Das Theater der nächsten Gesellschaft

von Ulf Schmidt

Mai 2013. Dass Soziologen über Theater schreiben, kommt vor. Zumeist tun sie das in metaphorischem Zusammenhang. Dass Theaterleute die gesellschaftliche Funktion von Theater in den Mittelpunkt ihres Arbeitens stellen, kommt ebenfalls vor. Und zwar nicht selten. Warum also sollte Dirk Baeckers Buch "Wozu Theater?" interessant sein?

beackerwozu theaterDirk Baecker, Professor für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, ist in Theatern und Theaterkontexten in den letzten Jahren oft anzutreffen, gehört aber nicht zum "System Theater". Er beobachtet Theater aus soziologischer Außen- oder Randperspektive als gesellschaftliche Funktion und nimmt dabei zugleich – was nicht einfach und selbstverständlich ist – Theater als Kunst ernst und wahr.

Sein Funktionsbegriff ist dabei von jedem konkreten Zweck oder Auftrag von Theater zu unterscheiden: Die gesellschaftliche Funktion ist unhintergehbar und geht jeder konkreten Zwecksetzung im Einzelfall voraus, egal, ob ein Theater politisch agieren oder agitieren, kulturell bilden oder ästhetisch unterhalten will. Und genau diese Beobachtungsperspektive, das Interesse an den Spielarten der Funktion und der damit einhergehenden Betrachtung von Formaten ist die spannende Zentralperspektive des Buches.

Lose gekoppelt

Dabei ist die Lektüre von "Wozu Theater?" keine leichte. Gelegentlich wird sie gar zur Quälerei, was zwei Gründe hat. Zum einen kommt hier in der physischen Form eines Buchs daher, was kein Buch ist. Versammelt sind "Gelegenheitsarbeiten", wie Baecker selbst schreibt. Es sind – systemtheoretisch gesagt – lose gekoppelte Texte, die keine mit einheitlichem Sinn geschlossene Form bekommen.

Es finden sich Besprechungen von Aufführungen für Tageszeitungen, Fachzeitschriften-Beiträge, Beiträge zu Readern und Vortragsmanuskripte. Texte über Theater in Berlin, über Festivals als Feste und Nicht-Wissen, über Öffentlichkeiten des Theaters, zur Unterscheidung von Kunst und Kultur. Das fordert den Leser – und lässt den gutwilligen Rezensenten beim Versuch einer Inhaltsangabe verzweifeln. Es ist anstrengend, den unterschiedlichen Anspruchsniveaus und wechselnden anlassbezogenen Blickwinkeln zu folgen. Dazu kommt, dass die Abfolge der Texte den Einstieg nicht unbedingt erleichtert.

Schritt halten

Der zweite Grund liegt im systemtheoretischen Hintergrund Baeckers. Das theorieeigene Vokabular sorgt für Schwierigkeiten, erfordert Vorwissen oder Auseinandersetzung, um die pointierten Bemerkungen voll zu erfassen. Das kann man bedauern. Angesichts der Tatsache aber, dass die Systemtheorie momentan auch in den Kulturwissenschaften ein äußerst attraktives Theorieangebot zu sein scheint, und bei richtigem, nicht rein epigonal-jüngerhaftem Einsatz (zu dieser Form der nervtötenden Luhmannianer gehört Baecker keinesfalls) zu erhellenden und inspirierenden Einsichten kommt, scheint eine Auseinandersetzung damit durchaus angebracht und nicht nur für die Lektüre von Baeckers Buch fruchtbar.

Denn als Theorieangebot, das Gesellschaft – so eines ihrer wichtigsten Grund-Axiome – nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikation bestehend versteht, scheint die Systemtheorie genau diejenige Theorie zu sein, die in Zeiten des Übergangs von der Buch- und Fernsehgesellschaft zur Netzgesellschaft das passende Instrumentarium bereit stellt, um reflektierend mit der Medienrevolution und Gesellschaftsevolution Schritt zu halten.

Zumutungen erproben

Baecker beobachtet Theater also als gesellschaftlichen Raum, der Spielende und Zuschauende vereinigt, ihre Zumutungen aneinander und untereinander erprobt und zugleich eine Funktion in jenem Gesellschaftlichen einnimmt, das das Theater umgibt. Theater sei, so heißt es, eine der radikalsten Formen der Erprobung des Sozialen, partizipiere an einer "Naturwissenschaft der Gesellschaft" oder "Kognitionswissenschaft des Sozialen". Das aber nicht aufgrund einer naturalistischen Widerspiegelung sozialen Handels im Bühnendrama, sondern in all seinen unterschiedlichen Spielweisen.

Theater ist für Baecker damit ein Soziales im Sozialen, eine spielerische Gesellschaft in der Gesellschaft, und stellt die Formen des Sozialen permanent auf die Probe. Systemtheoretisch formuliert: "Das Theater ist die Form schlechthin, um der Beobachtung des Menschen durch den Menschen selbst eine Form zu geben und so die Beobachtung zweiter Ordnung in die Gesellschaft wieder einzuführen."

Die Funktion von Theater in der Gesellschaft ist also nicht dieser oder jener bestimmter Zweck – sondern, dass es Funktion in der Gesellschaft ist und hat. Das ist nicht wenig. Es macht den soziologischen Blick auf Theater enorm interessant und stellt Anschlussfähigkeit der Außenbetrachtung von Theater zu visionären künstlerischen, systeminternen Entwürfen der Vergangenheit her. Jenseits der Frage nach den einzelnen Inhalten und Gedanken der Texte ist es diese einheitliche Beobachtungsperspektive, die das Buch trotz aller Schwierigkeiten lesenswert macht.

Allenfalls verwirrend

Dirk Baeckers Spielart der Systemtheorie ist zudem von besonderem Interesse, weil er Luhmann in einem eher historischen Sinne folgt, indem er dessen Beschäftigung mit der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft weiterschreibt mit Blick auf eine "nächste Gesellschaft". Im Vorwort wagt er einen Ausblick auf das Theater der nächsten Gesellschaft, von dem er meint, es werde "den Akzent nicht mehr auf Texte, sondern auf Medien legen, und die Welt nicht mehr klassisch, romantisch, sentimental oder kritisch begreifen, sondern in Ton-, Text-, Bild- und Codespuren zerlegen und allenfalls verwirrend wieder zusammensetzen."

So anregend ein solcher Gedanke ist, so wenig sollte man den Fehler machen, das Vorwort als Zusammenfassung des Buches zu verstehen – dafür gibt es zu viele Texte, die auch das gänzlich untechnische Theater auf inspirierende Weise in die Beobachtung bringen.

Einen einzigen schmissigen Satz, der als Antwort auf die Wozu-Frage beim Leser ein jubilatorisches "Ach dazu" auslösen würde und sich eignete, als Nachfolger des berühmten "Theater muss sein!"-Aufklebers die Auto-Hecks zu zieren, wird man bei Baecker nicht finden. Man findet dagegen viele (und oft sehr inspirierende) Antworten darauf, wozu Theater sein kann. Es ist dem Buch zu verdanken, dass es jedem Einzelnen überlässt, der Theater macht oder sich damit beschäftigt, seine Antwort mit einem konkreten "Dazu" zu füllen.

Das ist umso wichtiger in Zeiten, die auch Theater unter neuen Bedingungen und Perspektiven befragen. Und noch mehr in Zeiten, in denen Kulturinfarkt-Propheten lauthals die Halbierung von Etats und Budgets fordern.

Eine Aufforderung

Baeckers Schrift ist kein vordergründig kämpferisches Pamphlet für das Theater. Es ist eine Aufforderung an Macher und Besucher, Theater in seiner gesellschaftlichen Funktion zu beobachten und zu gestalten. Es eignet sich aufgrund des gelegentlichen Mäanderns der Gedanken und der Perspektivunterschiede auf Theater in den unterschiedlichen Texten nicht zur vereinfachenden Zusammenfassung und Definition eines Kerns. Es regt an. Manchmal auf. Manchmal ärgert es, manchmal entzückt es. Es verblüfft und inspiriert. Es irritiert und verwirrt. Hätte Odysseus den direkten Weg zum definierten Ziel genommen, wären ihm viele spannende Abenteuer entgangen. Uns auch.

 

Dirk Baecker:
Wozu Theater?
Verlag Theater der Zeit,
Berlin 2013, 201 S., 18 Euro

 

Weitere Buchrezensionen sind hier zu finden.

Kommentare  
Buch Warum Theater: Marthalers Zeichnung
Da bedarf es doch gar nicht so vieler Worte, wie Marthaler bewiesen hat:

http://www.theatertreffen-blog.de/tt10/wp-content/uploads/2010/05/wtchristophmarthaler1.jpg

(Quelle: http://www.theatertreffen-blog.de/tt10/allgemeines/warum-theater/#more-892)
Buch Wozu Theater?: Mut zur Veränderung
"Wer lesen kann, ist klar im Vorteil", das gilt sicher auch für Kulturjournalisten. Und wenn Ulf Schmidt vor lauter Theateraufführungen schon nicht zum Lesen des "Kulturinfarkt"-Buches selbst gekommen ist, hätte er ja wenigstens den von ihm eigens verlinkten Artikel dazu wenigstens bis zum vierten Absatz schaffen können. Um zumindest aus zweiter Hand zu erfahren, dass von der Halbierung der Etats und Budgets in dem Buch gar nie die Rede ist. Und i.E. sogar von gar keiner Kürzung der Kulturausgaben insgesamt; nur von einer weniger tradierten Verteilung an gewerkschaftlich zementierte Institutionen des 19. Jahrhunderts. Aber dazu gehörte zumindest der Anhauch einer Mentalität, die "die Kultur" stets von allem und jeder in der Gesellschaft fordert: Veränderungswille, Flexibilität, und - ja - den Umständen angepasstes Denken, mithin also etwas Vernunft. Nur für den Kulturbetrieb selbst gilt dieser Anspruch natürlich nicht: Der ist eben ein Labor und darf alles - bloß nicht sich verändern. Armselig ist das. Sonst nichts!
Kommentar schreiben