... und ich bin Schauspieler

von Benjamin Wihstutz

Mai 2013. Das Theater ist ein Ort, der von einer grundlegenden Ambivalenz gekennzeichnet ist. Auf der einen Seite ist es ein Ort der Versammlung, ein sozialer Raum, dem von vornherein – das lateinische Wort Publikum verrät es – ein Anspruch des Öffentlichen eingeschrieben ist. Theater zu machen, heißt in dieser Hinsicht zu allererst, etwas einem Publikum zu präsentieren, etwas sichtbar und hörbar zu machen, sich ins Rampenlicht zu stellen.

Auf der anderen Seite ist die Bühne ein Ort der Kunst, ein Ort der Repräsentation und des ästhetischen Erscheinens. Als solche markiert sie traditionell einen Abstand, eine ästhetische Differenz zur sozialen Realität. So gelten im Theater bekanntlich andere Regeln als im Alltag: Tote können zum Applaus wieder auferstehen, mehrere Orte und Zeiten können nebeneinander repräsentiert werden und selbst in den Fällen, wo keine Bühnenfiktion erkennbar ist, schafft die Inszenierung der Aufführungssituation einen Rahmen, der das Spiel buchstäblich in ein anderes, in ein ästhetisches Licht rückt und damit seine realen Konsequenzen vermindert.

Als-ob oder Nicht-Als-ob?

Betrachtet man diese beiden Gesichter des Theaters, so wird deutlich, dass Schauspieler nicht etwa, wie der Titel des Symposiums "Behinderte auf der Bühne - Künstler oder Exponate?" andeutet, entweder als Künstler oder Exponate erscheinen. Schauspieler zu sein, heißt hingegen immer auch, sich zu exponieren und mithin beides zu sein, Künstler und Exponat. Denn Voyeurismus und Zurschaustellung sind nicht allein an ethisch verwerfliche Aufführungstraditionen wie die Freakshow oder die Völkerschau gebunden, sondern ein konstitutives Element des Theaters als sozialer Raum und als Ort ästhetischen Erscheinens.

Wenn nun im Gegenwartstheater sozial benachteiligte Akteure wie Menschen mit Behinderungen, aber auch Arbeits- oder Obdachlose, Migrantenkinder, straffällige oder todkranke Menschen nicht mehr von Schauspielern dargestellt werden, sondern "als sie selbst" auftreten, so scheint dieser Re-Entry des Sozialen zunächst einmal den ästhetischen Blick auf die Bühne infrage zu stellen. Es verwundert daher nicht, wenn bei Aufführungen wie "Disabled Theatre" schnell vom "Authentischen", vom "Spontanen" oder "Unverstellten" die Rede ist. So beschreibt etwa Pieter T'Jonck in seiner Rezension von "Disabled Theatre" in der Zeitschrift Tanz den "herzzerreißenden Moment", an dem die Darstellerin Lorraine Meier bei der Frage nach ihrer Behinderung plötzlich zu weinen beginnt und ist tief beeindruckt, wie viel "Bewusstsein" sie trotz eingeschränkter Tanzfähigkeiten für die Musik von Abbas "Dancing Queen" mitbringe. Andreas Klaeui beschreibt den Tanz der behinderten Schauspieler (nachtkritik vom 9. Juli 2012) als "zum Heulen schön" – ein Urteil, das er sich wohl kaum bei Sasha Waltz oder Meg Stuart erlauben würde, und zieht das Fazit, in "Disabled Theater" gebe es kein So-tun-als-ob, und gerade dies mache den Abend zum Ereignis.

Soziale Begegnung

Was mich an diesen und zahlreichen anderen Kritiken von "Disabled Theatre" irritiert hat, ist weniger das (zumindest in Deutschland) durchweg affirmative Urteil, als vielmehr die Tatsache, dass die Rezensentinnen und Rezensenten oftmals eine Art der Beschreibung wählen, die das Bühnengeschehen offenbar gar nicht als Kunst, sondern als eine Art sozialer Begegnung beurteilt. disabled theater1 280 michael bause uLorainne Meier © Michael Bause Dass behinderte Darsteller sehr wohl zwischen Bühne und Alltagsrealität unterscheiden können, dass Lorraine Meiers Niedergeschlagenheit auf der Bühne womöglich gar nicht spontan, sondern gespielt ist, dass Julia Häusermanns Michael Jackson Imitation sehr wohl ein Als-ob in Szene setzt und dass Peter Kellers Zeitgefühl den Schauspieler nicht zufällig jeden Abend aufs Neue im Stich lässt, wird leider allzu leicht außer Acht gelassen.

Betrachtet man "Disabled Theatre" im Kontext anderer, verwandter Arbeiten, die behinderte und marginalisierte Menschen als "sie selbst" in den Mittelpunkt der Aufführung stellen, – ich denke u.a. an Arbeiten von Christoph Schlingensief, Völker Lösch oder Rimini Protokoll (siehe auch Der andere Raum) – so wird deutlich, dass es zunächst einmal gar nicht um Fragen der Authentizität geht, sondern um die Wiederbelebung eines alten politischen Versprechens des Theaters mit neuen performativen Mitteln. Es geht um das Versprechen, gerade im Abstand zur sozialen Realität des Alltags, den "Anderen", den An-den-Rand-Gedrängten einer Gesellschaft eine Bühne zu geben. Oder, um es in den Worten des französischen Philosophen Alain Badiou auszudrücken, "unserer Zeit entsprechend ein Äquivalent zu den Sklaven und Dienern aus der Komödie ausfindig zu machen, ausgeschlossene und unsichtbare Menschen, die plötzlich auf der Bühne [...] Intelligenz und Kraft, Begehren und Beherrschung darstellen." Kurz: es geht um die Idee der Bühne als einen Ort der Emanzipation.

Gleichheit im Handeln

Ich möchte der Frage nachgehen, inwiefern die Bühne bei "Disabled Theatre" als ein solcher Ort der Emanzipation fungieren kann. Dabei kommt es mir darauf an, die eingangs erwähnte Ambivalenz des Theaters nicht zu ignorieren, geschweige denn den Fehler zu begehen, den Aufführungsbesuch mit einer Art "Tag der offenen Tür" in einem Heim für geistig behinderte Menschen zu verwechseln. Vielmehr gilt es, das emanzipatorische Potenzial der Bühne – das Zitat Badious deutet es an –, gerade nicht ausschließlich auf der Seite der sozialen Realität, des Authentischen oder Unverstellten zu suchen, sondern in der Einsicht, dass sich mit den Mitteln des Theaters andere Wahrnehmungen und Reflexionen, andere reale Widerstände und Selbstverhältnisse erzeugen lassen als außerhalb des Theaters.

Jacques Rancière, ein Mit- und Widerstreiter von Alain Badiou, hat in zahlreichen Texten zum Politischen, Emanzipation als eine "Gleichheit in actu" definiert. Emanzipation ist demnach an eine spezifische Form des Handelns im Hier und Jetzt gebunden, welches Gleichheit nicht erkämpft oder demonstrativ einfordert, sondern im Handeln selbst bereits voraussetzt. Das emanzipatorische Handeln ist in dieser Hinsicht an ein Als-ob gebunden, nämlich an jenes Als-ob, das sich über die gesellschaftlichen Normen, Regeln und Konventionen hinwegsetzt und den Konventionsbruch dabei ignoriert.

Ich möchte vorschlagen, das für meinen Vortrag titelgebende Zitat aus "Disabled Theatre", "...und ich bin Schauspieler" genau in dieser Hinsicht als einen emanzipatorischen Sprech-Akt zu verstehen. Denn was so manchen Zuschauer des Theatertreffens zunächst irritieren mag, ist für die Akteure auf der Bühne eine Selbstverständlichkeit: Sie behaupten alle (bis auf die Ausnahme von Peter Keller) mit Fug und Recht, Schauspieler zu sein und damit, ein Anrecht auf diese Bühne zu haben – unabhängig davon, was Zuschauer womöglich von einem Schauspieler erwarten, welche Bedingungen und Fähigkeiten sie an diese Tätigkeit knüpfen. Von diesem Kernsatz der Inszenierung ausgehend, möchte ich vorschlagen, zwischen drei unterschiedlichen Ebenen der Emanzipation bei "Disabled Theatre" zu unterscheiden:
1.    Emanzipation als Sichtbarmachung
2.    Emanzipation als Selbstdistanzierung
3.    Die Emanzipation vom Leistungsprinzip

1. Emanzipation als Sichtbarmachung
Betrachtet man die Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung in Ländern wie Deutschland oder der Schweiz, so kann man nach wie vor den Eindruck gewinnen, diese Menschen gälten in unserer Gesellschaft als überflüssig. Behinderte Menschen werden meist in Heimeinrichtungen untergebracht und in Werkstätten beschäftigt, wo sie Schrauben zählen, Kartons falten oder Fertig-Pizza belegen. Und die Medizin möchte bekanntlich Behinderungen mithilfe von Stammzellen und Pränatal-Diagnostik am liebsten ganz abschaffen.

Emanzipation als eine Form der Sichtbarmachung zu verstehen, heißt in diesem Kontext, jenen marginalisierten und ausgeschlossenen Menschen eine Präsenz, eine Sichtbarkeit zurückzugeben, die ihnen im Alltag genommen wird, das heißt, ihnen einen Raum und eine Zeit zur Verfügung zu stellen, über die sie normalerweise nicht verfügen. Bei "Disabled Theatre" ist dieses Prinzip in mehrfacher Weise umgesetzt. Zum einen treffen die Darsteller allein schon durch den Namen Jérôme Bel auf eine größere Öffentlichkeit als jemals zuvor, nämlich auf ein internationales Tanz- und Theaterpublikum auf zahlreichen Festivals in vielen Orten und Ländern. Zum anderen widmet sich umgekehrt ein am zeitgenössischem Tanz und Theater interessiertes Publikum den Darbietungen der Hora-Darsteller, ein Publikum, dessen größter Teil – machen wir uns nichts vor – bisher allenfalls in Ausnahmefällen zu Aufführungen von Ensembles mit geistig behinderten Schauspielern gegangen ist.

Was in ästhetischer Hinsicht Jérôme Bels Arbeit von den bisherigen Arbeiten des Theater Hora oder anderen Gruppen wie Ramba Zamba oder Theater Thikwa unterscheidet, ist, dass es hier genau genommen keine Regie im traditionellen Sinne gibt. Jérôme Bel hat in den einzelnen Szenen nichts oder fast nichts inszeniert. Er hat lediglich eine festgelegte Struktur, ein stabiles Gerüst bereitgestellt, das aus Aufgaben besteht, die dann jeweils von den Darstellern umgesetzt werden.

Besonders auffällig ist dies im Fall der Tanz-Soli, für die Bel weder bei der Auswahl der Musik noch bei der Choreographie etwas vorgegeben oder korrigiert hat. Die Performer bekommen lediglich eine Bühne, fünf Minuten Zeit für ein Solo und ein Publikum, mehr nicht. Genau diese minimalen Vorgaben sind jedoch entscheidend. Nur durch diese Struktur, durch diese strenge Form dieses Theaterabends, ist es möglich, die Darbietungen der Darsteller einer ästhetischen Wahrnehmung des Publikums auszusetzen.  Wo können geistig behinderte Menschen sonst in dieser Art und Weise eine Bühne für sich beanspruchen? Wo bekommen sie für einen selbstbestimmt inszenierten Auftritt eine solche Aufmerksamkeit geschenkt, in welchem Theater liefert sich ein größtenteils nichtbehindertes, intellektuelles Publikum, freiwillig einem solchen, bei weitem nicht immer konsensfähigem Musikgeschmack aus? 

Emanzipation als Sichtbarmachung heißt im Fall von "Disabled Theatre" daher nicht zuletzt, den Schauspielern mittels der Theaterbühne eine Freiheit zu geben, ohne Schutzschild, ohne Regie-Anweisungen oder Korrektur vor einem Publikum aufzutreten, und zwar in der Art und Weise, wie sie es jeweils für richtig halten. Die Zuschauer werden ohne Rücksicht mit dieser Selbst-Inszenierung konfrontiert und mithin gezwungen, ihre Ansichten, Normen und Erwartungen von gutem oder schlechtem Theater, Tanz oder Schauspiel grundlegend zu überdenken –  Normen und Konventionen, die auch im sogenannten Behindertentheater normalerweise Bestand haben.

2. Emanzipation als Selbstdistanzierung

Emanzipation als Selbstdistanzierung meint, die ästhetische Differenz der Bühne für einen neuen Blick auf die soziale Realität, für ein anderes Verhältnis zur eigenen sozialen Rolle zu nutzen. Die Bühne wird in diesen Fällen zum prädestinierten Ort, als behinderter Schauspieler auf andere Weise, in einer anderen Rolle als im Alltag erscheinen zu können und damit unter anderem die Möglichkeit zu bekommen, die eigene Behinderung mittels des Schauspiels zu reflektieren, zu ironisieren oder zu verfremden. Die Bühne ermöglicht somit allein durch ihr Potenzial eines Als-ob eine Selbstdistanzierung, die insofern emanzipatorisch ist, als sie sich für die Dauer der Aufführung über soziale Normen, Hierarchien und Ungleichheiten hinwegzusetzen vermag.

Auf den ersten Blick scheint diese Dimension der Emanzipation in Jérôme Bels "Disabled Theatre" keine nennenswerte Rolle zu spielen, weitaus offensichtlicher ist sie beispielsweise in den Arbeiten des australischen Back to Back Theatre angelegt (etwa in Ganesh Versus The Third Reich). Auf den zweiten Blick fallen jedoch auch bei "Disabled Theatre" Szenen auf, in denen die Schauspieler die Bühne als Ort der Selbstdistanzierung nutzen: So zeugt etwa die Aussage Damian Brights, er habe ein Chromosom mehr als "ihr da unten im Publikum" von der Möglichkeit eines selbstironischen Umgangs mit der eigenen Behinderung, ebenso wie seine Bemerkung, seine Mutter empfände die Aufführung als eine Art Freakshow, es hätte ihr aber trotzdem sehr gut gefallen.

Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht die Rolle Peter Kellers, der die Vorgaben des Choreographen allesamt ignoriert und dem Publikum stattdessen in einem kaum verständlichen Genuschel jeden Abend andere wirre, offenbar zufällig ausgewählte und teilweise nicht mehr enden wollende Anekdoten erzählt. Kellers Auftritte erscheinen dabei als permanente Gratwanderung, nie ist aus Zuschauersicht eindeutig, ob sich hier einer der Darsteller lediglich in seiner Clownsrolle besonders gut gefällt oder gleich die Inszenierung sprengt, indem er sich dazu entscheidet, womöglich gar nicht mehr abzugehen. Wenn Keller dann auch noch den Satz "And now: good theatre!" mehrmals wiederholt, wird dabei trotz aller Komik und Ironie, eine grundlegende Frage dieser Inszenierung auf den Punkt gebracht: Was ist gutes Theater? Ist es nicht genau jenes komplexe Spiel mit der Ambivalenz der Bühne, mit jenem Zwischen von sozialer Realität und Als-ob, von extrem Geformten und zugleich Unkalkulierbarem? 

Was alle Darsteller von Theater Hora gemeinsam haben, ist, dass jeden Moment für das Publikum spürbar ist, wie sehr sich jeder von ihnen seiner Bühnenpräsenz bewusst ist und genau diese auskostet und genießt. Dass dabei auch ohne dramatische Handlung sehr genau zwischen Bühne und Realität unterschieden wird, bringt ein Zitat des Schauspielers Matthias Brücker auf den Punkt, das ich einer Reportage über die Koreareise der Truppe entnehme (erschienen im Mai 2013 in dasmagazin.ch): "Wenn ich auf der Bühne bin, ist alles andere weggeblasen. Ich bin dann nicht Matthias, ich bin die Figur von Matthias."

3. Emanzipation vom Leistungsprinzip

Die aufführenden Künste sind, anders als die zeitgenössischen Ausstellungskünste, größtenteils einem Paradigma des Könnens verpflichtet, welches die Praxis ästhetischen Urteilens über das Schauspiel, aber auch über das Tanztheater nach wie vor in entscheidender Weise prägt. Jede Kritikerin und jeder Schauspiellehrer kann bestimmte, im weitesten Sinne handwerkliche Fähigkeiten aufzählen, die das künstlerische Vokabular eines großen Schauspielers oder eines großen Tänzers bilden. Wer die Arbeiten Jérôme Bels kennt, weiß hingegen, dass ihn derartige Fähigkeiten nie interessiert haben. Hingegen hat er mit seinen Arbeiten immer wieder versucht, neue Wege zu finden, die institutionellen Normen, Regeln und Konventionen von Theater und Tanz zu dekonstruieren. Dass ein Choreograph, der mehrfach den Tanz für tot erklärt hat, nun ausgerechnet mithilfe von geistig behinderten Schauspielern auf andere Weise zum Tanz zurückfindet, ist vielleicht die schönste ironische Note an dieser Arbeit.

Hört man jedenfalls die Aussage "und ich bin Schauspieler" vor diesem Hintergrund, ist sie Behauptung und Widerspruch zugleich, denn zumindest im herkömmlichen Sinne treten die Akteure bei "Disabled Theatre" paradoxerweise ja gar nicht als Schauspieler in Erscheinung, sondern als Tänzer und Performer. Was den Verzicht auf die Darstellung dramatischer Figuren betrifft, ist dieser schon allein deshalb notwendig, als es hier gerade nicht darum gehen soll, sich an bestimmten Normen einer "gelungenen" schauspielerischen Leistung zu orientieren. Die Performance, die hier stattfindet, darf gerade nicht als Performance im Sinne einer beeindruckenden Leistung verstanden werden, im Gegenteil geht es Bel auch und vor allem darum, genau dieses Leistungsprinzip, das sich über alle Bereiche unserer ökonomisierten Gesellschaft erstreckt, zu hinterfragen.

So betrachtet ist "Disabled Theatre" oder überhaupt Theater mit behinderten Schauspielern gerade nicht dadurch politisch, wenn die Akteure dem Publikum lediglich beweisen, dass auch sie etwas können. "Disabled Theatre" ist vielmehr dadurch politisch, dass sich das Spiel grundsätzlich vom Leistungsgedanken verabschiedet, indem es in den Tanz-Soli tatsächlich nicht mehr darauf ankommt, wer der bessere oder virtuosere Tänzer ist, wer die besseren, oder gar "normaleren" schauspielerischen Fähigkeiten hat.

Sichtbar, unsichtbar

Diese Abkehr vom Leistungsgedanken, von einem Paradigma des Könnens ist der Grund, warum Jérôme Bel die Performer weder dirigiert noch korrigiert. Sie ist ebenfalls der Grund dafür, dass die Übersetzerin oder der Übersetzer auf der Bühne keine der Aussagen der Schauspieler umformuliert oder grammatikalisch verbessert, sondern lediglich versucht, alles wortwörtlich ins Englische zu übertragen.

Wenn man diese Art der Emanzipation, das Ignorieren des Leistungsprinzips erkannt hat, wird ersichtlich, was der Titel "Disabled Theatre" letztendlich bedeutet: Es geht hier tatsächlich darum, das Theater selbst zu behindern, das heißt, seine Konventionen und Normen zu dekonstruieren und der Performance als Grundprinzip einer ökonomisierten Gesellschaft eine andere Performance entgegenzusetzen. "Disabled Theatre" ist subversiv, weil seine Akteure gerade nicht den Ansprüchen einer Leistungsgesellschaft entsprechen, weil sie die Aufteilung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen denen im Rampenlicht und den An-den-Rand-Gedrängten, zwischen denen, die etwas können und denen, die angeblich zu nicht mehr zu gebrauchen sind, als Pizza zu belegen, grundlegend infrage stellt.

Dr. Benjamin Wihstutz, Jahrgang 1978, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich "Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste" der Freien Universität Berlin. 2011 promovierte er mit einer Arbeit über das Politische und das Ästhetische im Gegenwartstheater.

 

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