Wenn der Körper abhanden kommt

von Steffen Becker

Stuttgart, 7. Juni 2013. Als mein Vater ins Koma fiel, waren wir ihm dankbar für sein Patiententestament. Das Abschalten der Maschinen konnten wir so als seine ureigene Entscheidung ansehen, die wir nur ausgesprochen hatten.

Als Maria-Cristina Hallwachs betäubt in der Klinik lag, nachdem sie aus Übermut in ein Nichtschwimmerbecken gesprungen war und sich das Genick gebrochen hatte, mussten sich die Mediziner streiten, die Eltern quälen und alle warten, bis sie sich selbst entscheiden konnte. Über 20 Jahre später rollt sie über die Bühne des Schauspiels Stuttgart und berichtet in der Produktion "Qualitätskontrolle" des Theaterkollektivs Rimini Protokoll wie sie die Ethikkommission, das Mitleid, die Prognosen, die Gutachten und ein rätselhaftes Koma überlebte.

Hatte sie Glück? Und zu welchem Preis? Die zweite Frage kann sie recht genau beziffern. 90.000 ungeplante Arbeitsstunden habe ihr neues, vom Kinn abwärts gelähmtes Leben, bisher verursacht. "Pflegestufe 3+, mehr geht nicht. Meine Pflege kostet in der Stunde soviel wie ein Olivenbäumchen im Gartencenter. Meine Sitzhöhe. Winterhart. Die Krankenkasse übernimmt das."

Nutzlose Esser

Eine Sonntagszeitung titelte kürzlich mit der Frage "Wie teuer darf Hoffnung sein?". Der Text handelte von einem Krebsmedikament, das das Leben (vielleicht) etwas verlängert. Ein damit behandelter Patient und sein Arzt erklären übereinstimmend, dass sie dessen Preis für zu hoch halten. Nur die (profitorientierte) Pharmaindustrie darf dafür plädieren, dass die Gesellschaft diese Kosten tragen sollte. Sie liegen deutlich unter denen für die 24-Stunden-Betreuung einer Gelähmten. Mich hat der Text daran erinnert, bei meiner Krankenkasse nachzufragen, wo denn die zugesagte Teilrückzahlung für meine Leistungsfreiheit bleibt. Im Rückblick komme ich mir deswegen schäbig vor.

qualitaetskontrolle3h 280 matthiasdreher uMaria-Christina Hallwachs © Matthias DreherHallwachs bittet ihren Pfleger ihren Zwerchfellschrittmacher neu einzustellen. Das Gerät steuert ihre Atmung. Weil sie zur Premiere aufgeregt ist, braucht sie eine höhere Frequenz. Dann hat sie Luft zum Spielen: Eingerahmt vom digitalen Grundriss des Nichtschwimmerbeckens deckt sie etwa beim Holocaust-Memory Karten auf mit Bildern von Schloss Grafeneck. Um die Ecke, auf der Schwäbischen Alb, wurden dort 10.000 Menschen in einer Tötungsanstalt für Kranke und Behinderte "entsorgt". Dazu passend Nazi-Plakate, die vorrechnen, wie viel ein gesunder Mann zu schultern hat, um nutzlose Esser mit durchzufüttern.

Auf dem Partybrett

All das schildert Maria-Cristina Hallwachs mit einer distanziert-amüsierten Haltung. Ein bisschen wirkt es so, als schildere sie nicht ihr eigenes Leben (zu dem auch eine geistig behinderte Schwester gehört), sondern als lasse sie eine Insiderin berichten. Eine Mittelsfrau, die den verblüfften, ahnungslos "normalen" Menschen im Publikum locker im Vorbeirollen zeigt, was man unter Inklusion versteht (beim Fußballspielen muss der gesunde Pfleger eine Augenbinde tragen, der Chancengleichheit wegen), dass es keine gute Idee ist, sie bei einer Party mit einem Brett auf dem Sofa zu stabilisieren (verursachte eine Scheuerwunde, die Feier war es aber wert) und wie man sie füttert (nicht mit dem Löffel über den Mund streichen wie bei einem Baby).

Sie macht das mit einem entspannten Humor, der von der Bühnentechnik mit unaufdringlichen Gimmicks unterstützt wird – wie mit einem Lichtparcours, den sie für eine Wettfahrt mit dem Pflegepersonal nutzt; 45 Sekunden dauert es, bis sie das Ziel erreicht, ein Podest mit Buch. So lange braucht manchmal auch das Umblättern, wenn eine Seite verklebt. Gleichzeitig illustriert diese Sprechhaltung des Neben-Sich-Stehens auch die grundlegende Frage nach dem Ich, die "Qualitätskontrolle" aufwirft. Hallwachs ist nicht nur ihr Körper abhanden gekommen, sondern auch der ursprüngliche Lebensplan, viele Perspektiven, sie führt das Leben einer Anderen.

Fortschreibungen des früheren Ichs

Als Hallwachs sich räuspern will, führt ihre Pflegerin durch den Verschluss zu ihrer Luftröhre einen Schlauch ein. Wir hören Saug- und Röchelgeräusche, Nackenhärchen richten sich auf. Wir haben neugierig hingeschaut, wie sie ihren Rollstuhl bedient (Kinn-Joystick), aber die Entsorgung von Lungenschleim kommt uns zu nahe. 90 Prozent aller Behinderungen sind nicht angeboren. Zeit für ein paar fiese Gedankenspielchen: Das Gefühl totalen Ausgeliefert-Seins – was würde es mit mir anstellen?

Helgard Haug und Daniel Wetzel, Autoren und Regisseure von "Qualitätskontrolle", finden auch für diese Spaltung eines Lebensweges einfühlsame Bilder. In ihrem cremeweißen Kostüm sitzt Hallwachs vor einer Leinwand. Auf sie werden wechselnde Outfits projiziert, wie etwa eine Gartenarbeitskluft. Sie hat einen Garten, die Fortschreibung ihres früheren Ichs hätte ihn wahrscheinlich gerne gepflegt. Stattdessen wünscht sie sich nun zu Beginn des Stücks, in einer Plastikblase durch die Gegend zu fahren, um den Menschen näher zu kommen ("Die meisten denken, ich könnte verletzlich sein"). Zum Ende erfüllt sich dieser Wunsch und Rimini Protokoll projizieren ein Video von einem Segelflug auf deren Außenhülle. Man sieht darin keine Behinderung, nur Lebensfreude und Normalität.

Allerdings wird in die Blase nicht nur Luft, sondern auch ein Überbau gepumpt. Hallwachs hatte im Vorfeld zu "Qualitätskontrolle" mit werdenden Müttern über Pränataldiagnostik gesprochen. Das Thema kommt geballt zum Schluss: Next Generation Sequenzing, eine Endzeitvision, Aussagen eines Humangenetikers über Trisomie 21 / Downsyndrom. Ein wilder Mix, der völlig unverbunden zum persönlichen Kern des Abends steht, aus dem sich die anderen Exkurse ableiten: Dieses Ende macht den Eindruck, als wollte man noch schnell weg vom Einzelfall, hin zur gesellschaftlichen These. Die bleibt allerdings in der Blase hängen. "Ich lächle. Oft", sagt Hallwachs noch. Am Ende zählt auch nur das.

 

Qualitätskontrolle
von Rimini Protokoll
Uraufführung
Konzept/Regie/Text: Rimini Protokoll (Helgard Haug, Daniel Wetzel)
Bühne: Marc Jungreithmeier, Marco Canevacci Dramaturgie: Sebastian Brünger
Mit: Maria-Cristina Hallwachs, Timea Mihályi, Admir Dzinic
Dauer: 1 Stunde, 40 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de
www.rimini-protokoll.de

 

Kritikenrundschau

Von einen anregenden und zugleich nachdenklichen Theaterabend spricht Armin Friedl in den Stuttgarter Nachrichten (10.6.2013). Es gelinge Rimini Protokoll und ihrer Protagonistin, ein ungewöhnliches Leben angemessen zu beschreiben, ohne in falsches Pathos zu verfallen.

Ein Glanzlicht der schon für abgeschlossenen gehaltenen Ärea Hasko Weber zeigt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (10.6.2013) an. Der Abend sei "ungeheuer intensiv und von Rimini-Protokoll verspielt hintergründig eingerichtet". Das Spiel der Protagonistin vermittele nicht nur etwas vom Alltag mit Querschnittslähmung, es dringe sogar in die NS-Vergangenheit und deren Umgang mit jenen ein, die die Nazi-Qualitätskontrolle nicht bestanden hätten und deren Leben für nicht lebenswert erklärt wurde. "Wenn Maria-Cristina Hallwachs vom Leben mit Querschnittlähmung erzählt, lässt sie ihr Publikum nicht gelähmt zurück. Im Gegenteil. Sie pumpt ihm im Nord neuen Lebensmut in die Adern. Trotz allem."

Jürgen Berger schreibt in der Süddeutschen Zeitung (18.6.2013): Maria-Cristina Hallwachs unterziehe im Staatstheater ihr eigenes Leben einer 'Qualitätskontrolle'. Sie frage sich: "Wenn es so etwas wie lebenswertes Leben gibt, wer entscheidet dann, ab wann eine wie ich auf der sicheren Seite ist?" Es höre sich paradox an, aber es sei so: "Maria-Cristina Hallwachs, die (...) von einem Zwerchfellsimulator beim Atmen unterstützt" werde, helfe mit ihrer Souveränität auf der Bühne nicht nur sich selbst, "sondern auch dem Publikum beim Schauen auf ein Leben, das zwei Herzstillstände überstanden hat". Die Protagonistin habe schwangere Frauen treffen und sie fragen wollen, "wie sie auf eine Fruchtwasser-Untersuchung reagieren würden, die genetische Risikofaktoren offenbart". Sie zitiere das "gestische Vokabular der schwangeren Frauen", das "in der Regel ein behütendes ist". Erst dann folge die knappe Information, "im Fall eines zu erwartenden Down-Syndroms bevorzugten derzeit fast alle Frauen einen Schwangerschaftsabbruch."

 

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