Mit Glücklichkeitsindex in den Sozialismus

von Nico Hoffmann

Freiburg, 20. Juli 2013. 24 Stunden, 250 Mitspieler, 2 Dörfer – mit diesen Schlagzahlen preisen Regisseur Klaus Gehre und der Wiener Spieldesigner Lev Ledit ihr Experiment im Theater Freiburg an. Das "Regiodrom": Ein Spiel des Lebens, mit den Zielen, zu überleben und dabei möglichst glücklich zu sein. Einen Tag zu investieren, um Nachhaltigkeit, Geld und Glück zu analysieren und deren Zusammenhang feiern zu können. Eine zweite temporäre Existenz im Land der unbegrenzten Möglichkeiten aufzubauen und mit anderen in Interaktion zu gestalten und zu behaupten.

Mit Zahnbürste einchecken

Nach zweijähriger Planung geht es also endlich los. Die ersten Mitspieler checken als Siedler und, wie erwünscht, nur mit Zahnbürste, Gürtel und Schlafsack ein, wobei jeder im Gegenzug eine Nummer und einen weißen Schutzanzug erhält. So ausgestattet geht es daran, sich einen Clan und damit eine Dorfzugehörigkeit auszusuchen und dementsprechend markiert zu werden. Anschließend kann die Welt, die sich über Großteile des Theaters und der angrenzenden Jackson-Pollock-Bar erstreckt, von den Siedlern nach und nach erkundet werden: vom Markt hin zur Sheriffsstation, von der Bank bis zum Fernsehsender "Regiodrom2013", der kontinuierlich über die Geschehnisse berichtet und dies live auch über die Grenzen des Regiodroms ausstrahlt. Ebenfalls das blickdicht eingezäunte Außengelände wird ergründet, auf dem die ersten Siedler beginnen, in einer Mine nach Rohstoffen zu suchen oder sich beim Konzern direkt anstellen zu lassen, um so die ersten Blüten, die interne Währung des Regiodroms, zu erwerben.

regiodrom2 560 maurice korbel uDas Regiodrom-Gelände  © Maurice Korbel

Die Geldfrage wird schon bald zu einer politischen Frage. Beide Dörfer haben ihre ersten Bürgermeisterinnen gewählt, welche Gesetze für alle Siedler entscheiden können. Mit Anti-Arpartheids-Dekreten werden Privilegien der Siedler, die mit ihrer Clanzugehörigkeit zusammenhingen, abgeschafft, und schon bald auf Bestreben der Spielergemeinschaft der Sozialismus eingeführt.

Glücklichkeitsindex, Neuwahlen, Bankraub

Gleichheit gilt als ein oberstes Ziel. Geld aus Arbeit und Aktienverkäufen wird so zentral von der Dorfgemeinschaft gesammelt, um letztendlich eine gemeinsame Suppe für den Abend erstehen zu können. Nachdem dieses Ziel erreicht ist, widmeten sich viele Siedler vermehrt der Forschung, der Kreativität, dem Musizieren. Der Glücklichkeitsindex beider Dörfer, welcher kontinuierlich gemessen wird und ausschlaggebend für Neuwahlen der Bürgermeister war, steigt während dieser Zeit deutlich an.

Doch mit voranschreitender Zeit kippt dieser Trend im Laufe des Abends: Die Bank wird  überfallen, die Täter werden gefasst und ins Gefängnis gesteckt. Der Sozialismus bringt wie aus dem Bilderbuch Siedler hervor, die sich der Vergemeinschaftung erwirtschafteter Gewinne entgegenstellen und ihre Aktienpakete zurückhalten. Letztendlich werden die Bürgermeisterinnen gestürzt, der Sozialismus wieder abgeschafft und für viele Siedler besonders eine Erfüllung persönlicher Interessen wichtiger und wichtiger: die Unterwelt.

regiodrom7 280 maurice korbel uGlücksspiel in der Unterwelt  © Maurice KorbelDiese bietet mit Musik, Tanz, Alkohol und Wettformaten wie dem Kakerlaken-Ringen, Wettschwimmen oder Schweineboxen die zerstreuende Unterhaltung, die viele nach dem anstrengenden Tag suchen. Zu später Stunde zieht es nach und nach viele Siedler in die erworbene Schlafhöhle der Kammerbühne, während andere zusammensitzen und über die vergangenen Stunden sprechen oder bis in die Morgendämmerung in der Unterwelt feiern.

Auch beim Frühstück des kommenden Tages bleiben eingangs erwartete Rivalitäten zwischen beiden Dorfgemeinschaften aus. Stattdessen vergnügt und entspannt man sich zusammen von der eher wenig erholsamen Nacht. Geld scheint an Wichtigkeit und Wert zu verlieren und Momente der Ruhe und Reflexion hervorzubringen. Mit dem dramatischen Einsturz der Mine setzt dann jedoch der Schlussshowdown zwischen dem Mafiaboss und den Dorfgemeinschaften ein, der nach letzten Anstrengungen schließlich für die Dörfer entschieden werden kann. Welches Dorf am Ende glücklicher gewesen ist und das Spiel damit offiziell gewonnen hat, spielt da schon keine Rolle mehr.

Eine Frage der Solidarität

Zurückblickend auf diese tatsächlich denkwürdigen und eindrucksvollen 24 Stunden sind die unzähligen Möglichkeiten des Spielverlaufs und der eigenen Ausgestaltung seines Lebens in dieser Welt bemerkenswert. Immer wieder wurde die Frage gestellt, warum man sich selbst so schnell regiodrom4 280 maurice korbel uBöser Konzern! © Maurice Korbel auf die vermuteten Gegebenheiten eingelassen hat – dass Blüten einen Wert haben, Sandsäcke eine wichtige Ressource oder Kreditaufnahmen zu vermeiden seien. Solche Momente sind stark, bedeutungsvoll und entfalten die Kraft des Spiels. Allerdings fanden sich von den anvisierten 250 Mitspielern in Freiburg dann doch weitaus weniger. Und auch eine andere Schwäche des Regiodroms, der Schlussakt, fällt deutlich ins Auge: Dieser ist so offensichtlich auf das Dilemma zwischen korruptem Konzern und Bank auf der einen Seite und einer "alternativlosen" Rettung durch die Siedler auf der anderen Seite ausgerichtet, dass wirkliche Dramatik ausbleibt.

Stattdessen wird einem die allgegenwärtige gesellschaftliche Frage nach Solidarität aufgezwungen, die entsprechend überraschungslos auch im Regiodrom die Gemeinschaft spaltet. Den brillanten Momenten offener Dynamik und den Eindrücken der vorherigen 24 Stunden trägt dieser gewollte Schluss zu wenig Rechnung.

Und dennoch: Das Regiodrom ist ein Wagnis, nicht nur für die Mitspieler, sondern als Produktion für Gehre und Ledit sowie für das Theater Freiburg. Ein Wagnis, das sich lohnt; das ausgesprochen unterhält, nachdenkliche Momente erzeugt und das hoffentlich in Folge weitere Wagnisse dieser Art anstoßen und befördern wird.

 

Regiodrom (UA)
Ein 24-Stunden-Spiel für 250 Siedler
Künstlerische Leitung: Klaus Gehre, Gamedesign: Lev Ledit, Ausstattung: Mai Gogishvili, Video: Jens Dreske, Dramaturgie: Jutta Wangemann.
Mit: André Benndorff, Heiner Bomhard, Victor Calero, Qin Du, Jens Dreske, Johanna Eiworth, Sascha Flocken, Klaus Gehre, Mai Gogishvili, Hendrik Heutmann, Johannes Knapp, Bozidar Kocevski, Lev Ledit, Linda Lienhard, Mathias Lodd, Caroline Martin, Iris Melamed, Nicole Reitzenstein, Stephanie Schönfeld, Graham Smith, Jutta Wangemann, Martin Weigel und rund 40 Laiendarstellern.
Dauer: 24 Stunden

www.theater.freiburg.de

 

Kritikenrundschau

"Ein Wohlfühl-Freiburg im Kleinen – nur für alle", beschreibt Jürgen Reuß in der Badischen Zeitung (22.7.2013) seinen Grundeindruck vom Ergebnis dieses 24-Stunden-Experiments. "Im echten Freiburg braucht man fürs Wohlfühlen bekanntermaßen ein hohes Grundeinkommen". Ziel des interaktiven Theater-Spiels sei es gewesen, "am Ende ein möglichst glückliches Dorf gegründet zu haben. Für 250 mögliche Teilnehmer war das Spiel ausgelegt. Die tatsächliche Teilnehmerzahl betrug ein Drittel. Vielleicht lag es an dieser Unterfüllung, einem gewissen Überangebot an Platz und Arbeitsmöglichkeiten, dass die Dörfer stark idealistische und solidarische Gemeinschaftsformen bevorzugten."

Von einem durchschnittlichen Glücksindex von 7 (auf einer Skala bis 10) in der Dorfwelt und Wettspielen mit batteriebetriebenen Plastikkakerlaken in der Unterwelt berichtet der Mitarbeiter des freien Radio Dreyeckland (22.7.2013) und stuft das Regiodrom im Ganzen als "sehr spannende Sache" ein.

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