Nicht für diese Verbrecher!

von Martin Thomas Pesl

Wien, 20. Juni 2013. Der eiserne Vorhang ist schon einen Spaltbreit hinaufgezogen: Stuhlbeine zeichnen sich dahinter ab, lose verteilt in einem mit Holz ausgekleideten Raum, einer auf die große Bühne hochskalierten Bauernstube. Gleich darauf 24 schwarz gekleidete Menschenbeine dazu. Eine Hand hebt langsam einen Brief vom Boden auf, im gleichen Tempo hebt sich nun auch feierlich der Eiserne. Die Hand gehört Franziska Jägerstätter, der Brief enthält die Bekanntgabe des an ihrem Mann am 9. August 1943 in Brandenburg vollstreckten Todesurteils. Sie nimmt sich Zeit beim Verlesen, rundherum Totenstille. Dann die Schwiegermutter: "Du hast ihn umbracht." Die übrigen, ein Chor (fast) aus Männern, skandieren es ihr nach.

jaegerstaetter-i 560 moritz-schell uHochskalierte Bauernstube: Gerti Drassls Franziska vor Stahlhelmen © Moritz Schell

Ein deklarierter Volksstückautor ist der Tiroler Felix Mitterer, das zeigt gleich diese erste, der eigentlichen Chronologie der Ereignisse vorgespannte Szene. Dialekt wird zur Kunstsprache veredelt, Herz und Hirn der Figuren sollen nachvollziehbar und gut verständlich sein. Mitterer legt mit "Jägerstätter" am Theater in der Josefstadt eine informative dramatische Biografie vor, die das Leben des 2007 seliggesprochenen Bauern Franz Jägerstätter Schritt für Schritt in 30 Szenen schildert.

Was heute in Österreich – nach Jahrzehnten des Totschweigens – viele wissen: Jägerstätter stimmte 1938 als einziger in seinem Dorf St. Radegund gegen den Anschluss an Hitlerdeutschland und wagte es später, den Kriegsdienst aus religiösen Gründen zu verweigern, obwohl selbst katholische Würdenträger ihm rieten, doch lieber seinen Kopf zu retten. Trotz erstaunlichen Aufwands seitens der Wehrmacht – seine Frau wurde extra gebeten, nach Berlin zu reisen, um ihn nochmals zur Vernunft zu bringen – konnte er nicht anders ("Nicht für diese Verbrecher!") und ließ sich köpfen.

Im besten Fernsehsinne komplexe Figuren

Mitterers Stück veranschaulicht jedoch auch manches weniger Bekannte: dass Jägerstätter keineswegs dem Klischee des katholischen Fanatikers entsprach, als junger Bursche gar ein uneheliches Kind mit einer Stallmagd zeugte und wegen einer Prügelei drei Tage im Gefängnis saß. Die Sinnhaftigkeit seines Märtyrertums wird in Dialogen mit Gattin, Mutter, Pfarrer mehrfach zumindest in Frage gestellt. So gelingen dem für seine anspruchsvollen "Tatort"-Folgen gelobten Autor auch hier im besten Fernsehsinne komplexe Figuren. Gerti Drassl als Franziska etwa lässt sich nie recht in die Karten blicken, ist in ihre Haus- und Hofarbeit versunken, äußert sich aber umso entschlossener, wenn sie etwas zu sagen hat.

Und Gregor Bloéb, der seinem Freund Mitterer den Auftrag gab, für ihn in der Hauptrolle ein Jägerstätter-Stück zu schreiben, schafft es, die ideologische Entschlossenheit des Querdenkers und die Herzlichkeit des liebenden Familienvaters nebeneinander existieren zu lassen. Wenn er nach seiner Körperverletzung eher tollpatschig die Muttergottes ums Überleben seines Opfers bittet, charakterisiert das eher den geraden Michel als den visionären Theologen; seine Argumentationen leuchten (zumindest aus heutiger Sicht) dennoch ein.

Biodrama ohne falsches Pathos

Vor der Pause behält Regisseurin Stephanie Mohr alle Akteure durchgehend auf der Bühne, wo sie mit der Herstellung einer düsteren Grundstimmung beschäftigt sind, durch Chorpassagen oder mithilfe von Holztischen, Eimern oder Töpfen. Die Szenenübergänge sind ins Geschehen eingeflochten oder werden von Brieftexten überlagert, die die Jägerstätters einander schrieben. Nie wird die Dramaturgie des gut recherchierten Bio-Dramas verletzt, zweieinhalb Stunden lang atmet die Inszenierung integre Ernsthaftigkeit ohne falsches Pathos oder komische Erleichterung. Das ist beachtlich, da Bloéb Mitterer den Stückauftrag in seiner Funktion als Intendant des Theatersommers Haag erteilte, wo dieser keineswegs sommerlich-spritzige Stoff im Juli seine zweite Premiere feiern wird.

Packender wird es nach der Pause, wo Stephanie Mohr weniger choreografieren muss, sondern sich in Zweierszenen Dialoge und Argumente entfalten können: Franz ringt dem entrüsteten Linzer Bischof (Peter Scholz) den Segen zur Wehrdienstverweigerung ab. Oder: Ein ihm bereitgestellter Anwalt (Dominic Oley) überzeugt ihn fast, seine Verweigerung zu widerrufen. Es ist verblüffend, wie sehr man Oley bei allem Zynismus den ehrlichen Wunsch glaubt, den eigensinnigen Mann zwar ernst zu nehmen, aber doch zu seinem "Glück" zu zwingen. Ebenfalls erstaunlich, was für Werbestrategien angewandt werden, um Jägerstätter umzustimmen: "Wir sind hier bei der Wehrmacht", heißt es mehrfach. "Wir haben mit den Nazis eigentlich nichts zu tun."

 

Jägerstätter (UA)
von Felix Mitterer
Regie: Stephanie Mohr, Bühnenbild: Miriam Busch, Kostüme: Alfred Mayerhofer, musikalische Leitung und Choreinstudierung: Stefan Lasko, Dramaturgie: Ulrike Zemme, Licht: Manfred Grohs.
Mit: Gregor Bloéb, Christian Dolezal, Gerti Drassl, Peter Drassl, Stefan Lasko, Dominic Oley, Michaela Schausberger, Peter Scholz, Michael Schönborn, Elfriede Schüsseleder, Matthias Franz Stein.
Dauer: 2 Stunden 25 Minuten, eine Pause

www.josefstadt.org
www.theatersommer.at

 

 

Kritikenrundschau

Viel mehr als ein "Passionsspiel" sei es nicht geworden, schreibt Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen (21.6.2013). "Wirklich als Charaktere fassbar", würden neben dem "Seligen Franz" nur noch dessen Frau Franziska und seine Mutter Rosalia. "Alle anderen bleiben im Hintergrund (...). Etwa ein Viertel des Textes besteht aus den Briefen der Eheleute aneinander". Das alles sei zwar "gewiss keine heitere Zusammenstellung, aber letztendlich nicht mehr als eine Collage aus Archivbeständen". Das habe Stephanie Mohr "mit dem nötigen Ernst" in Szene gesetzt. "Für ein Passionsspiel taugt es, als Drama fehlt dem Wort aber die Fleischwerdung."

Weitaus positiver schreibt Norbert Mayer in der Presse (22.6.2013): Mitterer mache das Schicksal Franz Jägerstätters "als präzise Dorfgeschichte begreifbar". Dem Tiroler Dramatiker sei "in dieser Montage aus Originalzitaten und Eigenem ein großer Wurf gelungen – lebendiges Theater, ein didaktisches Volksstück, das nie sentimental wirkt, sondern einfach wahr". Und auch die Inszenierung von Mohr sei "bemerkenswert". Das sei vor allem Gregor Bloéb in der Titelrolle zu verdanken. "Hier wird seine Stärke, die Darstellung von Lebenslust, auch zum Gewinn für eine frische Interpretation. Er spielt Jägerstätter nicht als entrückten Fanatiker, sondern als kernige Natur, die durch Nachdenken zum richtigen Schluss kommt – dass er nicht einem verbrecherischen Regime dienen will". Manches in der Inszenierung sei "etwas forciert, so wie die Szene, in der sich Jägerstätter ein blutiges Kreuz in den Oberkörper ritzt – aber es wirkt". Zuweilen gebe es "ein Übermaß an Didaktik " – "gut gemeinte Elemente eines Lehrstückes", die den Gesamteindruck allerdings "kaum mindern". Das Ensemble werde von der Regisseurin "geschickt als Gegengewicht zum Helden eingesetzt".

Felix Mitterers "Theaterchronik Jägerstätter" werfe ein "gleichbleibend helles Licht auf ein unzugängliches Geheimnis": auf die "rätselhafte Unausweichlichkeit im Werdegang des Franz Jägerstätter", schreibt Ronald Pohl im Standard (22.6.2013). Mohrs Uraufführung sei "sachlich, klar und kunstfertig inszeniert". "Karg und schlank" zeichne sie die Stationen des Passionsweges und bediene sich "sinnfälliger Mittel". Immer wieder springe die Inszenierung "in die Zeichenhaftigkeit hinüber, öffnet Räume der Empfindsamkeit, ohne jemals rührselig zu werden". Bloéb lasse "die Anlagen zu einer Durchschnittsexistenz aufblitzen" und zeichne Jägerstätter "sympathisch aufbrausend". Manchmal erwecke er "den Anschein, als wäre ihm als einfachem, jedoch nie einfältigem Menschen sein eigenes, störrisches Verhalten selbst das größte Rätsel". Und mit seiner "vor Angst und Inbrunst glühenden Darstellung überschreitet Gregor Bloéb Grenzen, zumindest auch solche, die man seinem Talent gesetzt glaubte".

 

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