Das Leiden des Kapitalisten

von Harald Raab

Heidelberg, 20. Juni 2013. Das ist wirklich Mut zum Risiko. Das Theater Heidelberg adaptiert Upton Sinclairs Riesenwälzer "Oil" von 1927, einen monströsen Rundumschlag gegen den Monopolkapitalismus und seine Destruktionskraft in Gesellschaft, Familie und Individuum. Die von Patricia Nickel-Dönicke und Regisseur Jan-Christoph Gockel unter Mitwirkung des Ensembles erarbeitete Bühnenfassung bleibt dabei eng am Dialogmaterial des Romans und beweist, dass – mit Bertolt Brecht gesprochen – der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das alles einmal gekrochen ist. Früher Öl, heute schmierige Derivate der Finanzjongleure; im Grunde hat sich wenig geändert.

Harte Bänke für die Aufrechten

Politisches Theater gelingt freilich noch lange nicht, wenn man alte Charaktermasken aus dem Fundus holt: den bösen Kapitalisten, der über Leichen geht, den furchtlosen Proletarier, der ihm die Stirn bietet, die Opfer der Profitgier. Es gehört mehr dazu, um daraus ein Bühnenereignis zu machen, für das Bert Brecht zwei Forderungen aufgestellt hat: Theater muss Erkenntnisgewinn bringen und muss unterhalten, sprich, die Menschen in seinen Bann ziehen können. Beides gelingt Regisseur Jan-Christoph Gockel und seiner Truppe mit phantasievollen Spielideen.

oel07 560 florian merdes uVater und Sohn im Rausch des Kapitals: Wolfgang Michael als Ross und Sebastian Brandes als Bunny. © Florian Merdes

Das Publikum darf beim Verschachern des Lands für ein neues Ölfeld mitmischen, etwas von der Gier nach Reichtum spüren. Es wird aus dem Zuschauerraum auf die von Sophie du Vinage eingerichtete Bühne geholt, darf sich die Plätze wählen: harte Holzbänke für die Aufrechten, die eine gerechte Welt ersehnen, bequeme Sessel für die Opportunisten, die vom System profitieren wollen. Klassenkampf mit Revue-Effekten und Songs von "Blue Velvet" bis "Sweet Dreams" oder "Night Call".

Freistilringen der Interessengegensätze

Freistilringen der unversöhnlichen Interessengegensätze in einer vom Volk gesäumten Arena: Was zum Aufwärmen mit etwas Sesamstraßen-Klamauk beginnt, wird zum blutig ernsten Spiel, zur großen Tragödie, die bekanntlich immer nahe an der Komödie gebaut ist. Öl wird gefunden in Kalifornien. Beim Run auf das Schwarze Gold wollen viele ihren Reibach machen. Der Boss der Ölfirma trickst sie alle aus, luchst der armen Farmerfamilie Watkins das ressourcenreiche Land für ein Butterbrot ab.

Deutlicher als in der Buchvorlage wird der Ölmagnat Ross zur zentralen Figur der Geschichte. Nicht zuletzt durch Wolfgang Michaels facettenreiche und intensive Gestaltung dieser Rolle. Einmal nonchalant volksnah mit großer Geste und gallig-trockenem Witz wie einst Harald Juhnke, dann wieder ausgebuffter Geschäftemacher, der Leute übers Ohr haut, Beamte und Politiker besticht, um schließlich einsam zu enden wie King Lear. Ein Gefangener seines eigenen Systems. Will er den Marktspielregeln entsagen, droht ihm der Untergang. Er möchte seinen Sohn Bunny lieben und von ihm geliebt werden. Sein Herz aber ist nur noch eine Ölpumpe. Sein letzter Ausweg: Zynismus.

Vater und Sohn in der Glamourwelt

Regisseur Gockel verzichtet weitgehend auf Verfremdungseffekte. Er lässt die Figuren sich entwickeln, gibt der Personenkonstellation aber zugespitzte Dynamik, erfindet große, emotionale Bilder, die einfachen Realismus vermeiden. Es bleibt zugleich genügend Raum für die kleinen, menschlich anrührenden Momente. Intelligent und situationsgerecht werden hier Video-Einspielungen eingesetzt (von Florian Rzepkowski).

oel15 560 florian merdes uGlamour für Dollar: Karen Dahmen als Filmdiva Viola © Florian Merdes

Bunny (Sebastian Brandes) will seinem Dad ein folgsamer Sohn sein, macht aber einen schmerzhaften Lernprozess durch. Er muss erfahren, mit welchen Methoden sein Alter ein Millionenvermögen gemacht hat. Es kommt zum Bruch, als er feststellt, dass sein Vater selbst das Filmgirl Viola (Karen Dahmen) für ihn gekauft hat. Das sexy Weibchen soll Bunny in ihrer Glamourwelt gefangen halten und fürs Geschäft des Papas gefügig machen. Brandes gelingt der Bewusstseinswandel vom Naivling zum Kapitalismuskritiker als starkes inneres Drama mit impulsiven Aggressionsschüben gegen den Vater. Der Vater-Sohn-Konflikt spiegelt die gesellschaftlichen Widersprüche. Es gibt kein gutes Leben im schlechten, kein Glück auf Kosten von Ausbeutung und Elend der Massen.

Der Missionar und die Klassenkämpfer

Religion, Opium fürs Volk: Upton Sinclair war es wichtig, die Kirchen als Helfershelfer der Kapitalinteressen zu entlarven. Der Regisseur gestattet sich hier die einzige Karikatur in seinem Stück. Benedikt Crisand als Halleluja-Bruder Eli wuselt eifernd und missionierend durch die Szenen, gibt Bohrtürmen und Krieg emphatisch seinen Segen und bettelt schließlich doch nur um Dollar für den Neubau seines Tempels.

Eher zurückgefahren hat Gockel in seinem Konzept die Vertreter der Arbeiterklasse. Gewerkschaftsführer Paul (Clemens Dönicke) darf zwar die notwendigen Streikparolen unters Volk bringen, ist aber in seinem idealistischen Einsatz zum Scheitern verurteilt. Ruth (Miriam Horwitz) ist mehr die graue Maus als die klassenbewusste Vorkämpferin, die Bunny für die Sache des Proletariats gewinnen kann. In der Prügelszene mit Viola zeigt sie plötzlich Kampfesmut.

Ist politisches Theater ein Instrument von gestern, zumal es weder Faschismus noch den globalen Siegeszug des Kapitalismus verhindert hat? In Heidelberg ist zu besichtigen, dass es noch erstaunlich gut funktionieren kann, wenn es glaubwürdig und packend dargeboten wird.


Öl! (DEA)
nach dem Roman von Upton Sinclair
Bühnenfassung von Patricia Nickel-Dönicke und Jan-Christoph Gockel, unter Mitwirkung des Ensembles
Regie: Jan-Christoph Gockel, Bühne: Sophie du Vinage, Kostüme: Julia Kurzweg, Musik: Matthias Grübel, Video: Florian Rzepkowski, Choreografie Miriam Horwitz, Dramaturgie: Patricia Nickel-Dönicke.
Mit: Wolfgang Michael, Sebastian Brandes, Clemens Dönicke, Benedikt Crisand, Miriam Horwitz, Karen Dahmen.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.theaterheidelberg.de


Mehr zum Thema Öl: Das Deutsche Theater Berlin zeigte 2009 das Gegenwartsdrama Öl von Lukas Bärfuss (Regie: Stephan Kimmig).

 

Kritikenrundschau

Für Dennis Baranski vom Mannheimer Morgen (22.6.2013) beginnt Jan-Christoph Gockels Inszenierung von "Öl" zwar etwas zäh – "der angelegte Raum für Improvisation kennt manch' toten Winkel" –, die anfänglichen Verkaufsverhandlung mit dem Publikum gestalte sich "holprig". "Erst in einer bedrohlich wirkenden Arena-Situation finden die Mimen ins Spiel" und auch die Zuschauer könnten sich nun "nicht mehr entziehen". "Grandios" gebe Wolfgang Michael dabei den alten Patriarchen Ross "im Taumel zwischen Vaterstolz und erbarmungslosem Größenwahn". Und Sebastian Brandes arbeite "hervorragend die Entwicklung seiner Figur zum vernunftbegabten Individuum heraus". Gelobt wird aber das gesamte Ensemble für seine Kollektivleistung in dieser "mitreißenden Inszenierung", die für Baranski einen "fulminanten Spielzeitabschluss" abgibt.

"Wow, was Handlungsstränge!", ruft Volker Österreich angesichts von Sinclairs "Öl" in der Rhein-Neckar-Zeitung (22.6.2013) aus. Dass sie in der Bühnenfassung gelegentlich zerfaserten, stehe auf einem anderen Blatt. "Die Mittel der Ironie, der Dekonstruktion und des Mitmachtheaters können nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Ensemble der ölige Stoff hin und wieder aus den Fingern flutscht." An Michaels Seite spiele sich Brandes "quirlig und komödiantisch in die Gunst des Publikums". "Den wichtigsten Part" übernehme allerdings der neue Marguerre-Saal mit seiner Bühnentechnik – Sophie du Vinages Raumkonzept funtkioniere "erstklassig".

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