Im europäischen Zimmer

von Ralph Gambihler

Dresden, 24. Mai 2013. Wenn es stimmt, dass Europa, vom Krieg einmal abgesehen, keinen gemeinsamen narrativen Nenner hat, dass also die große, alles verbindende Erzählung und damit der Urgrund für eine europäische Identität fehlen, ist der Gedanke der kulturellen Interaktion wohl nahe liegend, schon aus therapeutischen Gründen. So oder so ähnlich mag man vor vier Jahren in der Birmingham Repertory Theatre Company ("THE REP") gedacht haben, als die Finanzkrise ausbrach und die europäischen Angelegenheiten wieder mal schwierig zu werden begannen.

Vergessene Topfpflanzen und hoffnungsvolles Blau

Jedenfalls: Eine Dramaturgin dieser Company, Caroline Jester, rief im Jahr 2009 ein innereuropäisches Theaterprojekt ins Leben, das sich diesbezüglich auf die Suche machen sollte. Eine europäische Recherche sozusagen. Das Ergebnis ist mittlerweile zu besichtigen – mit freundlicher Unterstützung der Europäischen Kommission. Die Uraufführung des achthändig verfassten Stücktextes – die Autoren sind Lutz Hübner (Deutschland), Małgorzata Sikorska-Miszczuk (Polen), Tena Štivičić (Kroatien) und Steve Waters (Großbritannien) –
war vor wenigen Wochen in Zagreb zu erleben. Das Staatschauspiel Dresden zeigt nun die deutsche Erstaufführung. Polen und Großbritannien werden folgen.

europa1 560 mara bratos zkm uIm kahlen europäischen Zimmer: Małgorzata Trofimiuk, Annett Krause, John Flitcroft, Mathias Bleier, Jerzy Pożarowski  © Mara Bratoš / ZKM

Die Kulisse scheint sich die beliebte Metapher vom europäischen Haus zu eigen zu machen, allerdings nicht, ohne sie gleich wieder auf ein alltägliches Maß zurecht zu stutzen. Zu sehen ist auf der Bühne von Sven Jonke und Ivana Radenovic nämlich kein Haus, sondern nur ein einziges, eher kahles, ziemlich unpersönlich wirkendes Zimmer. Es gibt einen weißen Bürotisch samt Stuhl, sonst wenig. Die Topfpflanzen hat man vergessen. Allerdings scheint die Farbe Blau auf dem Boden und an den Wänden hier und da vorsichtige Präsenz zeigen zu wollen. Man kennt dieses leuchtende Blau. Es stammt aus der Flagge der EU und wird sich hoffnungsfroh ausbreiten im Laufe des Abends.

Konfliktgeladenes Kammerspiel

Und was gibt es hier, in diesem europäischen Zimmer? Das Erwartbare: Misshelligkeiten, Verdruss, Streit. Zudem: Mentalitäten, Temperamente und Ressentiments, die zuverlässig auch dann aufbrechen, wenn man sie aus dem Spiel zu halten versucht. Obendrein: Sprachbarrieren und Verständigungsschwierigkeiten wie im richtigen Leben. Menschen aus vier Ländern gehen ein und aus wie in einem Büro mit Publikumsverkehr: Polen, Kroaten, Engländer und Deutsche. Sie begegnen sich auf diesen 30 Quadratmetern, sprechen vier Sprachen und müssen sich irgendwie zusammen raufen. Europa ist hier ein konfliktgeladenes Kammerspiel, in dem das Miteinander als Nahkampf misslingt, mal sublim, mal offen ausgetragen.

europa2 560 mara bratos zkm uJadranka Đokić, Elexi Walker, Krešimir ­Mikić  © Mara Bratoš / ZKM

Eine durchgängige Geschichte wird nicht erzählt. Der Abend ist mehr eine szenische Collage über kulturelle Diversität, über Hoffnungen und Ängste, über die Probleme des Zusammenlebens. Etwa im Rahmen eines Vorsprechens irgendwo in einem Brüsseler Büro. Zwei Mitarbeiter der europäischen Kommission – sie ist Deutsche, er Brite, beide sind adrett gekleidet – empfangen Künstler aus der Balkanregion, die einer nach dem anderen ihre geplanten Kunstprojekte präsentieren und finanzielle Förderung aus EU-Töpfen erhoffen. Die Gespräche verlaufen bemüht bis holprig, sie eskalieren unschön.

Oder: Eine junge Frau mit kroatischen Wurzeln wird von Geheimdienstmitarbeitern grobianisch gedrängt, ihre Unterschrift unter ein Schriftstück zu setzen, offenbar ein Geständnis. Zusammen mit ihrem pakistanischstämmigen Freund ist sie unter Terrorverdacht geraten. Sie versucht alles zu erklären, es ist aber alles nicht so einfach. Oder: Eine Polin klagt ihr Leid mit ihren kleinen Brüsten. Ihre Hoffnung ist grotesk. Sie hofft inständig, dass bei ihr eine bestimmte genetische Disposition mit sehr hohem Brustkrebsrisiko diagnostiziert wird. Im Rahmen eines EU-Programms bekäme sie dann eine Amputation bezahlt, brusterhaltend natürlich und gewiss auch brustvergrößernd. Nebenbei erhielte sie den genetischen Nachweis dafür, dass sie jüdische Wurzeln hat. Auch das käme ihr sehr gelegen.

Interkulturelles Divertimento

Der aus Polen stammende Regisseur Janusz Kica (ein ehemaliger Assistent von Andrzej Wajda, der viel im deutschsprachigen Raum aktiv ist) und seine acht Darsteller (je zwei der beteiligten Theater) haben Szenen wie diese zu einem vielstimmigen, eher leichten Abend zusammen gebunden, irgendwo zwischen interkulturellem Divertimento und Lose-Blatt-Sammlung über die ewige Wohngemeinschaft Europa. Sonderlich aufregend ist das alles nicht geraten, sondern eher nett und harmlos und am reizvollsten noch in der satirischen Überspitzung. Aber was solls?! Im Grunde ergeht es dem Theater nicht so viel anders als der großen Politik. Europa ist vor allem eine Idee. Ihr mit theatralen Mitteln nachzuspüren ist offenbar nicht weniger kompliziert, anstrengend und schwierig als der Versuch, sie politisch mit Leben zu erfüllen.

 

Europa
von Lutz Hübner (Deutschland), Małgorzata Sikorska-Miszczuk (Polen), Tena Štivičić (Kroatien) und Steve Waters (Großbritannien)
Regie: Janusz Kica, Bühne und Kostüm: Sven Jonke, Ivana Radenovic, Musik: Stefan Węgłowski, Licht: Simon Bond, Dramaturgie: Caroline Jester.
Mit: Mathias Bleier, Jadranka Ɖokić, John Flitcroft, Annett Krause, Krešimir Mikić, Jerzy Pożarowski, Małgorzata Trofimiuk, Elexi Walker.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
Koproduktion mit Junges Theater Zagreb, Birmingham Repertory Theatre und Teatr Polski Bydgoszcz

www.staatsschauspiel-dresden.de
www.europaplay.eu

 

Kritikenrundschau

In der Sächsischen Zeitung (27.5.2013) schreibt Lukas Pohlmann: Der vielsprachige Abend sei nicht nur dank Übertiteln mühelos verständlich. Episoden der Identitätssuche seien komisch, bis das Lachen im Hals stecken bleibe, "wenn Zollbeamte der mythischen Europa den Namen nicht glauben, sondern ihn für das Ziel ihrer Migration halten." Pohlmann entdeckt n den Texten aktuell dramatisches und tragisch unterhaltsames. Die Suche nach der Antwort auf die Frage, was Europäisches Denken sein könnte, sei intellektuell und kulturell anregend und unterhaltsam und sich ihrer Erfolglosigkeit "positiv bewusst". "Eine bemerkenswerte Leistung der Autoren und des internationalen Ensembles."

Die Text-Versatzstücke der vier Autoren bewegten sich im Spannungsfeld zwischen Legenden und realen Labyrinthen, schreibt Bistra Klunker in den Dresdner Neuesten Nachrichten (27.5.2013). Die Szenenansammlung sei manchmal zäh, nicht sonderlich kritisch und typisiere zu sehr. Die Selbstbespiegelung der Inszenierung durch Live-Verfilmung des Bühnengeschehens wirke zunächst originell, nerve aber zunehmend.

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