist ein mutiger, manchmal kindischer Riese, der einen Steinbrocken mit sich herumschleppt wie Sisyphus und seiner Süßen den Lohn abpressen will für drei Jahre Kampf. Doch seine Sprüche – "Wer fragt das Pferd, wann es geritten werden will?" – zünden nicht mehr bei der mageren Gestalt in Männerschuhen, deren Stimme rau und monoton geworden ist vom Schweigen, von Vergewaltigungen und einer Art sexueller Seelsorge.

Steif und in sich selbst verkantet geht Beglau die Rampe auf und ab, sagt "kalt war der Weg durch's Feuer" – und dennoch, und das ist der einzige wirklich utopische Moment in der Inszenierung, schwingt sich diese verfahrene Situation noch zu einer kleinen, albernen Fast-Liebesszene auf.

Fast ein Müller-Gottesdienst

Gotscheff hat den Abend zwar mit der singenden Toten gerahmt, die auch die Erzählebenen zu Herakles und Prometheus aufschließt (die anderen sind gekappt). Aus ihrer Perspektive erzählt er deswegen aber trotzdem nicht, sondern lässt über weite Strecken fast jedes Wort aufsagen, das Müller aufgeschrieben hat. Ja, der Schluss ist anders, obwohl man es hier mit einem auch stilistisch kunterbunten Sammelsurium denkbarer Schlüsse zu tun hat. Die todesverliebte Polja und der anerkennungssüchtige Iwagin stecken sich nach ihrem Parteiausschluss ihre zu Pistolen gekrümmten Zeigefinger in den Mund und versinken im Boden. Die Armee der Toten nimmt die Masken ab und bemalt die langsam in die Senkrechte hinauffahrende Rampe, bis auch der Letzte hinuntergepurzelt ist. Dann gibt es wieder unendlich wirkende Monologe an der Rampe mit viel Armgewedel über Schulterhöhe.

zement5 560 arminsmailovic uKämpfe auf abschüssigem Grund: Sebastian Blomberg als Gleb und Bibliana Beglau als Dascha Tschumalow © Armin Smailovic

Der Abend ist lang, sehr lang – und er ist einem Müller-Gottesdienst näher als einem Arbeitsausflug in einen Wörter-"Steinbruch", wie Gotscheff den Text im Vorfeld wiederholt genannt hat. Er hätte darin viel stärker wüten können, ohne die Architektur der einander verstärkenden und kommentierenden Szenen zu beschädigen. Einzelne Sätze oder Passagen aus dem einschüchternden Redeschwall zu retten und um sie herum ein Schweigen stehen zu lassen, für das der Bulgare doch auch berühmt sein soll – das wäre was gewesen. So muss man selbst retten und festhalten, was einem etwas sagt, und dort wieder abschweifen, eine unverständliche Verkasperung übersehen oder ein von Bedeutsamkeit triefendes, mit bebender Brust vorgebrachtes "Zement"-Fragment. Das mit dem Steinbruch kann man demnach auch als Arbeitsauftrag für den Zuschauer auffassen. Material dafür gibt's genug.


Zement
von Heiner Müller
Regie: Dimiter Gotscheff, Bühne und Kostüme: Ezio Toffolutti, Musik: Sandy Lopicic, Licht: Gerrit Jurda, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Valery Tscheplanowa, Sebastian Blomberg, Bibiana Beglau, Aurel Manthei, Lukas Turtur, Genija Rykova, Paul Wolff-Plottegg, Götz Argus, Robert Niemann, Lena Eikenbusch, Jonas Grundner-Culemann, Thomas Hauser, Ines Hollinger, Lukas Hupfeld, Johanna Küsters, James Newton, Klara Pfeiffer, Philipp Reinhardt, Anna Sophie Schindler, Benjamin Schroeder, Jeff Wilbusch.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.residenztheater.de


Um Heiner Müllers Werk kümmerten sich neben Dimiter Gotscheff (dazu alles im nachtkritik.de-Lexikon) zuletzt auch Christopher Rüping in Jena mit Anatomie Titus Fall of Rome, Klaus Gehre in Freiburg mit Wolokolamsker Chaussee +/- Terminator oder Nuran David Calis in Stuttgart mit Der Auftrag.

Kritikenrundschau

"All die langen, pathosschwangeren Texte Müllers zu Revolution und Geschichte wirken heute seltsam hohl", konstatiert Hartmut Krug im Deutschlandradio Fazit (5.5.2013). Und fragt sich: "Warum nur dieser 'Zement' heute? Warum nur wird Müllers prasselnde, männliche Bedeutungsprosa, die neben einigen tollen Sentenzen doch so viel peinlich pathetisches Gerede enthält, so ausführlich vorgetragen?" Man stöhne innerlich und versuche genervt, sich an die andere Ebene des Stücks zu halten, die das Lied von der Emanzipation der Frau zum selbstbestimmten Menschen zu singen versucht. "Die suchenden Streitszenen zwischen Dascha und Gleb sind, bei all ihrer Plakativität und deutlich theoretischen Ausgedachtheit, schauspielerische Höhepunkte eines enorm zähen und angestrengten Abends." Aber dann stelze ebendieser Abend immer wieder in Müllers und seiner eigenen Bedeutsamkeit vor sich hin.

"Valery Tscheplanowa zeigt leibhaftig wie zart eine starke Bühnenpräsenz sein kann und liefert damit eine der großen Schauspielerleistungen an diesem Abend", lobt Sven Ricklefs im Deutschlandfunk (6.5.2013). Bei Gotscheff und Müller sei THEATER angesagt, "gleichsam in Großbuchstaben, mit allem Mut zur Wucht, zum großen Schrecken und zur großen Geste". Am schönsten seien dabei "die Szenen zwischen Dascha und Gleb, zwischen Bibiana Beglau und dem als sensibler Revolutionsmacho daherkommenden Sebastian Blomberg, die dem ganz in Müllermanier in Wort und Gestus aufgeblasenen Geschichtspanorama das menschliche Gesicht verleihen: diese ganz privaten Szenen über Liebe und Beziehung und Geschlechterkonstellation in Zeiten von Revolution und ideologisch verordneter Gleichberechtigung". Doch wenn Heiner Müller, so scheine Regisseur Dimiter Gotscheff immer wieder zu sagen, wenn Heiner Müller, dann ganz. "Und so verliert sich die Inszenierung schließlich im langatmigen Aufriss von Revolutionsgeschichte, an dem man beim Zuschauen nur mühsam das Interesse aufrechterhalten kann."

"Handwerklich und schauspielerisch brillant" findet Gabriella Lorenz den Abend und schreibt in der Abendzeitung München (6.5.2013): "Die Szenen der Wiederbegegnung und der Enthüllungen Daschas über ihre Erlebnisse machen Sebastian Blomberg und Bibiana Beglau zu den stärksten des Abends. Beide umkreisen sich mit atemberaubender Körperspannung und machen das abgestandene Textpathos erträglich." Der zweite Teil verläppere sich dann aber endlos zwischen Parteidoktrin und beginnenden Säuberungen, der die glühende, schießwütige Revolutionärin und der Intellektuelle Iwagin (Lukas Turtur) zum Opfer fallen. "Nicht nur bei ihrem Monolog-Duett hätte man mit weniger Ehrfurcht vor Müllers Dichterwort drastisch kürzen können." Zwei berührende Szenen spiele Robert Niemann als Todeskandidat und dekadenter Klassenfeind. "Trotz Gotscheffs unerschütterlichem Glauben ist 'Zement' heute nur noch Geschichtsunterricht."

"So sperrig und befremdlich sich das Stück von Heiner Müller über die frühen Jahre der Sowjetmacht auch ausnehmen mag - die Inszenierung von Dimiter Gotscheff ist in ihrer Ernsthaftigkeit, Konzentration und Schwere ein großer, wenn auch zu ehrfurchtsvoll lang geratener Theaterabend", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (7.5.2013). Ein Abend, der zum Zuhören zwingt und der Sprache – der Schönheit von Sprache, der Beweg- und Suggestivkraft von Sprache, der Brillanz der Müllerschen Sprache – gebührend Platz einräume. "Die Bühne als Denk- und ein bisschen auch als Andachtsraum." Und "schauspielerisch ist das ohnehin ein weitgehend hervorragender Abend." Besonders gelobt werden Valery Tscheplanowa "sagenhaft intensiv", "eine großartige Sprecherin", die "fabelhafte" Bibiana Beglau und ein "aberwitziger Auftritt" von Lukas Turtur.

Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.5.2013) zeigt sich impressioniert von der Gotscheff-Müller-Kunst: Gespielt werde "erstaunlich leichtfüßig in den klobigen Stiefeln, komisch zuweilen und nicht selten poetisch, ja: sozialromantisch". Mit Hilfe eines "durchweg beeindruckenden Ensembles" gelinge dem "ergebenen Müller-Botschafter" ein "merkenswertes Stück Kunst". Auf der "weiten, hohen, freien Bühne" des Residenztheaters: ein "Gefängnis ohne Mauern". Und zwischen den "kalkweißgrau verhangenen Wänden" stehe, trotz aller Mühen und Verbrechen, "zuweilen ein Gefühl der kindlichen Unschuld und Reinheit", weil Gotscheff das "handlungslose Töchterchen von Gleb und Dascha zur allwissenden Beobachterin des Abends" erhebe. Mit "hohem Anteil an Pathos und großen Gesten" zeige sich "Zement" in München als "monumentales Theatererlebnis - wie aus einer längst vergangenen Zeit".

Gotscheff eröffne einen "Höllenraum der Conditio humana", schreibt Paul Jandl auf Welt-Online (13.5.2013). "Er lässt den Text Locken drehen auf dem Kopf der Ideologen, um sich andererseits ganz der Wucht der Sprache zu überlassen. Die muss so hart sein wie der Säuberungsbefehlston der Apparatschiks und dabei so brechend zart wie die Lage der Menschen in den Hungerjahren des kommunistischen Projekts." Gotscheff sorge auf diese Weisse dafür, dass aus dem russischen Revolutionsstoff "keine Klamotte zum Fortgang einer Revolution wird, über die sich die Geschichte ohnehin schon hinweggesetzt hat, sondern großes Menschheitsdrama".

Zum Gastspiel der Inszenierung beim Berliner Theaterreffen 2014 schreibt Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel (3.5.2014) ...

... und Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (4.5.2014).

 

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