Darwins Alpträumchen

von Dennis Baranski

Mannheim, 1. Juni 2013. "Du bist alleine in deinem Haus am See", beginnt das Ensemble chorisch ein Szenario zu zeichnen, das scheinbar einen Suizid abbildet. "Du", das sind Sie und ich, das ist Jedermann – allerdings einer mit beträchtlichem Vermögen. Doch bis das Spiel vom vermeintlichen Sterben eines reichen Mannes erzählen kann, muss erst einmal Leben entstehen. Und das nimmt Philipp Löhle wörtlich. Tatsächlich sogar streng wissenschaftlich.

Am Mannheimer Nationaltheater holt der junge Dramatiker also etwas weiter aus: Seine von Katrin Lindner zur Uraufführung gebrachte Auftragsarbeit "Du (Normen)" beginnt am Anfang allen Seins. Ganz am Anfang. Die Komödie zurück bis zur Ursuppe.

Mutter Flugbegleiterin, Vater unbekannt

Wortwitzig zum ersten Teil einer nach Geschlecht unterteilten "Dulogie" erklärt, die den zweiten Teil "Du (Norma)" noch schuldig bleibt, haben demnach im Schauspielhaus die Herren der Schöpfung, Pardon, der Evolution den zweifelhaften Vorzug, exemplarisch vorgeführt am Fallbeispiel Normen. So jedenfalls wird die befruchtete Eizelle bald heißen.

Ein Parforceritt durch die Entstehung des Lebens zoomt deren Geschichte heran, verliert rasch an Geschwindigkeit und gebiert den geneigten Betrachter ausgerechnet in die Enge einer Flugzeugtoilette. Nüchtern gestaltet sich dort Normens Ursprung: Mutter Flugbegleiterin, Vater unbekannt.

Zumindest ist er Lutz nicht bekannt, bekleidet von Klaus Rodewald in bester Spiellaune, dem an der Seite einer unglücklich besetzten und weit hinter ihrer gewohnten Form agierenden Anke Schubert die zaghaft angezweifelte Vaterrolle quasi naturgemäß missfällt. "Das Ding" aber lässt sich nur schwerlich wegdiskutieren – und Mutti arbeitet gern auf Langstrecke. Nicht die allerbesten Voraussetzungen für eine sorglose Kindheit.

Survival of the fittest war gestern

Davon unbeirrt macht sich ein vom Spaß an kindlich-naiver Neugier getragener Sven Prietz auf große Entdeckungsreise. Als heranwachsender Normen erfährt er Solidarität und Mitgefühl, aber auch Ungerechtigkeit, Enttäuschung und Zorn. Unter den dokumentarisch-distanzierten Augen stets wechselnder Erzähler werden prägende Stationen seiner Sozialisation durchlaufen, was die Löhle-erprobte und präzise mit dem Personal haushaltende Regisseurin (zunächst) temporeich auf Tobias Schuncks betont kitschige Seepanorama-Einheitsbühne zu übersetzen versteht.

normen1 560 hansjoergmichel hFieser Kapitalist oder bloß niedliches Raubtier: Sven Prietz als Normen. © Hans Jörg Michel

Doch der Charakter verdirbt zügig. Knappe Finanzen während seines Biologiestudiums machen Normen erst kreativ und dann schnell zum rücksichtslosen Geschäftsmann. Survival of the fittest war gestern. Nicht Stärke, schon gar nicht Bildung, sondern individuelle Nutzenmaximierung sichert den Fortbestand des Homo oeconomicus. Ausgerechnet das Entwicklungshilfe-Engagement von Jugendfreundin Lena sollte den Grundstein des beispiellosen Aufstiegs zementieren: Textilien wird er produzieren, billiger als die Konkurrenz, durch Kinderarbeit in Indien. Parallelen zu prekären Arbeitsverhältnissen in Bangladesch und dem Textildiscount-Gründer Jost Stefan Heinig sind offenbar – aufwändig angelegte Schnittmengen bleiben hier allerdings auf der Strecke. Adieu Jedermann.

Niedliches Raubtier

Dabei verlangsamt sich analog zu Löhles durchdachtem Erzählstil auch Lindners streng vom Papier gespielte, bisweilen etwas biedere Inszenierung konsequent über den Spielverlauf – bis hin zum völligen Stillstand. Ein gelungener Kunstgriff, der mit dem Standbild einer orgiastischen Firmenfeier Höhe- und Wendepunkt markiert, bevor den Entrepreneur kurz vor Schluss doch noch seine Sünden einholen.

Allein Prietz vermag dieser so stimmig gearbeiteten Ankunft in der Gegenwart nicht recht zu folgen. Sein Normen verharrt in der Adoleszenz. Er gibt den Raubtierkapitalisten nicht – wie im Text angelegt – einfach, sondern reichlich einfältig, was weder ins Spiel noch zu der Figur des skrupellosen Industriellen passen will.

Diese vertrottelte Niedlichkeit untergräbt freilich das mühsam überzeichnete Bild des gierigen Psychopathen. Löhles plakativ ausgewalzte Konsum- und Kapitalismuskritik bringt der solide und unaufgeregt gearbeitete Theaterabend letztlich aber dennoch an den Mann. Wenn auch als nette Gutenachtgeschichte.

 

Du (Normen) (UA)
von Philipp Löhle
Regie: Katrin Lindner, Dramaturgie: Tilman Neuffer, Bühne: Tobias Schunck, Kostüme: Birgitta Weiss.
Mit: Thorsten Danner, Sabine Fürst, Sven Prietz, Reinhard Mahlberg, Klaus Rodewald, Anke Schubert, Dascha Trautwein.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Mehr zu Philipp Löhle in Mannheim: Am gleichen Theater wurde zuletzt sein Stück supernova (wie gold entsteht) uraufgeführt, das auch zu den Autorentheatertagen nach  Berlin eingeladen wurde.

 

Kritikenrundschau

Philipp Löhles "Versuch, seine fröhliche Gesellschaftskritik diesmal von hinten und oben, quasi aus Adlerperspektive der Evolution, aufzuzäumen", gehe daneben, meint Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.6.2013). "Nicht nur, weil 'Normen' Themenkomplexe wie Geldwäsche, Medikamententests, Ausbeutung und Lebensmittelspekulation nur oberflächlich und geschwätzig streift: Auch die Regie vermag Normens kleine Lebens- und die große Weltgeschichte nur selten zur Deckung zu bringen." Katrin Lindners Inszenierung stürme "anfangs noch im Sauseschritt durch die Evolutionsgeschichte", verliere dann aber "Überblick und Tempo. Die Sexsause beim Firmenjubiläum markiert Höhe- und Wendepunkt des rasenden Stillstands; danach geht es nur noch bergab." Löhle scheine "den Scheitelpunkt seiner Laufbahn überschritten zu haben. Was einmal eine originelle Kreuzung aus munterer Satire und gespielter Empörung war, verflacht zum faden Gewitzel."

"Wieso glaubt ein Dramatiker, sich als Amateur-Ethnologe, Anthropologe, Historiker betätigen zu müssen, obwohl seine Kenntnisse ersichtlich bescheiden sind?" fragt Christian Gampert auf Deutschlandfunk (3.6.2013). Philipp Löhle sei "bislang als Autor für politisch korrektes Gebrauchstheater bekannt" gewesen; derjenige aber, der "diesen ranzigen Quark" nun inszenieren solle, sei "wirklich zu bedauern. Die Regisseurin Katrin Lindner rettet sich ins Kabarett, als wolle sie das Grips-Theater nochmal neu erfinden, die Schauspieler zappeln und overacten, abrupte Stimmungswechsel, mal ganz traurig, mal ganz lustig, mach mal dies, mach mal das - sind wir hier an der Schauspielschule, oder was?"

"Wie können eigentlich all die 'bösen' Menschen ruhig schlafen?", sei, so berichtet es Ralf-Carl Langhals im Mannheimer Morgen (3.6.2013), die Ausgangsfrage von Philipp Löhle für "Du (Normen)" gewesen. Kunstvoll lasse Löhle in dem Stück bei Täter und Opfern "den langen Weg der individuellen Entscheidungsfindungen im Dunkel unserer Vorstellungskraft, ihn interessiert die normative Kraft des Faktischen: Machst du's mit oder machst du's nicht?" Zeigefinger brauche Philipp Löhle "hierfür keinen, geradezu hintersinnig und unangestrengt ist dieser Text, der leider in der einfallslosen Breitwandausstellung von Regisseurin Katrin Lindner verliert. Unbeholfen geht sie mit den Zeitsprüngen um, und selbst das – für diese wortreiche und eine Spur zu umfassende Welterklärung – absolut notwendige Tempo geht bereits zu Normens Abiturzeiten flöten." Sven Prietz immerhin beweise als Titelfigur, "dass er auch in einer Komödie hochkonzentriert harmlos die einzige ernste Figur zeigen kann".

Philipp Löhle zeige "den modellhaften Aufstieg eines modernen Jedermanns, der rasch kapiert, dass mieses Verhalten richtig lohnend sein kann", schreibt Monika Frank in der Rhein-Neckar-Zeitung (3.6.2103). "Sinn der satirisch aufgelockerten Sozialstudie" sei "das Austeilen von Denkanstößen. Jeder Zuschauer soll sich fragen: Wie viel von der Titelfigur 'Du' steckt in mir, und wie weit ist deren Verhalten schon eher Regel als Ausnahme?" Katrin Lindner habe Löhles Text "angenehm schwerelos in Szene gesetzt. Dass die überwiegend zügig abrollende dichte Mischung aus Erzähl- und Spieltheater zwar nie langweilt, aber doch ab und zu an Spannung verliert und in etwas zähflüssigeres Fahrwasser gerät, ist eher dem dann doch allzu geschwätzigen Stück und dessen simpler Dramaturgierals der insgesamt überzeugenden Inszenierung anzulasten." Sven Prietz zeige darin "einen nun wirklich erschreckend durchschnittlichen Fiesling, der fast gegen seinen Willen von einem allgemein wirksamen Sog erfasst wird, der ihn unaufhaltsam weiter treibt".

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