Schieß mich zum Mond, baby!

von Georg Kasch

Berlin, 19. Juni 2013. "Jetzt mit 10% mehr Inhalt!", wirbt der Programmzettel. Er könnte sich auf Momente wie diese beziehen: Prinz Sternschnuppe kommt. Er durchquert den langen leeren Raum mit angeödetem Gesichtsausdruck und defiliert am Sternenchor vorbei, knallt dabei einmal lang hin, rappelt sich auf, reißt seinen Glamrockoverall auf, um seine eher mickrige Brust zu präsentieren. Dann legt er seinen blassen Federmantel ab, während ihm Mondelfen einen Flügel hinschieben und einen viel zu kleinen Schemel. Erst versucht er vergeblich, für seinen Umhang eine passende Ablage zu finden. Dann beginnt er in peinvoller Haltung – viel zu tief sitzt er, viel zu weit weg – den Flohwalzer zu spielen. Immer wieder haut er daneben, rast plötzlich durch Isoldes Liebestod, um dann, im Bariton und in der Counter-Lage, mühelos gequält von den "losen muntren Liedern" zu singen, die bei Paul Lincke notiert sind.

Die Sterne fahren Fahrrad

Mit diesem hochnotkomischen Psychogramm ist alles über Prinz Sternschnuppe gesagt – und Linckes Operette "Frau Luna" in Herbert Fritschs Inszenierung auf einem ersten Höhepunkt. Davor war es für eine Weile unklar, ob Fritsch diesmal überhaupt die Kurve kriegen würde: Akustisch versteht man kein Wort, als der flugtechnikbegeisterte Fritz und seine zwei Kumpanen als Popper-Trio mit dick wattierten Schultern über die leere Bühne an die Rampe wanken. Auch bei der Musik fragt man sich lange: Ist die von Paul Lincke?

Sie ist's. Die Schlager der Operette, "Schenk mir doch ein kleines bisschen Liebe", "Schlösser die in Monden liegen", das Glühwürmchen-Idyll und natürlich der unverwüstliche Marsch von der "Berliner Luft, Luft, Luft" sind alle da, allerdings in Ingo Günthers völlig neuem Elektropop-Mantel – synthetische Klänge und spacige Beats, dass den Fans der späten 70er und 80er Jahre das Herz hüpfen muss. Auch in Sabrina Zwachs Textfassung steckt noch viel vom biederen Libretto Heinz Bolten-Baeckers, wo Berliner Schnauze auf Gartenlaube-Gefühligkeit und Schenkelklopfer trifft. Während Fritz technisch hoch hinaus will, fordert seine Verlobte Marie das kleine Glück. Als er dann doch loszieht mit den Gefährten und seiner biestigen Vermieterin Pusebach, landen sie auf dem Mond, wo's natürlich genauso zugeht wie auf der Erde.

frauluna2 560 thomasaurin hZwischen Madonna und Rita Hayworth – Ruth Rosenfeld als schwebende Frau Luna. © Thomas Aurin

Es sieht auch genauso aus, nur dass plötzlich der schwarze Rundhorizont aufgezogen wird und in dieses Dunkel der 40-köpfige Chor in weißen Harlekinkostümen auf beleuchteten Fahrrädern einrollt. Auch die anderen Mondbewohner sind bleiche, unförmige Gestalten, die Victoria Behr so aussehen lässt, als sei eine Zirkusausstattung explodiert und als wüchse ihnen das Gesäß auf der Stirn. Hier prasselt der erste heftige Szenenapplaus, mehr, viel mehr wird folgen in dieser oft intelligenten, oft witzigen Operetten-Dekonstruktion.

Was ist der Sex – noch Trieb oder schon Reflex?

Fritsch demontiert die harmlose Story, lässt ihre Pointen böse auflaufen und toppt sie mit seinem längst legendären, viel absurderen Körperwitz: Wieder stürzen und fallen seine wild gestikulierenden Knallchargen, prallen gegen Wände, verheddern sich ineinander. Dafür hat Fritsch völlig unmotivierte Choreografien eingebaut (nichts Neues im Showbiz): Beine fliegen, Steppschuhe klackern, vor allem bei Fritz. Die späte Auflösung "Fritz Steppke – der Name ist Programm" reiht sich mühelos in die unzähligen Doppeldeutigkeiten, Wort- und Satzverdrehungen, wo die Schauspieler harmlose Original-Formulierungen zu krachenden Zoten verstammeln ("und vögel mich in den Fickschall" heißt eigentlich "und füge dich in dein Schicksal").

Das ist auch nicht dämlicher als die Originalschenkelklopfer und legt die Freud'sche Fährte zum Generalbass der Operette: Sex. Hier treibt's jeder mit allen, und wo's bei Lincke noch ums Küssen geht, grabbelt und fummelt das Personal hier wahllos aneinander rum in einer saukomischen Schwermut, bei der unklar bleibt, ob das noch Trieb ist oder schon Reflex.

Zwischen Madonna und Rita Hayworth

Das eigentliche Wunder dieses Abends sind einmal mehr die Schauspieler. Nur wenige stammen von der Volksbühne, die anderen hat Fritsch (wie schon bei der Spanischen Fliege und Murmel Murmel) von seinen Streifzügen durch die Provinz mitgebracht, aus Oberhausen, Schwerin, Bremen. Zum Glück! Nora Buzalkas Frau Pusebach ist die antastbarere der anwesenden Sexbomben, eine Berliner Femme fatale mit Kunstschlesisch und Sinn für Realitäten. Florian Anderers Fritz lässt seine naive Fröhlichkeit mit einer Verzweiflung flackern, die alle Beschützerinstinkte aktiviert. Jakob Krazes Mond-Haushofmeister Theophil reißt die schonungslosesten Grimassen und Witze, ein Didi Hallervorden auf Speed. Zum Niederknien Hubert Wild, dessen Prinz als verzogenes Kind und Ego-Husche zu seinen Großauftritten tänzelt, eine Star-Mimose, jede Geste ein Versprechen, das nicht gehalten wird. Sprechsingend zitiert er sich durch die Operngeschichte, ein Feuerwerker der vokalen Absurditäten.

Was aber soll man, nach dieser Eloge, über Ruth Rosenfeld stammeln, seit Langem schon Frank Castorfs Sopran-Geheimwaffe, die mühelos Frau Lunas Koloraturen trällert und dabei als Mischung aus Madonna und Rita Hayworth jedem und jeder den Kopf verdreht? Die schwebt, wenn sie schreitet und einmal tatsächlich abhebt im ellenlangen Kleid, ein Wunder an Nuancen, an Geschmeidigkeit, an beiläufiger, abgründiger Ironie? Wenn Fritsch "Frau Luna" nur wegen Ruth Rosenfeld inszeniert hätte, es wäre ein vollkommen ausreichender Grund gewesen.

Am Ende ist die Luft raus. Da fällt das Soufflé abrupt in sich zusammen. "Ist die Welt auch noch so schön, einmal muss sie untergehn", singen sie und "Wenn der Erdenball zerplatzt, sind wir sowieso verratzt" – apokalyptisches Amüsemang um 1900. Hier bleibt der Schampus stecken, wird die Bühne abgeräumt – bis zur Fritsch'schen Applausordnungsorgie, die noch einmal zum Utz-Utz-Utz-Beat den Wahnwitz des Entertainments feiert.

 

Frau Luna
von Heinz Bolten-Baeckers, Musik von Paul Lincke
Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Victoria Behr, Musikalische Leitung: Ingo Günther, Licht: Torsten König, Dramaturgie: Sabrina Zwach.
Mit: Ruth Rosenfeld, Hubert Wild, Jakob Kraze, Axel Wandtke, Inka Löwendorf, Florian Anderer, Stefan Staudinger, Werner Eng, Annika Meier, Nora Buzalka, Annika Meier, Jonas Hien, Maria Walser, LUNA-Orchester: Ingo Günther, Doris Kleemeyer, Fabrizio Tentoni und Chor der Werktätigen.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

 

Als Regisseur zündete Herbert Fritsch seine erste Operette in Bremen: Die Banditen von Jacques Offenbach (Premiere im Oktober 2012).


Kritikenrundschau

Einen "Aufmarsch der Superkunstkasper" hat Dirk Pilz von der Berliner Zeitung (21.6.2013) in der Volksbühne erlebt. "Abendfüllend" aber sei der nicht. Denn Fritsch wolle hier "die Operette mit abgedreht operettenhaften Mitteln zerklopfen". Und das "schafft am Ende dann doch ziemlich viel Operettenstaub. Es ist, als ersticke man vor lauter Spaß." Fritsch stemme sich "über-überdeutlich gegen eine gerade in den Berliner Stadttheatern beheimatete Vorliebschaft für das Tiefe, Ernste, Große." Jedoch: Eine "Inszenierung, die immerfort ihre Andersartigkeit herausbrüllt, leidet augenscheinlich an Selbstbebauchpinselung, sie stellt Pappfiguren auf, um sie mit Wucht umrennen zu können."

Linckes Operette sei "wirklich harter Schenkelklopferstoff", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (21.6.2013). Und "völlig zu Recht hat Dramaturgin Sabrina Zwach die biederen Schlüpfrigkeiten aus Heinz Bolten-Baeckers Libretto auf die Spitze getrieben und genüsslich in eine Art Freud'schen Dauerversprecher übersetzt". Auf den ersten Blick dekonstruiere Fritsch die Operette, aber seine Inszenierung funktioniere doch vor allem, weil sie "sich in der schieren Dekonstruktion nicht erschöpft: Die Elektroklänge des dreiköpfigen Luna-Orchesters – Doris Kleemeyer, Fabrizio Tentoni und der musikalische Leiter des Abends, Ingo Günther – bestechen mit tadellosem musikalischen Anspruch und grandiosen Ideen." Zwar könnte das von der Kritikerin hochgelobte Team um Fritsch die "dicke Staubschicht" auf der Geschichte nur "bedingt entfernen". Aber: "Sie haben aus 'Frau Luna' das Beste herausgeholt, zumal fürs klassische Volksbühnen-Publikum."

Im "Niemandsland der Heiterkeit" fand sich Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.6.2013) wieder, dort wo Fritschs verrückte Choreographie regiert, "in der er die Darsteller sich zu tollkühnen Gruppenbildern versammeln lässt, die sie mit völlig sinnfreien akrobatischen Solonummern bald wieder sprengen." Allerdings komme der Abend "nie auf Touren", weil die Pointen "oft im Eifer des Gefechts übersprungen werden" und die Inszenierung "im Wesentlichen auf Paul Linckes Musik verzichtet, die lediglich in einer synthetisch-gesichtslosen Bearbeitung von Ingo Günther zitiert wird. Dessen Elektro-Pop mit Drehorgelsound, „Kraftwerk"-Analogien und Kaufhaus-Getön entfernt feige den orchestralen doppelten Boden des Originals, ohne ihm einen neuen einzuziehen."

In "Fritschs lustigem Karikaturentheater" nahm Eberhard Spreng für die Sendung "Kultur heute" vom Deutschlandfunk Platz. Fritsch sei "zur soliden Spaßmarke geworden, seine Einfälle werden mit Szenenapplaus bedacht und man sieht gnädig darüber hinweg, dass sich die Bewegungsticks seiner Akteure allmählich verschleißen". Einzelleistungen wie die von Hubert Wild als Prinz Sternschnuppe würdigt der Kritiker, wendet aber gegen das Ganze ein: "Seit sich Herbert Fritsch in der Welt der Oper bewegt, ist er nicht mehr ganz der Herr über die Zeit und die Rhythmen, also genau jenem Element, das die Mathematik der Komik, die Taktung des Slapsticks insgeheim ausmacht. Das tut seinem Theater nicht unbedingt gut."

Manuel Brug von der Welt (21.6.2013) hat "hochvergnügliche zweieinhalb Spielstunden" erlebt. Fritsch "modernisiert und parodiert, mit weit lockerer Regiehand. Natürlich ziehen auch diesmal seine singenden, tanzenden, Aufziehsprechpuppen in schrägen Kostümen ihre Kreise auf der Bühne. Aber zu den famos psychedelischen Klängen schweben eigentlich alle beständig auf der Trance-Flow-Wolke Sieben." Im Ganzen ergebe der Abend "ein erquickliches, singendes, tanzenden Typenkabinett. Mehr nicht."

Niklaus Halblützel schreibt in der taz-Berlin (22.6.2013): "Halsbrecherisch" balanciere der Abend "zwischen Klamauk und Provokation" und überwinde den drohenden "Abgrund der Katastrophe", "weil er darauf verzichtet, sich über Paul Lincke lustig zu machen". Hubert Wild und Ruth Rosenfeld sängen "so extrem an der Grenze des Möglichen und Erträglichen entlang wie die anderen spielen". Kein Kalauer sei hier "zu blöd", die Welt "eine einzige Zote" und verboten "allein, was nach gutem Geschmack und ernstem Bemühen auch nur riechen könnte. Es wären furchtbare zwei Stunden, wären sie nicht gefüllt bis zum Rand mit theatralischen Einfällen, die jeder für sich einer ausführlichen Analyse wert wären." Insgesamt: sehr viel "virtuos herausgespielter Irrsinn". Linckes Operette beginne "zu leben. Nicht als modisch nostalgische Erinnerung, sondern ganz von innen heraus. Nicht ihre Form, ihr Geist ist es, der hier herumspukt, (...) obszön und vulgär, aber auch menschlich und wahr auf ihre Berliner Art." Das sei "die ganz große Kunst des Theaterspiels", "ein Wunder".

Fritsch gelängen "immer wieder schön verdrehte Choreografien und Musiknummern", findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (26.6.2013). "Auch das gewohnt hochtourige Spiel der Fritsch-Kasper-Truppe, der Wille, sich keinen noch so blöden Witz entgehen und erst gar keine Subtilität aufkommen zu lassen, das ganze aufgekratzte Hanswurst-Theater ist bestens aufgelegt." Dennoch ziehe sich die Show etwas zäh und reiche nicht entfernt an Fritschs letzte Volksbühnen-Hits heran, weil der Regisseur "nicht wirklich eine Form gefunden hat, mit der dem dumpfen Brachial-Entertainment der Vorlage beizukommen wäre". So hangele sich der Abend "stellenweise virtuos" von Nümmerchen zu Nümmerchen, "ohne die Sogkraft und den fröhlichen Aberwitz von Fritschs besseren Arbeiten zu entwickeln".

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