Die Fratzen der Krisenkinder

von Steffen Becker

Frankfurt, 7. Mai 2013. Variable 1 – Autor, Alter: 32, beruflicher Status: gesichert, Lebensgefühl: latente Bedrohung einhergehend mit hohem Sicherheitsbedürfnis.
Variable 2 – Stück: "Das sind nicht wir, das ist nur Glas" am Schauspiel Frankfurt, Thema: Die Kinder der Krise und ihr Lebensgefühl.
Frage: Haben Zuschauer und Stück eine Schnittmenge, haben real existierende und beschriebene Lebenswelten ein gemeinsames Delta?

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© Karolin Back
Die drei Darsteller beginnen zu rechnen, wiegen Kapitalismus und Religion gegeneinander auf, gehen Kredite und Hypotheken durch, landen im Minus und auf dem leicht unter Wasser stehenden Bühnenpodest auf dem Bauch. Aber erst erzählen sie Witze: Was haben Natascha Kampusch und ein guter Wein gemeinsam – sie sind beide im Keller gereift! Ha! Was ist lustiger als ein totes Kind – ein totes Kind im Clownskostüm. Uiuiui!

Was wird aus den Kindern?

Eine Ouvertüre ohne Bezug zum folgenden Verlauf des von Ivana Sajko geschriebenen Stückes und von Robert Teufel inszenierten Abends. Ihr Sinn, ihr Unterhaltungswert? Keine Ahnung und auch keine Lust, drüber nachzudenken. Denn eigentlich interessiert den Zuschauer ja auch etwas anderes. Wenn er als Kind der Dauerwirtschaftskrise nach 2000 jetzt in die Euro-, Griechenland-, Vertrauens-, Schlag-mich-tot-Krise Kinder setzen würde, was für Menschen würden da heranwachsen? Die Antwort des Stücks: Plünderer, die ihr Spiegelbild in den Glasscheiben der Warenhäuser erschießen möchten. Bonnie & Clydes, die nicht die totale Freiheit anstreben, sondern sich Adidas-Anzüge und Autos zusammenklauen, um darin Handyfotos mit Facebook-Posen zu schießen. Dem Zuschauer ist diese Vorstellung und ihre Ursache – wir befinden uns bei "Das sind nicht wir, das ist nur Glas" in einer Welt nach dem totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch – zu apokalyptisch und abseitig.

Erklärer, Berserker, Austicker

Dass die Lebenswelten von Zuschauer und Stück aneinander vorbei driften, liegt auch an mangelnden Identifikationsmöglichkeiten. Die Schauspieler Christian Erdt, Mario Fuchs und Daniel Rothaug wechseln zwar die Perspektiven zwischen Krisengeneration 1 (Eltern) und Krisengeneration 2 (deren Kinder), bleiben aber die meiste Zeit ihren Meta-Rollen verhaftet – Erklärer (Rothaug), Berserker (Erdt), Austicker (Fuchs). Damit bleibt auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Grundfurcht – was, wenn der ganze Laden doch auseinander fliegt? - lediglich abstrakt. Der Zuschauer sieht das Stück an, wie er einen dieser Krisenartikel auf Spiegel Online liest: Für den Moment interessiert, beunruhigt und gleich wieder abhakend. Gibt's sonst noch was Neues?.

Kein Horror packt Dich

Was umso bedauerlicher ist, als dass marodierende Kinder, die statt für Freiheit, soziale Gerechtigkeit, etc. aufzubegehren, Krawalle zum Flatscreen-Plündern veranstalten, eine wesentliche Funktion erfüllen. Für den Zuschauer der Krisengeneration 1 werfen sie Schlaglichter auf die eigene Wehleidigkeit. Die Gewalt der Jugendgang, die sich nimmt, was sie kriegen kann, explodiert vor dem Hintergrund echter Probleme – keine Liebe, keine Perspektiven, nur Gier und Materialismus. Der Frust über befristete Verträge, unsichere Rente, fehlende Work-Life-Balance, erscheint im Vergleich nichtig. Zugleich verstärken Phänomene wie die Vorstadtunruhen in London oder Paris auch für alle Nicht-Betroffenen das Gefühl, dass es bergab geht mit der Gesellschaft.

Der Horror, dass dieses Leben schon eine Generation später in der eigenen Familie einbrechen könnte, packt einen unter dem LED-Sternenhimmel in der Box des Frankfurter Schauspiels allerdings nicht. Da denkt man fast wehmütig an die schockierenden Raubzug-Bilder des Justice-Videos Stress. Stattdessen tritt man heraus in einen lauschigen Abend, hört einem jungen Straßenmusiker zu, dem eine Jugendgruppe herzlichen Applaus spendet. Noch ist alles in Ordnung.

 

Das sind nicht wir, das ist nur Glas
von Ivana Sajko, Deutsch von Alida Bremer
Regie: Robert Teufel, Bühne: Nele Wangorsch, Kostüme: Laura Krack, Dramaturgie: Henrieke Beuthner.
Mit: Christian Erdt, Mario Fuchs, Daniel Rothaug.
Dauer: 45 Minuten

www.schauspielfrankfurt.de

 

 Mehr zu Ivana Sajko findet sich auf der Website des Verlages Matthes & Seitz. 

 

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