Ein paar Narren im Dienst der Gesellschaft

von Thomas Ostermeier

1. Juli 2013. Die westlichen sogenannten Demokratien eint eine simple Tatsache: Zur Aufrechterhaltung des Gemeinwesens erhebt jeder Staat Steuern. Dieser von der Gesellschaft abgeschöpfte Reichtum wird in demokratischen Institutionen verteilt – nach Maßgabe dessen, was diese für richtig und wichtig erachten. Dies klingt zunächst einmal banal. Trotzdem finde ich es wichtig, sich vor Augen zu führen, in welchem Maße unsere Gesellschaften von der Grundverabredung ausgehen, dass es so etwas wie öffentliche Aufgaben gibt, die wiederum dem einzelnen Individuum oder den Unternehmen ermöglichen – ja, was eigentlich? Glücklich zu werden? Erfolgreich zu sein? Zu lernen? Andere Ideen und Menschen zu treffen?

Natürlich braucht ein Wirtschaftsstandort Infrastruktur, um den Unternehmen die Möglichkeit zu geben, Profite zu machen. Ebenso evident erscheint die Notwendigkeit des gesamten Bildungssektors, um qualifizierten Nachwuchs heranzuziehen. Bei der Frage der Finanzierung von kulturellen Einrichtungen wird es schon komplizierter.

Das Verständnis dafür, wie eine bürgerliche Gesellschaft zu organisieren ist, kommt uns mehr und mehr abhanden. In den 1980er Jahren trat der Neoliberalismus von Chicago aus seinen Triumphzug an. Zu den wichtigsten Errungenschaften dieser Geisteshaltung gehört die Deregulierung der Finanzmärkte, aber auch die Privatisierung von Aufgaben, die bisher in öffentlicher Hand lagen. Diese Ideologie geht von einem einfachen Wunsch aus: Je mehr wir die Steuerforderungen des Staats an seine Bürger und Unternehmen mindern, desto größer ist der Betrag, der in den Taschen der Bürger und Unternehmen verbleibt. Ich erwähne diese Phänomene der Wirtschaftsgeschichte deshalb, weil ich glaube, dass ein Teil der Legitimationskrise des Theaters ebenfalls hier seine Wurzeln hat. Beim Triumphzug des Neoliberalismus machte sich das Denken breit, dass nichts etwas wert ist, was auf dem Markt keinen Profit bringt.

Utopien, gesellschaftlicher Reichtum und nüchterne Zahlen

Tragischerweise war die alte westeuropäische Linke traditionell auch eher institutionsskeptisch, um nicht zu sagen staatsfeindlich. Deswegen befindet sie sich in dem schmerzhaften Zustand, den Staat gegenüber den Angriffen der Marktgläubigen zu verteidigen. Trotzdem kann ich der idealtypischen Vorstellung, dass der Reichtum einer Gesellschaft unter den Beteiligten dieses Sozialwesens gerecht verteilt wird, durchaus etwas abgewinnen. Ich würde sogar so weit gehen, dass das eine sehr utopische Sicht auf Gemeinwesen darstellen kann, denn im Hintergrund leuchtet natürlich der Traum auf, dass alle Güter und aller Reichtum einer Gesellschaft auch all ihren Mitgliedern in gleicher Weise gehören.

Von dieser Utopie sind wir meilenweit entfernt. Die Ideologie des Marktes hat sämtliche Überlegungen in dieser Richtung unter Totalitarismusverdacht gestellt. Aber bleiben wir einfach bei der bürgerlichen Variante der Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum. Kurz nach der deutschen Reichsgründung 1870/71 und ihrer wirtschaftlichen Prosperität (plus Krise) in der sogenannten Gründerzeit wurde all das erfunden oder zumindest institutionalisiert und somit in die Verantwortlichkeit der öffentlichen Hand gelegt, was heute stark bedroht ist: Nahverkehr, Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Parks und Grünanlagen und natürlich auch Kultureinrichtungen. Das zu Macht und Einfluss gekommene Bürgertum wollte seine gewonnene Vormachtstellung in repräsentativen und dem Gemeinwohl dienenden Einrichtungen zeigen. Der Staat wurde als Ausdruck eben jenes bürgerlichen Selbstverständnisses erachtet.

Heute erscheint vielen neoliberalen Wortführern der Staat nur noch als Verhinderer wirtschaftlicher Prosperität. In Deutschland hat in den letzten zwanzig Jahren ein massiver Kulturabbau stattgefunden, zum Beispiel im Theater. Seit 1992 mussten insgesamt 18 Theater in Deutschland schließen oder fusionieren. Verschärfend kommt in dieser Debatte die Tatsache hinzu, dass in der öffentlichen Auseinandersetzung immer so getan wird, als verschlängen die Kulturhaushalte unwahrscheinliche Summen am Anteil der Gesamthaushalte. Die nüchterne Realität der Zahlen spricht eine andere Sprache. In Berlin liegt der Anteil der Ausgaben für die Kultur am Gesamthaushalt der Stadt bei 2 Prozent, der Anteil der Theater einschließlich der Opern bei 1,1 Prozent, das Schauspiel allein nur bei knapp 0,5 Prozent. Nicht viel anders verhält es sich in den Großstädten der Nachbarländer. In Wien, das ja eigentlich dafür bekannt ist, wie stark es seine Kulturinstitutionen fördert, beträgt der Kulturetat lediglich 2,1 Prozent des Haushalts. Und ein Blick nach Frankreich zeigt, dass 2013 der Anteil der Kultur am Gesamthaushalt 2,53 Prozent beträgt, 3,2 Prozent weniger als 2012.

Champagnersaufende Subentionsschmarotzer?

Trotz dieser Zahlen wird die Förderung von Kultur immer wieder unter dem Vorwand von Sparzwängen angegriffen. Diese in ihrer ursprünglichen Absicht nicht profitorientierte, aber dennoch nutzbringende Idee der Repräsentation eines neu gewonnenen bürgerlichen Selbstverständnisses wird über Bord geworfen. Vor einigen Jahren hatte ich in Berlin eine Podiumsdiskussion mit einem FDP-Bundestagsabgeordneten meiner Generation. Bevor wir auf das Podium stiegen, begrüßte er mich lächelnd mit den Worten: "Na, du champagnersaufender Subventionsschmarotzer?" Das ist das Klima, das sich im Moment europaweit breitmacht.

Besonders verheerend ist im Theatermilieu eine Entwicklung der letzten zehn Jahre. Unter dem Vorwand, für freie unabhängige Strukturen zu sein, werden die Akteure der unterschiedlichen Milieus aufeinandergehetzt. Fürsprecher des freien oder Off-Theaters behaupten, dass sie das viele Geld, das die Institutionen verschlingen, viel effizienter einsetzen. Dabei ist ihnen gar nicht bewusst, dass sie sich so zu Apologeten des neoliberalen Zeitgeists machen: Von uns bekommt ihr mehr Kunst für weniger Geld. Dass sie dadurch bei vielen Stadtkämmerern oder Kulturpolitikern offene Türen einrennen, ist auch klar.

Freie Theaterstrukturen klingen zunächst jünger, wilder, romantischer, schlichtweg attraktiver. Aber Gelder, die ich als Politiker für ein Projekt, eine Truppe oder eine zeitlich begrenzte Theaterunternehmung zur Verfügung stelle, kann ich, wenn dieses Projekt abgeschlossen ist, für andere Künstler einsetzen oder gänzlich in meinem Etat einbehalten. Dieser neoliberale Traum von Flexibilität bedeutet aber, dass die unterstützten Projekte kurzfristig Erfolg haben müssen. Langfristige künstlerische Entwicklungen, die am Theater so wichtig sind, werden dadurch unmöglich. Aus Projektgeldern finanzierte Arbeitsverhältnisse sind prekärer als feste Engagements. Sozialabgaben werden selten abgeführt, der Krankenversicherungsstatus ist ungeklärt. Die künstlerische Arbeit leidet, weil man oft nebenbei noch etwas dazuverdienen muss.

Eine andere Erzählung der Gesellschaft

Johan Simons [hier zu einer Stellungnahme Simons' zum Repertoire-Betrieb], mit dem ich vor einem Jahr in der Akademie der Künste auf einem Podium saß und der viele, viele Jahre die wichtigste freie Gruppe der Niederlande, Hollandia, leitete, berichtete, dass nach seinem Weggang von Hollandia die Förderung komplett eingestellt wurde und auch keine andere Gruppe dieses Geld bekam. Das wäre ungefähr so, wie wenn man die Förderung der Schaubühne nach dem Weggang Peter Steins eingestellt hätte.

Die Chance, die darin liegt, dass institutionalisierte Theaterbetriebe über Generationen hinweg von der öffentlichen Hand finanziert werden, sehen viele Künstler jedoch nicht. Sie bieten uns Arbeitsmöglichkeiten, Produktionsmittel, um unsere andere Erzählung einer Gesellschaft zu vermitteln. Es wäre fatal, diese Orte vonseiten der Künstler aufzugeben, da wir sonst in den ökonomischen Krisen, die vor uns liegen, wesentlich schneller angreifbar sind.

So viel zu den materiellen Voraussetzungen des Theaterschaffens heutzutage. Schwierig wird es natürlich, wenn wir in dieser Situation, in der unsere materielle Sicherung beständig angegriffen wird, uns auch noch in einer inhaltlichen oder ästhetischen Krise befinden.

Die affirmative Ästhetik des kapitalistischen Realismus

Das Theaterschaffen wurde in den letzten Jahren von dem Diskurs über die Postdramatik beherrscht. Die in den 1970er/80er Jahren aufgekommenen neuen Theaterformen stellen kurioserweise in vielen Stadttheatern und Festivals das ästhetische Glaubensbekenntnis dar. Die Poetologie dieses Genres geht davon aus, dass dramatische Handlung nicht mehr zeitgemäß ist; der Mensch sich nicht als handlungsmächtiges Subjekt begreifen kann; es genauso viele subjektive Wahrheiten im Zuschauerraum gibt, wie Zuschauer anwesend sind, aber keine objektivierbare, für alle gültige Wahrheit hinter den Ereignissen auf der Bühne steht; unsere Wirklichkeitserfahrung komplett fragmentiert ist und diese Wirklichkeitserfahrung nach einem Ausdruck auf der Bühne sucht.

Eine komplexe Welt, vielschichtige Erfahrungen, die sich in der Verwendung vieler Medien ausdrücken: Körper, Tanz, Bild, Video, Musik, Projektion, Dokumentation, Autobiografie, Wort. Dieses Sampeln von Bruchstücken liefert mir den Beweis, dass meine Wirklichkeitserfahrung richtig ist, nämlich dass die Komplexität der Welt undurchdringbar ist und somit auch die Frage nach politischer Verantwortung, und erst recht nach Schuld, nicht zu beantworten ist.

Ich habe das vor ein paar Jahren kapitalistischen Realismus genannt. Die Anlehnung an den Begriff des sozialistischen Realismus deshalb, weil der sozialistische Realismus auch die affirmative Ästhetik des real existierenden Sozialismus war. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Ästhetik ebenso affirmativ ist: In einer Welt der neoliberalen Doktrin kann den Profiteuren dieser neuen Glaubensrichtung nichts Besseres passieren, als dass behauptet wird, es gäbe keinen Schuldigen mehr, alles sei so komplex und verschachtelt, dass Verantwortliche nicht mehr zu benennen seien.

Krise des traditionellen Schauspiels

Ich sage auf keinen Fall, dass dies für alle Vertreter des Postdramatischen gilt. Es gibt vor allem im Dokumentartheater, etwa bei Rimini Protokoll oder Milo Rau, das genaue Gegenteil: Investigative Arbeit, die oft das Journalistische streift und garantiert aufhellender und erhellender ist als der Großteil dessen, was man in normalen Stadttheateraufführungen sieht.

Aber ich denke, dass diese Form des dokumentarischen Theatermachens mit Experten des Alltags auch ein Phänomen der Krise des traditionellen Schauspiels ist. Traditionelle Schauspielkunst und Pflege des klassischen Repertoires hat in weiten Teilen den Bezug zur sozialen Wirklichkeit verloren. Die Menschen im Parkett erkennen ihre alltäglichen Wirklichkeiten auf der Bühne nicht wieder. Viele Darsteller schöpfen ihre Fantasie nicht mehr aus ihrem eigenen Leben und Erleben, sondern orientieren sich mehr und mehr an bewunderten Vorbildern.

Insofern berichten Experten des Alltags kompetenter von der Wirklichkeit als normale Schauspieler – obgleich doch die ureigenste Aufgabe des Schauspielers genau darin bestehen sollte. Das beginnt bei der Ausbildung der Schauspieler und ihrer Weiterbildung im Beruf. Brecht forderte als Regisseur am Berliner Ensemble seine Schauspieler auf, in die Wirklichkeit hinauszugehen, Gerichtsverhandlungen zu besuchen, in Betrieben zu hospitieren, um kompetent über das Verhalten der Menschen in ihrer Zeit berichten zu können.

Wovon man erzählen kann

Ich versuche meine Schauspieler immer wieder aufzufordern, von ihren eigenen Biografien und Beobachtungen in ihrem Umfeld zu erzählen. Wie wirken sich die sozialen Abstiegsängste unserer Zeit auf das Verhalten der Menschen aus? Was bedeutet der Leistungsdruck in unserer Gesellschaft für unsere emotionalen Beziehungen und Sehnsüchte? Wie ordnen wir unser privates Leben diesem Diktat unter? Wie oft zerbrechen Beziehungen an dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit des flexiblen Menschen? Warum haben wir ein hochelaboriertes Vokabular, um über unsere Partnerbeziehungen und Psychologien des Alltags zu reden, besitzen aber ein wenig elaboriertes Vokabular für unsere politischen Wirklichkeiten ("Scheißsystem")?

Warum verhandeln wir die verheerenden sozialen und politischen Entwicklungen der letzten 20 Jahre nicht mit der gleichen Leidenschaft? Obwohl sie doch unsere Beziehungen und Psychologien so immens beeinflusst haben. Flexiblere Arbeitszeiten, Digitalisierung des Alltags, ständige Erreichbarkeit in einer Welt der flexiblen Arbeitsverträge, in der wir nicht einmal sicher sein können, dass wir nicht von heute auf morgen ohne Arbeit dastehen. Das sind Lebenswirklichkeiten, die sich bis in das körperliche Verhalten der Menschen hinein beschreiben lassen. Woher sonst kommt der Boom der Zeitungsartikel über Krankheit, Müdigkeit, Depression, Burnout?

Die Installation des ökonomischen Denkens bis hinein in die kleinsten Kapillargefäße der Gesellschaft ist in den körperlichen und psychischen Deformationen des modernen Menschen ablesbar. Davon kann man auf der Bühne erzählen. Durchaus kompetent, wenn man seine Fantasie aus dem nährt, was um einen herum passiert.

Ein schöner Traum

Im idealen Theater steckt ein heimliches Versprechen, mit diesen eben beschriebenen Phänomenen der Wirklichkeit umzugehen. Zunächst sind die institutionalisierten Theater noch unabhängig von ökonomischem Erfolg. Theater könnte ein Ort sein, an dem man sich frei vom ökonomischen Legitimationsdruck artikuliert. Für das Selbstverständnis einer Gesellschaft eigentlich ein schöner Traum: Sie leistet sich ein paar Narren, die sie sich aus der Zeit des aristokratischen Hoftheaters ausgeliehen hat, die alle Freiheit besitzen, ebenjene Gesellschaft widerzuspiegeln, in Frage zu stellen, zu verlachen. Es könnte ein Ort sein, der durchaus eine reinigende Kraft besitzt.

Zumindest an der Schaubühne glauben jedenfalls nach meinem Gefühl viele vornehmlich junge Zuschauer, einen Ort zu betreten, an dem man wirklich noch frei und unabhängig spielen und nachdenken kann. Und an dem zugleich die beschriebenen Verwerfungen in den Körpern der flexiblen Menschen ihren Ausdruck auf der Bühne finden. Dazu kommt noch die simple Realität eines jeden Theatervorgangs: Er findet im Moment statt. Im dreidimensionalen Raum mit den anwesenden Körpern der Darsteller. Da kann man nichts im Nachhinein retuschieren oder im Schneideraum wie beim Film verändern. In unserer digitalisierten Welt, die meist vor zweidimensionalen Bildschirmen stattfindet, ist dieser unmittelbare Moment, virtuell glaubwürdig zu agieren, ohne sich in einer virtuellen Realität zu befinden, Auftrag und Herausforderung des Theaters.

 

thomasostermeierThomas Ostermeier, 1968 im niedersächsischen Soltau geboren und in Landshut/Niederbayern aufgewachsen, ist Theaterregisseur und seit Herbst 1999 der Künstlerische Leiter der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin.



 

Thomas Ostermeiers Text erschien zuerst im TEXT+KRITIK Sonderband "Zukunft der Literatur", München 2013, S. 42-50, und wurde in Le Monde diplomatique Nr. 10130 vom 14.6.2013 wiederabgedruckt. nachtkritik.de dankt Thomas Ostermeier sowie den beteiligten Verlagen für die Erlaubnis zur Wiederveröffentlichung.

Siehe zum Thema auch den Lexikon-Eintrag Stadttheaterdebatte.

mehr debatten