Höllengleichnis mit Leitern

von Andreas Wilink

Recklinghausen, 13. Juni 2013. Die Hölle ist nicht kalt oder heiß, sondern ein Wechselbad extremer Temperaturschwankung. Das teilt der Leibhaftige dem "Doktor Faustus" Adrian Leverkühn in Thomas Manns großem Teufelsgespräch als Spezialität des gottverlassenen Unortes mit. Auch in Samuel Becketts Prosatext "Der Verwaiser" begegnen wir dem Wandel von Kälte und Glut, Licht und Finsternis. Der kühn kurzen Strichfassung in Peter Brooks szenischer Lesung fällt diese atmosphärische Einzelheit zum Opfer oder wird nur ahnungsweise durch die Beschreibung ausgetrockneter Schleimhäute aufgerufen.

"Es ist das Innere eines niedrigen Zylinders mit einem Umfang von fünfzig Metern und einer Höhe von sechzehn wegen der Harmonie", heißt es zu Anfang von "Der Verwaiser". So berichtet es Miriam Goldschmidt über diese "Bleibe", deren neutraler Terminus bei ihr halb spöttisch, halb vorwurfsvoll klingt.

derverwaiser3 560 salvatore pastore uMiriam Goldschmidt mit Leiter © Salvatore Pastore

In der fensterlosen, aus Hartgummi geformten Arena, die in Reichweite Gelasse, Nischen, Waben aufweist, fristen nackte Körper, an die 200, beiderlei Geschlechts und jeglichen Alters, das Dasein. Gefangen in Zeitlosigkeit, denn Anfang und Ende sind "undenkbar". Sie befinden sich in verschiedenen Bewegungsphasen wie Figuren einer Choreografie, die einem präzisen Reglement und einer "inneren Sanduhr" folgen. Es gibt Sesshafte, Wartende, Wandernde, Sucher, Kletterer, die über Leitern in die Höhlen aufsteigen und in Tunneln nach einem "Ausweg zu Erde und Himmel", nach "Zufluchtsstätten der Natur" forschen, womöglich nach einer Klapptür in der Decke, die einem Gerücht zufolge existiert; schließlich gibt es so genannte Besiegte.

Die Negation von Gemeinschaft als Vision

Eines der ersten Worte, das die Goldschmidt auf ihrer sich im Halbkreis aus dem Bühnendunkel hebenden Spielfläche des kleinen Recklinghäuser Festspiel-Theaters sagt, lautet "vergebens", von ihr begleitet mit einer wegwerfenden Handbewegung. Spricht sie guttural von "Harmonie", folgt ein klingelndes, zirpendes Echo vom Instrumenten-Pool mit einigen exotischen Klang-Apparaturen wie einer Art Xylophon, Schlegeln, einem fiependen Rohr oder einer Trommel, massiv bestückt mit Saiten-Säulen und mit Zinken zu bearbeiten. Das lässt sich verschmerzen.

Große Begriffe wie "Glauben", "Brüderlichkeit" oder "seelische Not" kostet und staunt die Schauspielerin sinnend aus, als ob sie den Zweifel hervorschmecken wolle. Geht die Rede vom "Kuss" – denn auch die isolierten Restkörper haben ein, wenngleich reduziertes Liebesleben – machen die Lippen ihres unglaublichen Moreau-Mundes ein knallendes Geräusch.

Becketts wie ein Rondo gebauter Text verbindet Platons Höhlengleichnis und ein Motiv aus Dantes "Göttlicher Komödie" zum Höllengleichnis. Die Negation von Gemeinschaft als Vision, die die Inschrift "Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!" tragen könnte, entsprechend dem Tor zur Hölle in Dantes Drittem Gesang. Oder ist es eine Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit? Vielleicht verbirgt sich Barmherzigkeit hinter Becketts zynischer Feststellung: "Alles ist also aufs Beste bestellt. Denn nur im Zylinder gibt es Gewissheit, und draußen nichts als Rätsel."

Schlagwerkzeug und phallisches Gerät

Doch auch diese zentrale Stelle kommt bei Brook nicht zu Gehör. Die Verdammten bringen die Zeit hinter sich. Unentwegt. Was ihnen bleibt, ist das Streben nach Licht aus dem Dunkel ihrer Umnachtung, gleich wie Winnie einen Grund zu überleben findet ("Dies wird ein glücklicher Tag gewesen sein"), Wladimir und Estragon in der Dauer des Wartens ausharren, Krapp neuerlich aus Schachtel 3 seine Tonband-Spule 5 einlegt.  

Beckett schaut auf das Gewimmel wie ein Insektenforscher, der sich für subtile Jagden interessiert. Ein Protokollant, der notiert: "falls diese Vorstellung beibehalten wird". Miriam Goldschmidt wiederum ist die dramatische Ingenieurin dieser Betriebsanleitung einer Tortur und ihrer Gesetzmäßigkeit, ist rationale Magierin und Ärztin der Post-Apokalypse.

derverwaiser2 280 salvatore pastore uMiriam Goldschmidt mit Leitersprosse
© Salvatore Pastore
Peter Brook, der erst in den neunziger Jahren begann, Beckett zu inszenieren, kommentiert hier einen Epilog, Nachhall eines Werks, das in seinen genialen Entwürfen Magie und Konkretion zusammenzubringen wusste. Die Leere – und Entdramatisierung – konnte bei ihm zum Moment der Befreiung werden. Die Partitur von Becketts Texten, ihre Instrumentierung und Phrasierung, auch ihre Offenheit bei detaillierter Präzision stehen der Goldschmidt souverän zu Gebote. Auch ohne einen Text-Körper zu schreiben. Auch ohne illustrative Zutat, wenn sie sich fragend im wolligen Haar krault, in ihren schwarzen schmalen Trikothosen einherstakst, sich an gewichtslosen Gewichten abquält, sich in die Rolle der "Besiegten" einfühlt oder ein Sprossenholz aus einer der drei aufragenden Leitern klaubt, es humpelnd als Krücke nutzt, dann als Kinnstütze, als Schlagwerkzeug und phallisches Gerät. Dabei genügt es, wenn sie nur ins Imaginäre lauscht, verwundert der Schilderung obliegt und als Balladen-Orakel andere Räume zu hören, andere Töne zu sehen scheint. Nach 50 Minuten ist alles vorbei – eine der kürzeren Ewigkeiten.

 

Der Verwaiser (Fragmente II)
von Samuel Beckett
Deutsch von Elmar Tophoven
Regie: Peter Brook (Mitarbeit: Marie-Hélène Estienne), Licht: Philippe Vialatte, szenische Elemente: Arthur Franc.
Mit: Miriam Goldschmidt.
Dauer: 50 Minuten, keine Pause
Koproduktion Ruhrfestspiele Recklinghausen und Napoli Teatro Festival Italia mit Unterstützung des Centre International de Recherche Théâtrale

www.ruhrfestspiele.de

 

 Mehr von Peter Brook? Zuletzt sahen wir von ihm Fragments, fünf Beckett-Einakter, und Warum Warum, ebenfalls mit Miriam Goldschmidt.


Kritikenrundschau

Verblüffend einleuchtend findet Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.6.2013), wie sich Peter Brook, "das größte Einfachheitsgenie" unter den Regisseuren, an Samuel Becketts Verbot hält, diesen Text szenisch zu inszenieren. Brook und die Schauspielerin Miriam Goldschmidt machten eine gelesene Reise "für uns Leser hin zu Becketts Text" daraus. So lasse man sich diese "ausweg- und trostlose Abgrund- und Endzeitlosigkeitskonstruktion" gern gefallen: wie Miriam Goldschmidt die Bühne betrete, "umzirpt und umgirrt von Francesco Agnellos Klangzaubereien, und sich umguckt und mit ihrer sinnlich gurrenden, dunkelhart funkelnden Reibeisenstimme 'diese Bleibe' sagt oder von den 'Suchern' berichtet oder davon, dass es hier 'selten zu einer Erektion' kommt", wird für den Kritiker aus Becketts ungöttlicher Tragödie eine menschliche Komödie. Es ziehe "durchs Welterfrorene ein humaner Humorhauch, ein wärmend sarkastischer Witzmoment."

Von einer knappen Stunde des Innehaltens, einem Abend, "der viele Anforderungen ans Theater verweigert und mit einfachen Mitteln eine eigene Welt erschafft", spricht Stefan Keim in der Sendung "Fazit" von Deutschlandradio Kultur (13. 6.2013, 23.05 Uhr). Der Grat zwischen Langeweile und Weisheit sei zwar ziemlich schmal, doch es beeindruckt Keim, "wie konsequent Peter Brook seinen Weg verfolgt und das Theater immer wieder auf seine Ursprünge zurück führt."

"Ein kurzer intensiver Abend", schreibt Karin Pineztki in der Westdeutschen Allgemeinen (15.6.2013). Miriam Goldschmidt sei mit ihrer unglaublichen Präsenz auch lesend ein Erlebnis auf der Bühne. Doch es bereitet der Schauspielerin dem Eindruck der Kritikerin zufolge isichtlich Mühe, sich derart zurückzunehmen".

Im Alter sei Peter Brook zurückgekehrt zur radikalen Einfachheit der Mittel, schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (15.6.2013). Doch werde die ursprünglich angestrebte Askese, "unnötig aufgemöbelt". Die Schauspielerin "will auch gefallen, sie will sich nicht vollständig zu der Zumutung zu bekennen, die dieses Projekt darstellt. Sie rollt mit den Augen, schaut amüsiert ins Publikum, spitzt den Mund, imitiert Kussgeräusche". Dieses, Unterhaltungsangebot konterkariert aus Sicht des Kritikers mitunter die Strenge, ja Brutalität der Erzählung. So stimme die die Feinjustierung der Inszenierung nicht immer. Dennoch schaut Krumbholz Miriam Goldschmidt gerne zu, "da sie eben eine charismatische Schauspielerin ist - und da das Charisma des unsichtbar bleibenden Peter Brook über der Szene zu schweben scheint." Allerdings versacke der Abend "irgendwo im Schlick, im Überangebot der Ruhrfestspiele. Es ist, als sei dieser große Theaterschöpfer, nun ja: verwaist. Er zeigt sich auch nicht beim Applaus."

 

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