Hastige Farcen

von Elena Philipp

Berlin, 09. Mai 2013. Die Sause bringt das Hirn zum Kochen. Kriterienkataloge kollabieren krachend, irgendwann betäubend weißes Rauschen. Wer könnte klaren Kopfes einen fünfstündigen Marathon Neuer Dramatik bewältigen? Ein Überangebot aus Lesungen, Gesprächen, Reden, Hörspielen? Ich meinesteils kapituliere.

pan am lounge 280 panamlounge xPan Am Lounge im Berliner Eden Haus
© Pan Am Lounge

Vergangener Jet-Set-Glamour

Doch von vorn: Das erste Förderinstrument für Neue Dramatik in Deutschland feiert Geburtstag – der Stückemarkt des Berliner Theatertreffens wird 35 Jahre alt. Zum Jubiläum schenkt sich die Leitung einen Minidramenparcours, produziert in hipper (G)Old(en)-West-Location, der ehemaligen Pan Am Lounge am Zoo. Die originalgetreu rekonstruierte 60er-Jahre-Kulisse erinnert an vergangenen Jet-Set-Glamour und passt nicht schlecht zum Motto der Werkaufträge an dreißig Stückemarkt-Veteranen: "Wohin? Verfall und Untergang der westlichen Zivilisation?" Pan Am, die legendäre Fluggesellschaft, ist längt bankrott. Berlin wird Spekulantenbeute, die Theater gieren nach Spektakel, und Old Europe klammert sich an seinen absteigenden Ast.

Ist wenigstens der Stückemarkt dem Verfall enthoben? Was will und wollte man mit ihm erreichen? Im ersten Vierteljahrhundert seiner Existenz sollten die Lesungen neuer Stücke deren Spielbarkeit erweisen, wie der langjährige Leiter Klaus Völker erzählt. Als Alleinjuror, wie man heute sagen würde, wählte er von 1986 bis 2002 aus den zur Uraufführung freien deutschsprachigen Theatertexten seine fünf, sechs Favoriten und lud die erste Riege der (West)Berliner Schauspieler zu öffentlichen Lesungen. Manch ein Verlag entschied sich zur Veröffentlichung, manch ein Theater zur Uraufführung, nachdem die Texte beim Stückemarkt vorgestellt worden waren.

Neue Förderinstrumente

Das Profil änderte sich 2003 unter der Ägide von Iris Laufenberg und später Yvonne Büdenhölzer. Eine Jury wählte nun aus hunderten von Einsendungen die Texte für die Szenischen Einrichtungen. Die Lesungen wurden als Wettbewerb organisiert, gewinnen konnten die Autoren nun einen Werkauftrag, die Uraufführung oder – undotiert – eine Hörspielfassung des eingereichten Stücks. Neue Förderinstrumente wurden erdacht, etwa der Dramatikerworkshop oder die Theaterpatenschaften für Autoren. Bewerbungen aus ganz Europa waren möglich, auch Übersetzer profitierten nun vom Stückemarkt.

Mehrfacheinladungen wie noch zu Klaus Völkers Zeiten wurden unterbunden, man verstand sich vorrangig als Entdeckungsplattform. Der Autorendurchsatz erhöhte sich. Ein, zwei der Geladenen eines Jahrgangs starteten vom Berliner Stückemarkt aus eine Karriere, etwa Oliver Kluck, Dirk Laucke, Anja Hilling oder Philipp Löhle.

Bulimische Betriebshuberei

Die Innovationen waren vermutlich auch der wachsenden Konkurrenz geschuldet: Wenn einem Intendanten nichts mehr einfalle, so Thomas Oberender in seiner Eröffnungsrede zur Jubiläumsfeier, gründe er einen Stückemarkt. Neue Texte unbekannter Autoren – der einfachste Weg zur Zeitgenossenschaft? Den "Frischfleischwahn", die Überförderung junger Autoren bei zugleich fehlenden langfristigen Arbeitsmöglichkeiten, beklagten die Battle-Autoren bereits 2007, und die Berliner Festspiele begegneten diesem Vorwurf 2009 mit ihrem Symposium Schleudergang Neue Dramatik. Nun bedienen sie selbst die Häppchenkultur bulimischer Betriebshuberei.

Auffällig denn auch die Veranstalterschelte am ersten der drei Spektakeltage. Werner Fritsch, mit sechs Stückemarkt-Einladungen der Rekordteilnehmer, wurde von Yvonne Büdenhölzer beim Autorengespräch scherzhaft gefragt, ob er ein besonders gutes Verhältnis zu Klaus Völker gehabt habe. Fritsch kontert säuerlich mit dem Hinweis, damals hätten die Texte noch eine Rolle gespielt, und insinuiert, das sei heute nicht mehr so. Als Veranstalterin fühlt sich Büdenhölzer zu Recht berufen, die Einladungspolitik ihrer Ära zu rechtfertigen; ihrer Rolle als Moderatorin wird sie damit nicht gerecht.

"Sie eingebildeter Menschen-Dahersteller, Sie!"

Elfriede Jelinek, die 1978 mit ihrem ersten Theatertext, "Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft", zum ersten Stückemarkt geladen war, dann aber erst wieder 1994 beim Theatertreffen auftaucht, sieht sich in ihrem Jubiläumsbeitrag veranlasst, das schreibende Subjekt gegen das Bestelltwordensein zu behaupten: "Sie Hersteller, Sie Menschen-Hersteller, was nicht heißt, daß Sie Menschen herstellen können, also anders als auf die übliche Weise, gut, also der Mensch als das Subjekt, das Sie hier vorstellen, nein, nicht Sie selber, andre müssen es natürlich wieder ausbaden, also als das Subjekt, das Sie hier herstellen, ... der Mensch also, der hier steht, egal wer, Sie werden es wissen, Sie haben ihn ja gezwungen, hier zu stehen und sich zur Schau zu stellen und mir die Schau zu stehlen, der bewegt sich in der Einbildung, und zwar in meiner, jawohl, um meine gehts, nicht um Ihre!, ... Sie eingebildeter Menschen-Dahersteller, Sie!"

In der Hörspielfassung versendet sich ihr "Prolog?" so gut wie ungehört. Im Kaminzimmer soll der Beitrag von Deutschlandradio Kultur laufen, doch der Raum wird von den Schauspielern als Garderobe genutzt. Und als die CD endlich im Laufwerk liegt, lauschen nur noch stumm die Ledersessel. Die Besucher sind der drückenden Schwüle zwischen Teppich, Nippes und Kakteen bereits entflohen.

Mit gewohntem Furor wütet auch Nis-Momme Stockmann in "Monolog der jungen Frau – " gegen die Marginalisierung der Inhalte in der Eventkultur: "Ihr habt mir das Aufbegehren unter den Füßen weggezogen und einen hippen Ibizacluburlaub daraus gemacht. / In dem ihr es vor mir ausbreitet und damit Geld verdient. / Und mich daran Geld verdienen lasst. / Und es um Geld gehen lasst – / Ganz egal, wovon ich rede – " Sein verzweifelter, aufsässiger, auch larmoyanter Monolog wird beim Inszenierungsrundgang ins Schlafzimmer einer der Pan Am-Suiten verbannt, das Publikum auf sechs Zuschauer begrenzt.

Gebrüllte Botschaften für Nacktsonner

Der andere Teil der Zuschauergruppe vergnügt sich derweil im Wohnzimmer mit John von Düffels "Alliierten-Besuch". Hinreißend energisch gibt Judith Rosmair die künftige Franzosen-Gattin, die bei einer Willy Brandt-Wahlparty entweder von einem Amerikaner oder einem Russen geschwängert worden ist. Ihrem Altnazi-Vater aber versichert sie, seinen Enkel im Geiste des Revanchismus zu erziehen: "ich schwöre, Papa, dieses Kind wird die Rache für die Schandverträge von Versailles!" Geschmeidig und professionell entledigt sich von Düffel der Zumutung eines site-specific Werkauftrags mit Motto. Roland Schimmelpfennig hingegen hat wohl eher hastig eine Farce skizziert, in der ein ehemaliger KZ-Arzt wie ein Zombie bei seinem schicken Yuppie-Enkel auftaucht, im Gepäck einen in Menschenversuchen erprobten Unsterblichkeitstrank. Hastig entledigen sich auch die Schauspieler dieser Petitesse.

Thea Dorn, die erstmals seit Langem wieder für das Theater schreibt, nutzt die Gelegenheit, eine bislang vernachlässigte "Riesenbaustelle" zu bearbeiten. Glaube und Wissenschaft wettstreiten in Gestalt von Jesus und Prometheus dialogisch um die Vorherrschaft – und können beide nicht mehr überzeugen. "Adlerfelsen // Schädelstätte" ist entrückt in ferne Zeiten. Die Regie von Anna Bergmann bringt den Text wieder näher: Die beiden Märtyrer hängen an der Bar und brüllen ihre Botschaften aus dem zehnten Stock zu den Nacktsonnern auf der Thermenterasse nebenan. Als Oratorium wird Thea Dorn den Text weiter verwerten, wie sie beim Autorengespräch berichtet. Mit zwei Komponisten ist sie bereits in Verhandlungen – und verleiht so dem Förderinstrument Werkauftrag tatsächlich Nachhaltigkeit.

Glückliches Entrinnen

Wenig, so steht zu befürchten, wird darüber hinaus bleiben. Bedauerlich ist das im Fall des Szenischen Archivs, das Hans-Werner Kroesinger für fünf verstorbene Autoren eingerichtet hat. In der Suite 8J klingt aus der Küche Einar Schleef, aus dem Schlafzimmer schallt Ernst Jandl. Im Kinderzimmer spukt Werner Schwab, auch Thomas Brasch und Gert Jonke wesen in der ehemaligen Pilotenwohnung.

Während man Ausschnitte aus den Stücken hört, kann man im Text oder begleitenden Materialien blättern. Ein Spiegel-Exemplar aus dem jeweiligen Jahr vertäut Fiktion und Realität: Während in Schleefs "Berlin ein Meer des Friedens" die geteilte Stadt in einer braunen Flut ersäuft, liest man im Nachrichtenmagazin aus dem Mai 1983 vom Heiligen Krieg in Afghanistan, von Schwarzarbeit und Streichungen bei deutschen Rentern.

Schwabs Missbrauchsschilderungen in "Volksvernichtung", die Kroesinger bei der Stückemarkt-Präsentation 1991 noch überhörte, wie er erzählt, korrespondieren mit dem Streit um den Abtreibungsparagraphen 218. Ein Bericht über "Teure Hauptstadt-Theater" lenkt die Gedanken auf die Kosten für den vorangegangenen Trubel, dem man im Szenischen Archiv glücklich entrinnen kann. Konzentration kehrt ein. Grün und weit liegt der Tiergarten. Und im Zoo brüllen behaglich die Tiere.

 

35 Jahre Stückemarkt Teil I
mit Texten von Carles Batlle, Davide Carnevali, Thea Dorn, John von Düffel, Thomas Freyer, Elfriede Jelinek, Nikolai Khalezin, Roland Schimmelpfennig, Nis-Momme Stockmann.
Regie: Anna Bergmann, Dramaturgie: Marion Hirte, Ausstattung: Anne Hölzinger, Musik: Heiko Schnurpel.

www.berlinerfestspiele.de

 

Kommentare  
35 Jahre TT-Stückemarkt: Und?
Schade. Symposium für die Katz. Rein in Sack. Und? ... Weitermachen. Alles Gute!
Kommentar schreiben