Das Gewissen schlägt mit Gummiflügeln

von Lena Schneider 

Jena, 13. Dezember 2007. Ein altes Lied. Die dramatischsten Geschichten schreibt oft die Geschichte selbst. Diese etwa: Im Dezember 1996, kurz vor Weihnachten, versank vor der sizilianischen Südküste ein Schiff. 283 illegale Flüchtlinge ertranken, nur sieben erreichten Griechenland. Reste von Kleidung und Körpern gingen später sizilianischen Fischern in die Netze, die alles aber zurück ins Wasser warfen.

Der Vorfall wurde von Gemeinde und Regierung verschwiegen, sechs Jahre lang. Erst als einer auf die Idee kam, seinen seltsamen Fang einer Zeitung zu melden, kam alles ans Licht. Bis auf das Schiff selbst freilich. Das ist immer noch nicht geborgen.

Es wäre nicht schwer, aus dem beklemmenden Stoff ein beklemmendes Stück Theater zu machen. Die Südtiroler Autorin Margareth Obexer aber setzt in "Das Geisterschiff" dort an, wo der tragische Teil der Geschichte bereits zu einer unwirklichen "Story" geworden ist. Die Uraufführung von Alice Buddeberg, derzeit Studentin an der Hamburger Theaterakademie, steigert diese Distanz zur Farce. Was dem Stück Momente von herrlich kruder Brechung und idiotischem Palaver gibt, es aber auch inhaltlich zerfleddert.

Die Leichen im eigenen Keller
Obexers Stück erzählt nicht das Schiffsunglück selbst, sondern stößt eine Gruppe von Menschen in die Konfrontation damit. Böse könnte man behaupten, Obexer interessierten nicht die Opfer, sondern lediglich ihre Leichen. Richtiger aber ist, dass sie der europäische Umgang mit den Leichen interessiert, die sich gewissermaßen im eigenen, exklusiven Keller türmen.

Kein Zufall also, dass die Personnage im "Geisterschiff" ausschließlich typisch mittelständische, entweder vom Karierredurst, von Selbstzweifeln oder gar von beidem zernagte Westeuropäer sind. Sie treffen sich auf dem Weg zu einem Kongress über besagtes Schiff und haben vor allem eines gemeinsam: die Hoffnung, aus dem Kongress einen persönlichen Vorteil zu schlagen.

Die zwei jungen Journalistinnen (Renate Regel und Saskia Taeger) wollen mit der "Story" vom Geisterschiff eine Ausschreibung gewinnen, der erfolglose Akademiker (Christian Banzhaf) mit seiner These vom schiffbrüchigen Exilanten als Fliegendem Holländer unserer Zeit seine Karriere in Schwung bringen, und der Bestattungsunternehmer (Bernhard Dechant) sieht die Bergung der Leichen rein geschäftlich: "300 Hundert Begräbnisse – das ist eine Villa!".

Parallel dazu werkelt eine von allen vier Schauspielern chorisch gesprochene Kuratorin übers Telefon an einem Utopiepark, für den sie eine Marktlücke aufgetan hat: die Gastfreundschaft. Die "einzige Ware, die wir selbst nicht fähig sind herzustellen", will sie zum Importgut machen. Das groteske Gesicht eines utopischen Liberalismus.

Flüchtlinge als Crash Test Dummies
Die Anderen, Flüchtigen, die lebensgefährliche Touren in Kauf nehmen, um illegal nach Europa zu gelangen, existieren hier nur als Gesprächsstoff, Projektionsfläche, geheuchelter Gewissensbiss. Und, verstreut auf der Bühne des Jenaer Theaterhauses, als lebensgroße schwarze Puppen, die aussehen wie an Land gespülte Crash Test Dummies.

Wie gespenstisch verkohltes Spielzeug oder Leichenteile aus einer Mülltonne ziehen die Schauspieler sie unter einer schwarzen, über den gesamten Bühnenboden (Sandra Rosenstiel) fließenden Plastikplane hervor, zotteln kurz an ihnen herum und werfen sie dann zur Seite. Ein einprägsames Bild für europäische Gleichgültigkeit gegenüber den an die Ufer dieses Kontinents gespülten Flüchtlingen.

Ein starkes Thema, ein solides, politisches, vielseitiges, teils sehr komisches Stück, das Fragen aufwirft: Warum birgt man das Schiff nicht, warum erhalten die Toten keinen Totenschein und die Hinterbliebenen keine Urnen? Dennoch bröckelt der Abend und lässt einen plötzlich nicht irrelevanten, aber völlig unverbundenen Dingen nachgrübeln wie etwa den Kriegsschäden am Jenaer Theater. Warum? Wohl weil das Ganze vor lauter Kampf gegen moralisierende und gefühlige Töne oft ein wenig zu unbedarft dahinschwebt. Und weil es der Regie nicht gelingt, die verschiedenen Erzählstränge stolperfrei zusammenzuführen.

Tatsächlich wirkt die Inszenierung streckenweise wie eine reine Sketch-Show, und die elektronischen Variationen von "Puff, the Magic Dragon" (Musik: Stefan Paul Goetsch) ermüden schon im zweiten der vielen Szenenübergänge. Zwar wird das Drachenmotiv bis zum hübschen Gummiflügel-schlagenden Ende stoisch durchgehalten, aber bis dahin hat sich die Melodie des alten Liedes im hippen Kleid lange erschöpft.

 

Das Geisterschiff (UA)
von Margareth Obexer
Regie: Alice Buddeberg, Bühne und Kostüme: Sandra Rosenstiel, Puppenbau: Katharina Graf, Musik: Stefan Paul Goetsch, Dramaturgie: Christin Bahnert.
Mit: Christian Banzhaf, Bernhard Dechant, Renate Regel, Saskia Taeger.

www.theaterhaus-jena.de

Kritikenrundschau

In der Thüringischen Landeszeitung (15.12.2007) stellt Wolfgang Hirsch fest, dass Alice Buddeberg "einen aberwitzigen Zugriff auf das semidokumentarische, wortlastige und handlungsarme Stück" von Margareth Obexer wage, "indem sie es zu einer schwarzhumorigen trash comedy" parodiere. Und Hirsch gibt der Regisseurin Recht, "sich derart an der widrigen Textvorlage zu reiben", die "arg ins Schwanken zwischen perversem Spektakel und beklemmendem Appell an die Menschlichkeit" gerate und sich letzlich "als bedingt bühnentauglich" herausstelle: "die Konstellation der Figuren trägt nicht".

 

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