Vergessene des Krieges

von Martin Pesl

Wien, 15. Mai 2013. Anna Maria Krassniggs harte, klare Stimme gibt den Ton für diesen Abend an. In einer Einleitung vom Band weist die Regisseurin die Gäste der weitläufigen Expedithalle fernab des Zentrums von Wien darauf hin, dass ihnen nun eine Geschichte erzählt und sie auf "eine Art Reise" mitgenommen werden. "Ihre Mobiltelefone werden Sie dabei nicht brauchen." Sofort ist das Bild der Frau Lehrerin da, fast als wolle sie uns beweisen, dass sie das kann mit dem Lehrersein, sie, die 2012 als neue Regieprofessorin am Wiener Max-Reinhardt-Seminar von Studierenden und Lehrenden massiv abgelehnt wurde, nachdem das Rektorat sie dem allgemein favorisierten Stefan Bachmann vorgezogen hatte.

Die Geschichtsstunde kann also beginnen, und zu diesem Zweck wird man in eine Zeitmaschine gepackt: Gekonntes Lichtdesign kreiert das Bild einer Nebelwand über die ganze Breite der Halle, und wenn der Nebel sich lichtet, sind wir in einem Keller des besetzten Wien, ganz kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Alles ist braun oder grau, steinern oder in Schutt und Asche.

Aus dem Nebel der Geschichte

"Die Kinder von Wien" tasten sich nach vorn, Protagonisten des gleichnamigen Romans von Robert Neumann. Sie sind minderjährige Vergessene des Krieges, die selbstständig und somit eigentlich schon quasi erwachsen in einem verlassenen Keller hausen. Freilich werden sie von richtigen Erwachsenen gespielt, die hierfür nicht ganz unbekannte Maßnahmen heranziehen: naive Blicke, kurze Hosen, verkehrt aufgesetzte Kappen und manierierte Stimmen beim Nachahmen der Großen.diekindervonwien1 560 barbara palffy u© Barbara Palffy

Da ist etwa der Jude Jid (Daniel Frantisek Kamen): Belesen, aber an Durchfall leidend, hält er den Abort ("Mit Ziehwasser!") in Beschlag. Ewa (Kirstin Schwab) ist mit den Praktiken der Prostitution schon durchaus vertraut und womöglich schwanger, Angeberin Ate (Petra Gstrein) war immer schon überall die beste, jüngst etwa als Jungmädelführerin. Dazu gibt es noch Goy (Jens Ole Schmieder), Curls (den sich einige Schauspieler teilen) und das Kindl (ein Püppchen in einem Kinderwagen). Man versucht ihnen, ihre Behausung wegzunehmen, sie wehren sich. Ein schwarzer US-Militärpfarrer namens Smith (David Wurawa) würde sie gerne retten, gerät dabei aber selbst in die Bredouille.

So weit die "Story", die hier erzählt wird. "Die Kinder von Wien oder HOWEVERSTILLALIVE / Teil I: Story" lautet nämlich der vollständige Titel dieses von Krassniggs Theater Salon 5 in Kooperation mit den Wiener Festwochen veranstalteten Abends. Teil II ("History") soll an drei Abenden Mitte Juni diskursiv-analytisch in die Gegenwart und Zukunft überleiten.

Bebildertes Hörspiel

Vorerst präsentiert Anna Maria Krassnigg eine Eins-zu-eins-Wiedergabe des Romans. Dieser, vom Autor zuerst auf Englisch verfasst, wird in seiner eigenen Übertragung ins Deutsche von einem Gemisch aus Dialekten, Kindersprache und englischen Wendungen vorangetrieben. Krassnigg choreografiert die Kunstsprache zu einem einlullenden musikalischen Teppich. Ihre "Kinder" achten darauf, dass jedes "t" gut feucht, jeder Anlaut sauber ist. Alle werden sie durch Mikros verstärkt, und ihre Stimmen erklingen teils aus unterschiedlichen Lautsprechern – wenn sie gerade die Erzählerfunktion innehaben, gar von hinter den Zuschauern, was eine allmächtig-göttliche Autorität schafft, ähnlich wie die strenge Stimme der Regisseurin vor Beginn.

Dadurch gleitet der Rhythmus dieses mit beeindruckenden Lichtstimmungen bebilderten Hörspiels allerdings oft ins Monotone ab, und potenziell interessante Inhalte werden übertönt. Eine Welt, in der Zigaretten eine Währung sind, alles in Trümmern liegt und daher auch alles möglich und alles gleichwertig ist, könnte eine bittere Komik atmen. Enthält Neumanns Schelmenroman doch pointierte Aussagen à la "Wie ich bei der SS war, war ich bei der SS ein guter Mensch" oder die Erklärung des Reverends, es sei nun einmal gesellschaftsfähiger, Religion zu predigen als Sozialismus. Diese Textstellen kommen bei Krassnigg zwar vor, verschwimmen aber wirkungslos im Nebel.

Dauerhaft aufgeweckt wird man dann auch nicht von den paar berührenden Momenten der Eingeschworenheit, die zwischen den Hauptdarstellern – allen voran Schwab und Kamen – immer wieder gelingen. Was auch immer das Referatsteam für Teil II im Salon 5 (zu dessen Besuch man bis vor einiger Zeit nur als Klubmitglied oder in Begleitung eines solchen berechtigt war!) bespricht, es wird ganze Arbeit leisten müssen, um dieses Gestern mit dem Heute zu verbinden.

 

Die Kinder von Wien oder HOWEVERSTILLALIVE / Teil I: Story
nach Robert Neumann
Regie und Bühnenfassung: Anna Maria Krassnigg, Bühne: Lydia Hofmann, Kostüme: Antoaneta Stereva, Licht: Lukas Kaltenbäck, Musik und Produktion: Christian Mair.
Mit: Werner Brix, Petra Gstrein, Daniel Frantisek Kamen, Jens Ole Schmieder, Kirstin Schwab, Martin Schwanda, David Wurawa.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.festwochen.at  

www.salon5.at

 

Kritikenrundschau

"In der geglückten Dramatisierung von Regisseurin Anna Maria Krassnigg bleibt vieles bewusst im Dunkeln", so Thomas Trenkler im Standard (17.5.2013). Die vier Jugendlichen Goy, Ewa, Ate und Jid im Keller eines ausgebombten Hauses scheinen sich zurückzuerinnern, Gegenwart und Vergangenheit vermischen sich, fallen in eins. Krassnigg "gelingen ein paar exzellente Szenen, darunter der Kaffeeplausch von Ewa (Kirstin Schwab) und Ate (Petra Gstrein) zu Rübenschalentee. Herausragend agiert Daniel Frantisek Kamen als impulsiver Jid, der leider völlig dem jüdischen Klischee entspricht."

Barbara Petsch (Die Presse, 17.5.2013) findet den Abend dagegen enttäuschend. Die künstlerische Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs sei ("Inglorious Basterds") kühner geworden, "vor diesem Hintergrund wirkt die Festwochen-Produktion 'Die Kinder von Wien' altertümlich". Die meisten Schauspieler seien eher schwach, "von einer Professorin am Reinhardt-Seminar wie Krassnigg dürfte man bessere Kräfte erwarten. Immerhin ist der schwierige Text ordentlich einstudiert." Und "es wäre gescheiter gewesen, wenn Jugendliche auch gespielt hätten – denn um sie geht es".

Kommentare  
Kinder von Wien, Wien: nächstes Mal besser
Ihre Artikel lesend, kommen nur Neid und Kompetenzlose Kritik heraus.
das liest man aus jede Zeile. leider fehlt Ihnen entsprechende journalistische know-how und fairness.
machen sie es das nächste mal besser!

(Sehr geehrte Marina Fabiani,
einfach Kompetenzlosigkeit und Unfairness zu behaupten, wie Sie es hier ohne weitere Begründungen und Belege tun, zeugt nur selbst von Inkompetenz und Unfairness.
Wir veröffentlichen Ihren Kommentar als ein schlechtes Beispiel. Wenn Sie mehr Kompetenz wollen, gehen Sie mit gutem Beispiel voran.
jnm)
Kinder von Wien, Wien: Stark verändert?
Sehr geehrter Herr Pesl, komme gerade aus der Vorstellung und frage mich, ob die Inszenierung sich so stark verändert hat, denn gerade die Sätze, die bei Ihnen noch im Nebel untergehen, waren heute pointiert und gut getimt zu vernehmen und erzielten ihre Wirkung. Auch eine strenge Lehrerinnenstimme konnte ich nicht vernehmen, dies scheint dann eher Ihrer Einleitung geschuldet zu sein, die ja mit dem Stück an sich in keinem Zusammenhang steht.

Auch will ich mir nicht vorstellen, welche schrecklichen Schulerinnerungen Sie durchlebten, dass die - für mich - durchaus witzige Erinnerung an die Mobiltelefone, die übrigens bei fast allen Theater-, Konzert- und Opernbesuchen zum Standard gehören, gleich das Bild einer strengen Frau Lehrerin evoziert.
Kinder von Wien, Wien: im Nachspiel verebbt
Ein Buch gut auf die Bühne zu bringen, ist schon von vorneherein ein Kunststück. Hier passt sogar bis auf die Regie eigentlich alles: die Expedithalle ideal, Bühnenbild dementsprechend super, die Schauspieler geben ihr Bestes, Kostüme und Beleuchtung auch. Nur die Regie lässt die karge Spannung des Buches im Nacherzählen verebben, lässt Erwachsene betont Kinder nachspielen, wo doch Kinder ins zynische Erwachsensein gezwungen werden, und hält sich mit Stereotypen auf. Da soll sich ein Schauspieler noch natürlich der bitteren Wahrheit nähern können... Oder haben die Cliches Methode? Das Buch reisst einen in die brutale Nachkriegsrealität hinein, hier reisst einen nur Frankenstein, wenn er aus seinem Gerümpelgrab hervorschreckt, für einen kurzen Moment aus der Ermüdung.

Selbst wenn es überall hätte sein können, das Buch bzw. Stück spielt halt in Wien, und bei den Wiener Festwochen, - schade, dass die Gelegenheit verspielt wurde.
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