Wi-Fi in der Höhle

von Leopold Lippert

Wien, 4. Juni 2013. Zu Beginn passiert gut zehn Minuten so gut wie gar nichts. Ein Streichquartett vom Band spielt Schostakowitsch. Nebel wabert durch den Saal. Im schummrigen Licht kann man ein Holzgerüst mit Spanplatten und Plexiglas erkennen, ein größeres Zimmer wahrscheinlich. Dann einen improvisierten Eingang zu einer Höhle. Am Boden schließlich eine Sumpflandschaft. Irgendwann werden schemenhaft drei Gestalten sichtbar, und eine LED-Laufschriftanzeige schaltet sich ein. Sie wird in Endlosschleife bis zum Ende des Stücks dreisprachig die Programmpunkte des Abends verkünden. Dieser fremdartige, entrückte Ort, so erfahren wir, heißt Swamp Club, ein Kunstzentrum im Nirgendwo, das Philippe Quesne mit seiner international besetzten Truppe Vivarium Studio in der Halle G des Wiener Museumsquartiers bespielt

Ausgiebiges Saunieren

Zeit scheint keine Rolle zu spielen im sumpfigen Niemandsland. Sie wird zerdehnt, beinahe zum Stillstand gebracht und in ihrer endlosen Langsamkeit ausgestellt. Drei Zivilisationsmenschen trudeln ein, weil sie vergessen haben, wie es sich anfühlt, im Sumpf zu leben. "You will stay two weeks, three weeks, no?", fragt ein Bewohner. "Three months!", kommt zur Antwort zurück. Zwei Wochen, drei Monate, wen kümmert das schon. Im Swamp Club wird die Dauer spürbar und zugleich vollkommen irrelevant. Die Produktionsmaxime des Kunstbetriebs gelten hier nicht, und für ausgiebiges Saunieren, die Aussicht genießen und die Gegend erkunden bleibt so oder so genügend Zeit.

Zu den Streichquartettklängen von Mozart, Schubert und Schostakowitsch lässt Philippe Quesne im Swamp Club die Utopie einer Künstlerkommune entstehen, die kein Außen kennt, die sich nirgendwohin rechtfertigen muss. Der alleinige Referenzraum ist das Innere des Sumpfs und selbst die 3D-Animation, an der die Künstler am Laptop basteln, zeigt nichts außer eben den Swamp Club. Auch das Publikum, scheint nicht wahrgenommen zu werden.

Plötzlich Zeit haben

Trotz Mikroports sprechen die Darsteller zögerlich, seltsam innerlich und oft unverständlich. So, als ob es unendlich viel Kraft koste, die eigene Stimme hörbar zu machen. So, als ob jedes Wort doch eine Absicht durchschimmern ließe, die in der heiligen Ruhe des Sumpfs bloß fehl am Platz wäre. Trotzdem ist Quesnes Utopie keine platte Rückzugsfantasie in eine vormoderne Epoche jenseits von Urbanität und Technologie (im Swamp Club gibt es schließlich Wi-Fi!), sondern ein geglücktes Infragestellen des Zusammenspiels von Tempo und Aufmerksamkeit.

swampclub2 560 martin argyroglo uIm "Swamp Club" © Martin Argyroglo

Über weite Teile läuft diese Auseinandersetzung auf totale Negation hinaus. Die vierte Wand scheint hier aus dickem Stahlbeton zu sein, oder eben aus einem nicht enden wollenden Vorrat Trockeneis. Das macht Kurioses mit der Zuschauerpsyche. Als nach schier endlosem Gemurmel eine Sumpfbewohnerin den Neuankömmlingen die Höhle zeigt und sagt "Hier ist eine Grotte", bricht im Publikum hysterisches Gelächter aus. Es ist eigentlich gar nicht so lustig, aber ein willkommenes Ventil, um sich bemerkbar zu machen. "Hey, ihr Sumpfmenschen!", soll das heißen, "Wir Zuschauer sind auch noch da!"

Theater der Absichtslosigkeit

Fast wie zur Antwort lässt Quesne in der letzten halben Stunde dann doch noch so etwas wie ein Ereignis entstehen, eine märchenhafte Singularität, die den künstlerischen Mikrokosmos und damit auch Quesnes Theater der Absichtslosigkeit als Ganzes in Frage stellt. Als Unheilsbote tritt ein Riesenmaulwurf auf: Er kann als erster die Bagger hören, die im Auftrag der Stadtregierung den Swamp Club plattmachen sollen. Statt sumpfiger Selbstverwaltung soll ein "new interdisciplinary cultural center with multimedia" entstehen, eine Art Museumsquartier also.

Die Gefahr ist doppelbödig und das Ende offen. Die mickrige Pyrotechnik, die das Theater aufzubieten hat, scheint für ernsthaften Widerstand zu wenig, und so werfen sich die Sumpfmenschen Felle über und gehen in den Untergrund. Ob es ein Überwintern ist, die Vorbereitung zum Gegenschlag, oder doch eine Kapitulation, bleibt unklar. Als die Lichter im Saal angehen, laufen die gut geschmierten Theatersmalltalkmaschinen jedenfalls wieder auf Hochtouren.



Swamp Club (UA)
von Philippe Quesne
Mit: Isabelle Angotti, Snæbjörn Brynjarsson, Yvan Clédat, Cyril Gomez-Mathieu, Ola Maciejewska, Émilien Tessier, Gaëtan Vourc'h. Streichquartett: Rainer Sulzgruber, Thomas Dietl, Lukas Neudinger, Markus Schmölz.
Dauer: 1 Stunde, 45 Minuten, keine Pause.

www.vivariumstudio.net
www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

Von einem "selig selbstvergessenen Abend" spricht Ronald Pohl im Wiener Standard (6.6.2013). "Quesne hat eine Potemkin'sche Ruheanlage errichten lassen, ein Grünareal für Komplettaussteiger. Die kulturelle Nutzung wird durch ein Streichquartett sichergestellt. Die Herrschaften fiedeln eingangs Schostakowitschs achtes Quartett. Man ahnt als Hörer der verzehrenden Klänge sofort, es wird mit dem Schmuddelparadies kein gutes Ende nehmen."

Philippe Quesnes "postdramatisches Theater" wirkt auf Barbara Petsch von der Wiener Presse (6.6.2013) "teils charmant, überwiegend aber langweilig". Lustig fand sie vor allem, "dass bei der Premiere Dienstag die Besucher bei dieser Meditation im Dschungelcamp einander zwischendurch fragend und forschend anschauten: Guckst du noch, oder schläfst du schon?"

"Die Bühne ist bei Quesne ein künstlicher Lebensraum. Die Schauspieler, die sich darin bewegen, werden von den Zuschauern wie seltsame, niedliche Tiere betrachtet", so Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (7.6.2013). Die vierte Wand bleibe stets dicht verschlossen. Fazit: "Philippe Quesne, dieser wunderbar versponnene Regisseur, spielt mit dem Theater wie andere mit ihrer Modelleisenbahn."

 

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