Geschlachtete Schwäne

von André Mumot

Berlin, 15. Juni 2013. So furchtbar lang ist sie gar nicht, diese Nacht, aber sie fordert ein Opfer. Unbarmherzig. Es heißt Matthias Naumann, steht auf der Bühne des Deutschen Theaters Berlin und sieht bestürzt aus. Die Zuschauer applaudieren, ja, aber man möchte trotzdem nicht in der Haut des 1977 geborenen Publizisten stecken, der gerade die rücksichtslos dekonstruierte Werkstattaufführung seines ersten Stückes über sich ergehen lassen musste und nun tapfer an einem Lächeln scheitert.

"Politisch hoch interessantes" Stück ...

Aber es gibt auch noch jemanden, der sich im Publikum befindet und in diesem Moment vermutlich alles andere als glücklich ist. Sigrid Löffler, Grande Dame der deutschsprachigen Literaturkritik, ist in diesem Jahr die nicht unproblematische Ehre zuteil geworden, als alleinige Jurorin unter den Einsendungen hoffnungsvoller Nachwuchsdramatiker die drei Stücke für die lange Nacht auszuwählen, mit denen die Autorentheatertage in Berlin traditionell zu Ende gehen. Dabei hat sie im Vorfeld Welthaltigkeit und "politisch wache Zeitgenossenschaft" eingefordert und "Das Weite suchen" zum Leitprinzip erkoren. Matthias Naumanns "Schwäne des Kapitalismus" erfüllt diese Kriterien vorschriftsgemäß, und so hat sie den Text auch bereits im Vorfeld als "theatralisch und politisch hoch interessant" hervorgehoben.

schwaene des kapitalismus 2 280 arno declair h"Schwäne des Kapitalismus": Anna Blomeier, Thomas Schumacher, Sebastian Grünewald, Anita Vulesica  © Arno DeclairEine Einschätzung, die man, wie sich zeigt, nicht unbedingt teilen muss. Im Stück geht es um die Studentin Tine, die versucht, den Wert des Geldes zu begreifen, und deshalb als Empfangsdame in einer Bank anheuert, wo sie Zeuge übler kapitalistischer Klischeemachenschaften wird. Parallel dazu erlebt ein mit ihr romantisch verbandeltes Besatzungsmitglied eines deutschen Frachters die Entführung durch somalische Piraten. Dass dies ein gegenwartsrelevantes Sujet ergibt, ist offenkundig, leider jedoch verfängt der Autor sich Seite für Seite in betulich nachgekauten Wirtschaftstheorien und immer bemühteren sprachlichen Prätentionen. Mal wird in trister Jelinek-Mimikry gekalauert ("Wir raten, auf Raten, beraten mit Raten, verraten auch manchmal etwas, zum Beispiel eine Rate"), meistens aber wird bloß pathetisches, bedeutungsschwangeres Geraune geboten: "Ich unvertraue. Ich systemunvertraue. Ich will eine unkapitalische Zukunft. Der kapitalische Wert geht über die eine und über die andere und noch eine Straße. Ich sehe Gespenster wie Schwäne."

... erbarmungslos gefleddert

Regisseur Martin Laberenz kann der Versuchung nicht widerstehen, sich eine gute Stunde lang über sinnvortäuschende Stilblüten dieser Art lustig zu machen, und treibt seine virtuos albernen Darsteller durch eine hämisch den Text parodierende Revue. In Abendkleidern und Glitzerhemden besteigen die Damen und Herren eine notdürftige Showtreppe, vollführen deftigen Ausrutsch-Slapstick, bringen die aufgeschwemmten Plattitüden als Brecht'sche Moritat zu Gehör oder lassen sie in schwebender Melancholie von Mezzosopranistin Lydia Moellenhoff vortragen. Die schreiend komische Anita Vulesica bekommt für ihre entfesselte Pathosüberspitzung, die sie zwischendurch mit dem Satz "Das steht so im Text" Richtung Publikum unterbricht, schließlich sogar begeisterten Szenenaplaus.

schwaene des kapitalismus 1 560 arno declair h"Schwäne des Kapitalismus": Trystan Pütter, Anna Blomeier, Sebastian Grünewald
© Arno Declair
Für alle, die zuvor den Text lesen mussten, ist diese Aufführung gewiss ein mitreißendes, befreiendes Vergnügen, zugleich aber eine grausame Grenzüberschreitung. Die Frage liegt natürlich auf der Hand: Ist ausgerechnet die Endpräsentation eines Autorenwettbewerbs der richtige Zeitpunkt für eine derartig schadenfrohe Stückschlachtung? Wohl kaum.

Kissenfurzender Taxi Driver

Doch es herrscht zu Recht Unbehagen über die ausgewählten Texte, die man beim DT ganz bewusst nicht uraufführen, sondern eben nur in gerafften Werkstattinszenierungen antesten möchte. Zumal auch Uta Bierbaums "Schweizer Krankheit" so gar nicht zu Sigrid Löfflers Aufruf passt, doch bitte auf privatistische Familien- und Liebesgeschichten zu verzichten. Hier wird von einer Schauspielerin erzählt, die ihre Ex-Freundin stalkt, und von einem jungen Mädchen, das versucht, seinem depressiven Boyfriend näher zu kommen, in dem es sich selbst in grausige Verzweiflungen hineinsteigert. Ach ja, und dann ist da noch der Eiche-Rustikal-Taxifahrer mit Mutterkomplex, der eine insgesamt recht scheußliche Proletarierkarikatur abgeben muss, in die Sitzkissen seines Taxis furzt, manchmal "in Puff" geht und am Ende das ihn verhöhnende Mädchen in rasender Wut vergewaltigt und tötet.

schweizer krankheit 560 arno declair h"Die Schweizer Krankheit": Matthias Neukirch, Julika Jenkins, Lisa Hrdina © Arno Declair Uta Bierbaum (geboren 1980), die seit 2012 Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin studiert, hat mit der "Schweizer Krankheit" (gemeint ist das spirituelle Heimweh, das ihre Figuren in die Gefühlseskalationen treibt) ein wildes Melodram vorgelegt, voll von dick aufgetragener Poesie und aufgesetzt toughem Expressionismus. Und auch hier greift Regisseur Sewan Latchinian rettend ein, nimmt das ungelenke Kunstwollen großflächig aus dem überhitzten Text, der in diesem Jahr auch beim Heidelberger Stückemarkt im Rennen war, und versucht, aus den lyrischen Leiden eine einigermaßen sachliche, ruppige Komödie zu machen, was dank der Darsteller auch halbwegs funktioniert. Bis dann am Ende die Klosex- und Kotz- und Lustmordromantik einsetzt, gegen die kein Regiekraut gewachsen ist.

Liebenswerter, kleiner Trost

Immerhin steht dann auch noch "Exzess, mein Liebling" auf dem Programm: Ein – trotz des Titels – recht sanftes, fast drolliges Tragikomödchen, in dem ein Teenager nach seinem Selbstmord die Überlebenskämpfe seiner Hinterbliebenen beobachtet, namentlich die seines Vaters, der sich Billy Karacho nennt und eine Agentur führt, in der er Menschen auf Bestellung glücklich machen will. Es steht eine stumpf gewordene Gesellschaft auf dem Prüfstand, die konsumieren und feiern und sich nicht engagieren möchte, aber zu tieferen Erkenntnissen kommt es nicht. Dafür hat Olivia Wenzel, Jahrgang 1985, aber einen schrulligen und letztlich sehr unschuldigen Humor zu bieten.

exzess mein liebling 1 560 arno declair h"Exzess mein Liebling" von links: Thorsten Hierse, Isabel Schosnig, Varia Linéa Sjöström, 
 Thomas Schmidt  © Arno Declair

Und so tauchen in der Inszenierung von Lily Sykes plötzlich liebenswerte Figuren auf der Hinterbühne des Deutschen Theaters auf, die zwar Kid und Lila und Mimi Harper genannt werden wollen, aber dann und wann wie sensibel beobachtete, echte Menschen wirken. Am Ende sitzen ein Vater und eine Nachhilfelehrerin zusammen auf einem Matratzenstapel und sprechen ganz schlicht und in schönen, abgekämpften Sätzen über einen toten Sohn.

Das ist nicht besonders welthaltig, es ist nicht Somalia, nicht Antikapitalismus. Das ist auch gewiss kein großes Theater, aber für den Moment ein sehr schönes. Es ist ein kleiner Trost in dieser nicht allzu langen, gewiss bald vergessenen Nacht der dürftigen Dramenliteratur, ein kleines Bisschen Nähe, bevor alle Beteiligten rasch tun, was sich die Jurorin so dringend gewünscht hatte: das Weite suchen.

 

Exzess, mein Liebling
von Olivia Wenzel
Regie: Lily Sykes, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüm: Linda Tiebel, Dramaturgie: Anika Steinhoff.
Mit: Thorsten Hierse, Thomas Schmidt, Isabel Schosnig, Simone von Zglinicki, Britta Armbroester, Christine Kucera-Waldmann.

Die Schweizer Krankheit
von Uta Bierbaum
Regie: Sewan Latchinian, Bühne: Merle Vierck, Kostüm: Karin Rosemann, Dramaturgie: Ulrich Beck.
Mit: Lisa Hrdina, Julika Jenkins, Matthias Neukirch.

Schwäne des Kapitalismus
von Matthias Naumann
Regie: Martin Laberenz, Bühne und Kostüm: Aino Laberenz, Musik: Friederike Bernhardt, Dramaturgie: Malin Nagel.
Mit: Anna Blomeier, Sebastian Grünewald, Lydia Moellenhoff, Trystan Püttner, Thomas Schumacher, Anita Vulesica.

Dauer: jeweils 1 Stunde

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Die vorgestellten Stücke seien mit Substanz verfasst, interessant zu verfolgen und ernsthaft gemeint, lobt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.6.2013). "Für manche offenbar zu ernsthaft, wie Martin Laberenz auf der Hauptbühne demonstrierte, wo er mit seinem schaurig schweren Regiehammer 'Schwäne des Kapitalismus' veralberte und zerdepperte." Dabei sei das Stück von Matthias Naumann der entschlossene Versuch einer Abrechnung mit dem deregulierten Kapitalismus, gestützt auf den Begriff des "Wertes": Wo kommt er her? Wo geht er hin? Wer bestimmt ihn? Möge der Text auch mitunter didaktisch gestaltet sein, nie sei er dermaßen peinlich, wie er nun mit Klavier, Showtreppe und Schnapsflaschen als lächerliches Theater-auf-dem-Theater-Larifari verramscht werde. "Ein Ausrutscher an diesem über vier Stunden langen, ausverkauften, ansonsten gelungenen Abend."

Etwas verwundert blickt Andreas Schäfer im Tagesspiegel (17.6.2013) auf die Auswahl dieser "Langen Nacht", vor allem weil sie die im Motto apostrophierte "Weite" nicht aufweist. In Uta Bierbaums Beitrag habe man es mit einem "zarten Kammerstück" zu tun: "Die wohltemperierte Traurigkeit gipfelt in einem aufgedonnerten Gewaltausbruch, von Sewan Latchinian konzentriert in Szene gesetzt." Olivia Wenzels Stück "bietet zwar sympathische Figuren, bleibt aber konventionell und kann sich nicht entscheiden, ob es sich über den Esoterik-Kult lustig macht oder doch an die Wirksamkeit heilsamer Rituale glaubt." Größte Schwierigkeiten hat Schäfer mit der Umsetzung von Matthias Neukirchs "Die Schwäne des Kapitalismus" durch Martin Laberenz. "Der Text ist mit Foucault- und Marx-Zitaten beschwert und besteht zu guten Teilen aus öden Wirtschaftstheorien. Trotzdem: Was sich Regisseur Martin Laberenz erlaubt, geht nicht. Er macht sich über die Vorlage lustig, schlachtet das Stück vor seiner Uraufführung und lässt den Kadaver von amüsiergierigen Schauspielern genüsslich zerfetzen."

"Die Dialogpointen und die bösen kleinen Wortwitze des Stücks" von Olivia Wenzel "rauschen" in der Inszenierung von Lily Sykes "oft ungehört vorbei", schreibt Barbara Behrendt für die taz (17.6.2013). Das Stück von Uta Bierbaum bestimme ein "konstruierter Plot mit expressionistisch überzeichnetem Höhepunkt", den der Regisseur Sewan Latchinian "nüchtern angeht". Sein "Versuch, das blutige, hysterische Finale herunterzukühlen, reduziert das Stück vollends aufs Statuarische." Den größten "Publikumserfolg des Abends" landete Martin Laberenz mit einem "grausamen Jux". Matthias Naumanns "wortreiche, verkopfte, aber nicht unkluge Kritik unserer globalen Geldgesellschaft"werde von ihm "verwirbelt und verwitzelt", mit "einem Mix aus Pollesch-Imitaten, Boulevardkomödie, Revueanleihen sowie einigen Originalzitaten aus dem Stück selbst und aus Löfflers Rede". Resümee: "Dass bei einem Autorenfestival aber ausgerechnet die Inszenierung abräumt, die den Text nur auf die Schippe nimmt, stimmt doch sehr nachdenklich."

Angesichts des Kriteriums 'Welthaltigkeit' wundert sich Mounia Meiborg von der Süddeutschen Zeitung (18.6.2013) über Löfflers Auswahl: "Zwei der Dramen (...) sind recht konventionelle Kammerspiele, die um Familien- und Liebesbeziehungen kreisen". Nur Naumanns Stück wolle "dem großen Ganzen nachgehen", auch wenn man dessen "Theorie-Brocken durchaus penetrant finden" könne. Wie offenbar Martin Laberenz, der das Stück "in Grund und Boden gewitzelt" habe. Aus der "ernst gemeinten Systemkritik" mache der Regisseur "eine Theater-Gaudi", die "weniger über das Stück als über das Hierarchie-Gebaren des Regisseurs" verrate. "Subtext: Du schreibst, ich zerhack's". Vielleicht sei dieser "Ausrutscher" auch "dem hybriden Format" der "Werkstattinszenierung" geschuldet: Zehn Tage Probezeit, "ob man den Autoren damit einen Gefallen tut, bleibt offen."
Und auch als Zuschauer frage man sich, "warum man eigentlich an einem Abend drei halb fertige Inszenierungen ohne inhaltlichen Zusammenhang anschauen soll".

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