Das Prinzip Arbeit

von Hermann Beil

Berlin, 5. Mai 2013. Stellen wir uns vor, ein Dramaturg fragt Jürgen Holtz: "IST DIE KUNST NÜTZLICH?"

Und Jürgen Holtz würde auf diese Frage ganz lakonisch mit einen trockenen "JA" antworten.

Und stellen wir uns vor, der Dramaturg fragt naturgemäß nach "WARUM?", so würde Holtz ganz gewiß mit einem hintersinnigen Lächeln ebenso lapidar sagen: "WEIL SIE KUNST IST!"

Wie aber kommt Jürgen Holtz zu dieser Gewissheit, fragt sich nun der Dramaturg. Er kommt zu dieser Gewißheit, weil er ein absoluter Schauspieler ist und zugleich viel mehr als ein absoluter Schauspieler – er spielt seine Rollen nicht der Wirkung wegen, er spielt sie um ihrer Botschaft an die Menschen willen! Und obendrein ist er das, was Goethe einmal beiläufig als Schauspielkunst definiert hat, er ist ein "phantastischer Riesengott".

juergen-holtz 560 gezett.deJürgen Holtz, geehrt mit dem Berliner Theaterpreis 2013. © gezett.de

Schöpferische Selbstzweifel, keine Selbstzufriedenheit

Jedenfalls er ist nützlich für die Kunst. Mehr als 60 Jahre übt Jürgen Holtz sich schon in der Erkundung dieser göttlichen Kunst des Erschaffens. Auch seine Selbstzweifel sind schöpferischer Natur, seine permanenten Zweifel an der Berechtigung von Theaterstücken und Theater überhaupt sind gerade der Beweis ihrer Berechtigung. So wird auch jedes Gespräch mit ihm naturgemäß zu einem philosophischen Diskurs. Das mag man fürchten und doch lohnt es sich immer, es weitet den Horizont, es ermuntert und beflügelt.

Selbstzufriedenheit ist seine Sache nicht. Das Dichterwort, das Theaterstück, der szenische Vorgang, die inszenatorischen Probleme – das alles rumort in Jürgen Holtz, so lange, bis es – nicht dumpf, sondern befreiend – explodiert, bis es wie ein gedanklicher Lavastrom sich über die Bühne ergießt, bis er die Sache scharf und genau auf den Punkt gebracht hat. Das Nachdenken macht sein Spiel nicht grüblerisch oder kopflastig. Sein Spiel ist hellsichtig und nicht ohne Grazie. Seine Komödiantik ist auch durch seine vis comica unwiderstehlich, ja herzerwärmend, weil sie uns erleben läßt, dass LACHEN eine besondere Form der Erkenntnis ist. Vielleicht die schönste Form, zumindest die fröhlichste. Und sein Schweigen auf der Bühne hat Jahrhunderte im Schlepptau.

Das Wissen ums Dunkel und die große Kälte

Die großen Rollen seines Anfangs in Greifswald mit den Regisseuren Adolf Dresen und B. K. Tragelehn, Macheath, Schwejk, Volpone, Hamlet, markieren jene Ebene, die Jürgen Holtz nie verlassen hat, vielmehr souverän und beharrlich im künstlerischen Anspruch ganz selbstverständlich einnimmt. Firs, Schigolch, Queen Elizabeth I. und Queen Elizabeth II. zeigen uns jetzt am BE, wie sich seine Schauspielkunst zu ganz besonderen Figuren zu kristallisieren vermag.

Am BE hat Jürgen Holtz schon einmal (zusammen mit Jutta Hoffmann, Einar Schleef und B. K. Tragelehn in Strindbergs "Fräulein Julie") Theatergeschichte geschrieben. In einem DDR-Lexikon stand damals über Holtz zu lesen: "Gestalterisch außergewöhnlich ausgeprägter Schauspieler, dessen Darstellungen sich durch hohe Intelligenz und konzentrierte Genauigkeit, vielfach durch Kalkül des Details auszeichnen!" Und dennoch hinderte dieser positive Lexikoneintrag keineswegs die politische Geschmackspolizei der DDR am Verbot von "Fräulein Julie" nach nur 10 Vorstellungen, obwohl die Lexikonwürdigung eigentlich einer amtlichen Bestätigung gleichkam.

Theatergeschichte und zugleich Theatergegenwart ist auch sein Bettlerkönig Peachum, spielte er doch diese Brecht-Figur immer wieder und immer wieder neu, in Köln, Frankfurt und nun seit 6 Jahren am BE in Robert Wilsons Dreigroschenoper-Inszenierung. Wenn Jürgen Holtz im Choral der Ärmsten der Armen uns alle mahnt: "Bedenkt das Dunkel und die große Kälte / In diesem Tale, das von Jammer schallt", dann weiß er in der Tat, um was es geht. Er hat es erlebt, er hat es erfahren. Er hat es erlebt und erfahren in Ost und West, auch mit Stücken und Aufführungen, die unterdrückt oder bekämpft worden sind, und in Zusammenarbeit mit Autoren und Regisseuren, die Schikanen, Verboten oder verständnislos hämisch prügelnder Kritik ausgesetzt waren.

In diesem Sinne ist er für mich ein unglaublich authentischer deutsch-deutscher Schauspieler. Ein Schauspieler als Zeitgenosse, als ein hellwacher, aktiver Zeitgenosse wohlgemerkt. Sein Rollenverzeichnis allein ist schon ein aufregendes zeitgeschichtliches Dokument. Und seine Engagements an über 20 Theatern in Ost und West gleichen einer Theaterodyssee, bei der er freilich den Kompass nie verloren hat, den Kompass für künstlerischen Sinn, für künstlerische Wahrhaftigkeit und künstlerische Notwendigkeit.

Zerreißproben und Notwendigkeit

In dem dramatischen Riesenpanorama von Peter Steins Wallenstein-Inszenierung in der Kindl-Halle zu Neukölln wuchs die Rolle des Buttler durch Jürgen Holtz zum wahren tragischen Gegenspieler von Klaus Maria Brandauers Wallenstein und damit zu einer Darstellung von unabweisbarer Notwendigkeit. Holtz vermochte der großen Form Sprache und Seele zu geben und uns als Zuschauer in die Zerreißproben seiner Schiller-Figur hineinzuziehen. Ja, die Qualen seiner Figur wurden auch unsere Qualen und wir – wir mußten gleichsam mitentscheiden.

Aber wie schafft solch wundersamen Vorgang dieser Jürgen Holtz? Wie vermag er zum Beispiel bildermächtigen Bühnenräumen von Erich Wonder standzuhalten wie in Bochum in Heiner Müllers "Auftrag"-Inszenierung? Oder nur mit einem einzigen stummen Gang über die Bühne eine ganze Erzählung anzubieten? Wie also gelingt ihm immer wieder die Verwandlung von Bühne und Zuschauerraum zu einem gemeinsamen großen Atem?

Vielleicht ist das alles viel einfacher, als wir klugen Leute es uns denken mögen. Es gelingt, weil Jürgen Holtz dem Dichter vertraut, und seinen Figuren unablässig nachforscht. Und – er läßt uns teilhaben an seinem Spiel. Die Teilhabe ist möglich, weil Holtz uneitel spielt, er spielt mit Lust, aber völlig uneitel. Sein Mann im Fahrstuhl in Heiner Müllers "Auftrag" ist gerade nicht eine Virtuosennummer, sondern der existentielle Befund, dass in einem Menschen mehrere Epochen und Orte gleichermaßen virulent sein können.

Ein Prinzip und ein Witz

Karl Kraus' poetische Generalabrechnung mit den hochmögenden Berliner Theatersitten und Theatermoden ist nicht nur historisch amüsant-interessant. Dieser Zornesausbruch in Versform – "alle Maße sind verschoben, groß ist klein und kurz ist lang" – mag sogar, von Zeit zu Zeit, immer noch zutreffend erscheinen und in den fünf Jahrzehnten des Berliner Theatertreffens – seien wir doch ehrlich! – gab es manch köstliches Beispiel für die andauernde Richtigkeit seiner einstigen Beobachtungen. Jürgen Holtz hingegen ist davon in jedem Fall und jederzeit auszunehmen. Dieser Schauspieler zertrampelt keine Worte und Sätze und nie und nimmer würde er aus einer komplexen Figur eine plumpe Missgestalt machen. Davor bewahrt ihn sein Wissen um, seine Freude an dichterischer Erfindung, die allein darzustellen schon alle Verantwortung und Anstrengung einfordert.

Was also ist nun der geheime Grund oder das PRINZIP HOLTZ?

"Ich bin Künstler. Ich arbeite", sagte er kürzlich in der Frankfurter Rundschau über sich selbst. Sein Prinzip ist Arbeit, ganz einfach die genaue Arbeit. In der Arbeit drückt sich seine Sehnsucht nach Vollendung aus. Und durch Arbeit gelingt ihm diese Vollendung. Eine Vollendung, bei der alle Widersprüche eben nicht verschwinden, sie wirken vielmehr weiter und leuchten.

Und wenn Sie, sehr verehrte Damen und Herren, und Sie, liebe Theaterkollegen, es ganz genau wissen wollen, so empfiehlt Ihnen der Dramaturg, schauen sie bitte bei Youtube nach, erleben Sie, wie Jürgen Holtz einen Witz erzählt!

 

Die Verleihung des Berliner Theaterpreises 2013 der Stiftung Preußische Seehandlung an Jürgen Holtz fand am 5. Mai 2013 im Haus der Berliner Festspiele statt. Hermann Beil war neben Robert Wilson und Klaus Maria Brandauer einer von drei Laudatoren.

 

Im August 2012 feierte Jürgen Holtz seinen 80. Geburtstag – wir gratulierten!

Im Jahr 1995 war Hermann Beil zusammen mit Claus Peymann selbst Preisträger des von der Stiftung Preußische Seehandlung vergebenen Theaterpreises Berlin. Hier gratulierten wir Hermann Beil, dem Laudator, zum 70. Geburtstag.

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Kommentare  
Laudatio Jürgen Holtz: Frage
Wieso ist er eig. nicht bei PETER PAN im BE dabei? Stand doch erst auf dem Besetzungszettel.
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