Alles andere als Chaos

von Thomas Köck

Berlin, 13. Mai 2013. Immer wieder ist man bei der Auseinandersetzung mit diesem Stück mit dem Begriff der Professionalität konfrontiert: Da ist einerseits ein achtköpfiges, jugendliches Autorenteam aus Finnland und Deutschland, allesamt Debütanten beim Schreiben, zumal auf Englisch. Demgegenüber stehen andererseits eine professionelle Leitung, zwei professionelle Theater, eine professionelle Übersetzerin und schlussendlich ein finnischer Preis, der das erste Mal nicht an eine professionelle Autorschaft vergeben wurde. Was bedeutet denn da Professionalität überhaupt noch? "15:15" ist nicht nur ein unterhaltsamer Text über Chaos im Alltag. Es ist das einzige Projekt beim Young Europe Festival, das ein von der ETC groß geschriebenes Thema wie die interkulturelle Kommunikation bis in die Produktionsbedingungen hinein durchdenkt und ernst nimmt.

Der gelungene, witzige Text nähert sich dem Thema Chaos auf eine liebevolle und absurde Weise. Trotz seiner vielen Schauplätze wirkt es alles andere als chaotisch: Im Mittelpunkt der szenischen Collage steht die zufällige Begegnung dreier Menschen – ein Statistiker, eine ältere Frau und ein Affenmensch – an einer Bushaltestelle, die alle auf den Bus um 15.15 Uhr warten. Als der Bus nicht erscheint, folgt ein Strudel der Ereignisse und ein Durchspielen der Grenze von Chaos und Alltag, auf eine derartig charmante, ironiefreie Art, dass man gerne mitgeht. Mit absurdem Witz werden Fragen nach Ordnung und Sicherheit aufgebrochen und über das richtige Leben nachgedacht. Die Sprache wechselt gekonnt zwischen philosophischen Fragen und alltäglichen Sorgen. Problemlos springt der Text zu Nebenschauplätzen wie dem obersten Gericht des Universums und zaubert ohne weiteres Nebenfiguren wie einen Meteorologen hervor, der an der Vorhersagbarkeit, der Planung und der Prognostizierbarkeit von Ereignissen, zu zweifeln beginnt. Natürlich schlagen hier und da Gemeinplätze ein, schrammen die Themen auch mal an Zeitgeistigem – von vielen etablierten Dramatikern kennt man’s aber auch nicht anders.

Autorschaft: kolletiv und anonym

Das ist nämlich der spannende Punkt an diesem Projekt. Würde man es nicht wissen, man würde nicht ahnen, dass hinter dem Text ein achtköpfiges Team von 16- bis 20-jährigen Jugendlichen aus Finnland und Deutschland saß, die unter der Leitung von zwei Dramaturginnen dieses Stück im Kollektiv über einen Zeitraum von drei Monaten geschrieben haben. Dreist eigentlich, wenn man bedenkt, dass das Autor-Genie in unseren Breiten immer noch Kultstatus genießt und dem unlauteren, postmodernen Durcheinander trotzt. Vielleicht ist die Verabschiedung dieses Mythos einfach mittlerweile für eine nachrückende Generation State-of-the-Art (vgl. etwa die Diskussion zum Thema "Theater in der Netzgesellschaft: Partizipation" bei der Konferenz Theater und Netz).

Textbausteine und erste Skizzen wurden über die Online-Plattform Noodi ausgetauscht, kommentiert und auch kritisiert. Das Programm mit dem geschrieben wurde, ist ein vollwertiges Script-Writing-Tool und wurde vom Theater Helsinki gemeinsam mit der Metropol-Universität entwickelt. Daran beteiligt war übrigens auch Emma Puikkonen, die Dramaturgin, die auf finnischer Seite mit den Jugendlichen gearbeitet hat. Die Arbeit selbst wurde anonym erledigt: Die Jugendlichen kannten einander nur unter ihrem Benutzernamen; weder Alter, Nationalität, noch Geschlecht wurde verraten, was den Arbeitsprozess vereinfachte, da Vorurteile keinen Raum fanden. Das Thema, auf das man sich einigte, war Chaos. Dazu gab es Aufgaben und Anweisungen, die von den beiden Betreuerinnen angeleitet wurden. Auch der Name des Kollektivs, Berlinki (eine Kombination der Städte Berlin und Helsinki), wurde gemeinsam beschlossen.

Preisgekrönt

Julia Schreiner, die betreuende Dramaturgin auf deutscher Seite erklärt, dass man mit kollektiven Schreibprozessen über Online-Plattformen in Finnland bereits viel Erfahrung habe. Nur eines von vielen Details, an denen in diesem Prozess unterschiedliche Haltungen und unterschiedliche Theaterauffassungen sichtbar wurden: "Die Finnen sind in puncto Gleichberechtigung um Lichtjahre voraus", erklärt Schreiner, "in der ersten Besprechung mit den Finnen ging es darum, dass sie sagten: Wir können die Jugendlichen nicht nicht bezahlen, das wäre sonst Kinderarbeit und böse Ausnutzung. Dann kucken natürlich die Deutschen und sagen: Wieso, die sollen sich freuen, dass sie an so einem tollen Projekt teilnehmen können."

Am Ende einigte man sich auf eine gerechte Bezahlung; auch die Urheberrechte und damit die Aufführungstantiemen verblieben bei dem Kollektiv. Dennoch war es eine Überraschung, als das Stück vor kurzem mit einem wichtigen finnischen Theaterpreis für professionelle Autoren ausgezeichnet wurde. Das Preisgeld in Höhe von 3.250 Euro ging nicht etwa an die am Entstehungsprozess beteiligten Profis und Institutionen, sondern wurde unter den Autorinnen und Autoren aufgeteilt. Ziemlich professionell, das.

 

Der Blog ist ein Kooperationsprojekt von nachtkritik.de und der European Theatre Convention im Rahmen des Young Europe Festivals. Seine Inhalte sind nicht Teil des redaktionellen Kontents von nachtkritik.de: Impressum.

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