Es wird Kunst gemacht

von Wolfgang Behrens

Berlin, 14. Dezember 2007. Am Anfang aber war die Spielfläche leer. Ein Hocker, ein Eimer, rückwärtig zwei Stühle, seitlich ein Schirmstrahler akzentuieren diese Leere mehr, als dass sie sie füllen. Wüst wird die Bühne dagegen am Ende aussehen: Drei Tänzer haben dann eindreiviertel Stunden lang faustische Kräfte – kosmogonische und zerstörerische – walten lassen; zurück bleiben Wasserpfützen, ein Haufen Blumenerde und jede Menge umgestürzte Stühle.

Der Spielleiter dieser eigenartigen Kunstübung, die in den Berliner Sophiensaelen unter dem Titel "Tanzstück #2: Antonin Artaud liest den 2. Akt von Faust 2 und" zur Premiere kam, heißt Laurent Chétouane. So jung er ist (34), nimmt er mittlerweile bereits eine scheinbare Ewigkeit einen herausragenden Platz in der vordersten Reihe der avancierten Theaterkunst ein.

Waren sein Markenzeichen anfangs statuarisch stillgestellte Schauspieler, die in unerbittlicher Langsamkeit und Ruhe die Textmassen beispielsweise eines "Don Karlos" (Hamburg 2004) zelebrierten, so hat Chétouane in seinen jüngsten Arbeiten die Körper wieder in Bewegung versetzt – unter Beibehaltung jedoch des aufreizend bedächtigen Zeitmaßes und unter Verweigerung jeder psychologischen Ausdeutung.

Am Anfang war der Körper

Zu Beginn seiner "Faust 2"-Studie schreiten die drei Tänzer den Raum aus, sie durchmessen ihn, testen erste Bewegungen aus – ein Wippen, ein Wiegen –, legen sich probeweise auf den Boden. Es dauert Minuten, ehe die ersten Worte aus "Faust 2" fallen: Die Israelin Sigal Zouk spricht sie, ihr Akzent macht sie aber nahezu unverständlich – was man hört, ist vor allem Sprachklang und -melodie. Sofort ist klar, dass es hier nicht auf die Auslegung des Wortsinns ankommen wird.

Es ist, als wollte Chétouane den Faust des ersten Teils bestätigen: "Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen." Die Bruchstücke aus dem zweiten "Faust 2"-Akt, die die Tänzer im folgenden in heiligem Ernst und ohne mimischen Ausdruck aus sich heraus tropfen lassen, dienen offenkundig vor allem dazu, die Körper anzustoßen und sie in bestimmte Energiezustände hineinzutreiben, ihnen Bewegungsräume zu öffnen oder sie in Vibration zu versetzen.

Ein Zwiegespräch aus Wort und Tat

Text und Aktion laufen so oftmals anscheinend beziehungslos nebeneinander her, um dann doch zunehmend Querverbindungen zu offenbaren. Goethes Metaphorik des Zeugens und Entstehens, die in den Homunculus-Szenen wie auch in der Klassischen Walpurgisnacht ständig präsent ist, schreibt sich in die Körper der Tänzer ein: Wenn sich etwa Frank Willens und Jan Burkhardt zu den Homunculus-Worten "und möchte gern im besten Sinn entstehn, voll Ungeduld mein Glas entzweizuschlagen" am Boden liegend ineinander verschlingen und verknoten, als wollten sie eine gleichgeschlechtliche Zeugung herbeiführen.

Ist bei Goethe in der Klassischen Walpurgisnacht im Hintergrund immer auch der naturwissenschaftliche Diskurs über die Entstehung von Bergen und Ozeanen wirksam, so ruft Chétouane stellvertretend die vier Elemente der antiken Naturphilosophie auf: Ein Eimer Wasser wird verschüttet – das Meer. Ein Sack Blumenerde wird ausgeleert – Berge und Vulkane. Der Schirmstrahler wird ins Zentrum geschoben und leuchtet ins Publikum – Feuer und Licht. Und Luft ist eh da.

Große Stille, heilige Anstrengung

Doch die Miniatur-Weltenschöpfung mit Pfütze und Erdhaufen mündet bei Chétouane in die Zerstörung, mithin in die Tragödie: Kaum haben es sich die Tänzer auf der Bühne eingerichtet – sie haben alle möglichen Sitzgelegenheiten herbeigetragen und sich mal eben zum Rauchen oder Waschen hingesetzt –, da beginnen sie auch schon, die Stühle wieder umzuwerfen. Schließlich entschwinden die beiden Männer durch eine Tür nach hinten, und man hört nur noch die lauten metallischen Geräusche einer großen Zerschlagung.

Zuletzt geht auch sie, Sigal Zouk, und lässt die verwüstete Spielfläche menschenleer zurück. Das alles spielt sich in großer Stille – es erklingt, selten genug im Theater!, keinerlei Musik – und höchster Konzentration ab. Letztere wird sowohl den Tänzern als auch den Zuschauern abverlangt.

Denn Chétouanes Kunst ist eine ars subtilior, sie ist manieristisch und anstrengend (nicht zuletzt beruft sich der Titel des Abends auf Artaud), und sie will anstrengend sein. Und manchmal trägt sie die Anstrengung auch ein wenig zu sehr auf der Stirn geschrieben. "Es wird ein Mensch gemacht", erklärt Wagner dem Mephistopheles in seinem Laboratorium. In Chétouanes Laboratorium dagegen heißt es überdeutlich: "Hier wird Kunst gemacht." Heilige Kunst.


Tanzstück #2: Antonin Artaud liest den 2. Akt von Goethes Faust 2 und
von Laurent Chétouane
Regie und Choreographie: Laurent Chétouane, Mitarbeit: Johannes Schmit, Raum: Patrick Koch, Kostüm: Sanna Dembowski, Licht: Andreas Juchheim.
Mit: Sigal Zouk, Jan Burkhardt, Frank Willens.

www.sophiensaele.com

 

Kommentare  
Chétouanes Faust II: warum die Inszenierung gescheitert ist
Am Ende dieser Kritik steht die Erkenntnis: Es ist wohl Kunst gewesen! Ich hatte viele Fragen an die Inszenierung: Warum Faust II? Wie fruchtbar ist das Verhältnis von Tänzerkörper und Theatertext? Warum liest hier Artaud Faust II und …? Ich habe keine spannenden Antworten erhalten, nicht einmal spannende Fragen gesehen...
Vielleicht ist es ja die vom Kritiker angesprochene, offensiv zur Schau gestellt Aura des künstlerisch Intellektuellen, die über diese frage-, antwort- und problemlose Schwäche der Inszenierung hinwegtäuscht und den interessierten Beobachter verstummen lässt, aus Angst, die eigene Langeweile und die Banalität der Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse seien nur zu verwerfende Zweifel am tatsächlichen „künstlerischen“ Wert dieses Abends.
Sie sind es meiner Meinung nach nicht! Ich habe gelitten unter den wenig überraschenden, fast banalen Assoziationsräumen, die die Inszenierung mir aufzwang! Das Projekt des Abends, den Blick des Zuschauers „nicht zu bestimmen, eher durchdringen und gleiten zu lassen“ (Programmheft), scheiterte kläglich – gerade vielleicht durch die zur Schau getragene, bleierne Choreografie. Es scheiterte an der Penetranz des inszeniert-ernsthaften Blicks der Tänzer, der dadurch eben nicht neutral, leer, geheimnisvoll oder Gedanken anregend war, nicht den Raum für Assoziationen öffnete – eher ganz im Gegenteil. Es scheiterte an den immer wieder angeschleppten Requisiten (selbst die Zigarette durfte nicht fehlen!), die meist aufs Stichwort von draußen angebracht wurden und dann auch noch banal illustrativ-metaphorisch den gesprochenen Text bebilderten. Von den Bewegungen und Handlungen der Tänzer ganz zu schweigen… Wenn gleich die erstbesten Bedeutungsangebote des Textes von der Inszenierung aufgegriffen und thematisiert werden, wo bitte bleibt da die Möglichkeit für den Zuschauers, seinen Blick ständig zu „öffnen“ und „unbestimmt“ gleiten zu lassen? Mein Blick glitt jedenfalls lieber ständig zur Uhr… Das eigentlich interessante Programm des Abends scheiterte vor allem an der zur Schau getragenen intellektuellen Ernsthaftigkeit, die aus dem Titel, den Plakaten, dem Programmheft und schließlich von der Bühne selbst schrie: Seht her, wir machen hier Kunst! Wir wollen Euren Blicken und Gedanken freien Lauf lassen, zusammen erkunden, wie Körper sich an Texten reiben! Irgendwie ist dabei aber alles schon fertig, wenn man als Zuschauer dazukommt, alles bereits irgendwie auf seinen Nenner plus Namen gebracht (A. Artaud, Goethe und Heiner Müller) – Chétouane fehlt nur noch der richtige Zuschauer, der, der seine wache Wahrnehmung einschränkt, der, der sich durch die Widrigkeiten seiner Inszenierung nicht abschrecken lässt und sich deshalb der träumerischen Illusion hingeben darf, wahrhaft „frei“ im (natürlich immer noch intellektuell anspruchsvollen) Reich der Kunst zu assoziieren.
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