Anderweltlich

von Martin Pesl

Salzburg, 30. Juli 2013. "Otherworldly", das ist so ein unübersetzbares Wort. "Jenseitig" schlägt das Wörterbuch vor, aber das ist so negativ besetzt wie diese Produktion es bestimmt nicht gerne hätte. Irgendwie aus einer anderen Welt, surreal, so präsentiert sich das scheinbar brüchige, in Wirklichkeit perfekt durchdesignte Live-Bilderbuch des Londoner Ensembles um Regisseurin, Lyrikerin und Storytellerin Suzanne Andrade, das mit seinen Erfolgsshows "Between the Devil and the Deep Blue Sea" und eben "The Animals and Children Took to the Streets" durch Festivals tourt. "So etwas haben Sie noch nie gesehen", verspricht die Homepage. Bescheidenheit wäre auch fehl am Platz bei einer Gruppe, die sich 1927 nennt, weil in diesem Jahr der Film eine Stimme bekam und kein Stein auf dem anderen blieb. Umschalten ist angesagt: Wir sind im angelsächsischen Produktionssystem, es wird perfekt umgesetzt, produziert und beworben, die Show verkauft.

In der fabelhaften Welt der Armenviertel

Diesmal ans Young Directors Projects bei den Salzburger Festspielen. Deren Schauspielchef Sven-Eric Bechtolf beweist auch in seinem zweiten Jahr eine überraschende Affinität für ein verspieltes, handwerklich versiertes Theater, das nahe ans (gerne junge, etwas verträumte) Publikum herankommt, damit es von ihm gestreichelt und geknuddelt werden kann. Das triste Armeleuteviertel Bayou, in dem "The Animals and Children Took to the Streets" spielt, soll rühren durch in Düsternis getunkte Niedlichkeit. An Werke von Sylvain Chomet ("Das große Rennen von Belleville") erinnert Paul Barritts bewusst naive, aber liebevolle Animation dieses märchenhaft rauen Bezirks, in dem gute Menschen wie der einsame Hausmeister und die gescheiterte Möchtegernpädagogin es schwer haben. Willkommen in einer fabelhaften Welt der Amélie, die von Tim Burton oder, noch passender, Roald Dahl ersonnen sein könnte.

1927children2 560 c1927 uVintage forever, Tim Burton lässt grüßen © 1927

All die Assoziationen zeigen: Noch nie dagewesen ist da gar nichts. Drei in Brecht'scher Künstlichkeit geschminkte Darstellerinnen in clownesken Kostümen (darunter die Regisseurin selbst) interagieren punktgenau mit dem auf ein Triptychon an Leinwänden aufgeteilten Animationsfilm, sind abwechselnd Erzählerinnen in anachronistisch schrulliger Sprache, eine von ihnen (Lillian Henley) spielt dazu einen klaviergetriebenen Soundtrack. "Kabarett trifft Stummfilm", deutet das Programmheft an, "Varieté trifft Animationsfilm" trifft es eher. Wenn der Hausmeister fegt, geht zeitgleich eine animierte Staubwolke hoch, wenn er im Bett liegt, können um ihn herum dank der Animation gleichzeitig seine öden Zimmerwände und seine wilden Träume ablaufen.

Geknuddelt und bejubelt

Als Zutaten zu einer routinierten Show gibt es dazu noch einen sozialen Aspekt: die Unzufriedenheit der Jugendlichen in vernachlässigten Stadtvierteln und Methoden, wie man damit umgeht. In diesem Fall verschleppt man die Kids nächtens in eine Anstalt und verpasst ihnen ein als Gummibonbon verpacktes Medikament à la Ritalin. Der Hausmeister kann die Tochter der von ihm heimlich verehrten zugereisten Lehrerin rechtzeitig retten (dies ist übrigens eine weitere Zutat: eine Handlung mit romantischem Touch). Da er sich nach erfolgter Rettung aber für das "realistische" der beiden ihm dargebotenen Stückenden entscheidet (wie das andere, "idealistische", verlaufen wäre, erfahren wir nie), empfindet die Bevölkerung die Holzhammermethode des Bürgermeisters als vollen Erfolg, die Pädagogin zieht wieder in ihr Dorf und lässt den Hausmeister einsam zurück.

1927children1 560 c1927 uVarieté trifft Animationsfilm © 1927

Diese Geschichte kann sich in nur 70 Minuten allerdings nicht so ganz entfalten. Stattdessen fährt der Abend eine ganz auf Atmosphäre ausgelegte Einlullstrategie: Selbst der gesprochene Text kommt vom Band, die Schauspielerinnen bewegen nur die Lippen dazu. Das funktioniert technisch einwandfrei, wird bei diesem Gastspiel jedoch von zwei Mankos getrübt: Salzburg – ausgerechnet das Festspiel-Salzburg! – ist weit, weit entfernt von dem in London virulenten Problem "schlechter" Viertel und dort protestierender Jugendlicher. Was an Substanz hinter der flachen, flimmernden Leinwand schlummern könnte, prallt hier also ab. Und der Spielort republic hat eine so breite Bühne, dass die drei Wände in der Mitte verloren wirken, anstatt zu fesseln.

Dafür kann Suzanne Andrade natürlich nichts: Ihre Show läuft wie geschmiert, frönt einer durchaus nachvollziehbaren Leidenschaft für verspielte Vintage-Verschrobenheiten und wurde auch bei dieser Premiere in einer völlig anderen Welt gestreichelt, geknuddelt und bejubelt.


The Animals and Children Took to the Streets
von Suzanne Andrade
Regie: Suzanne Andrade, Film, Animation und Design: Paul Barritt, Musik: Lillian Henley, Kostüme: Sarah Munro, Esme Appleton, Produktion: Joanna Crowley für das Ensemble 1927, Koproduktion: BAC London, Malthouse Theatre Melbourne & The Showroom.
Mit: Suzanne Andrade, Esme Appleton, Lillian Harvey.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.salzburgerfestspiele.at
www.19-27.co.uk

 

Für die Komische Oper Berlin schufen Suzanne Andrade und Paul Barritt von 1927 gemeinsam mit Barrie Kosky 2012 ihre gefeierte Zauberflöte (Link zur Homepage der Komischen Oper).

 

Kritikenrundschau

Als "etüdenhaftes Kammerspiel" beschreibt Karl Harb von den Salzburger Nachrichten (1.8.2013) den "raffiniert" gemachten Abend. Man spüre die sozialkritischen Untertöne, aber für den Geschmack des Kritikers "so sacht, dass sie auch in den Bereich der Sozialromantik lappen könnten. Interpretieren will '1927' nicht, nur erzählen." Distanz schaffe dabei zusätzlich das stummfilmästhetisch grell überschminkte Darstellerinnentrio.

"Das böse Märchen voller schwarzem Humor ist insgesamt schön anzuschauen, auch wenn man von Nachwuchstheatermachern eine weniger putzige (ganz den 1920er-Jahren abgeschaute) Ästhetik erwarten würde", schreibt Margarethe Affenzeller in der Wiener Tageszeitung Der Standard (31.1.2013, 17:29 h). Die Gruppe 1927, der englischen Kabarettszene entwachsen, sei ganz der Stummfilmästhetik verpflichtet: "Die Darstellerinnen (drei an der Zahl) integrieren sich mit ihren bleich geschminkten Gesichtern mechanisch perfekt in die auf ein Leinwandtriptychon projizierte, vergilbte Welt eines Elendsviertels."

Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (1.8.2013) empfindet 'The Animals and the Children Took to the Streets' trotz seiner sozialkritischen Erzählgrundlage als "geradezu putzig": als "bezauberndes Stück Animations-Projektions-Theater im Vintage-Look", das der Kritikerin in seiner geschmeidigen Gefälligkeit auch ganz gut das Theaterverständnis von Sven-Eric Bechtolf veranschaulicht: "Phantasievoll und kindlich verspielt soll es sein (Bechtolf liebt ja auch das Figurentheater), nicht zu sperrig, nicht zu fordernd, nicht zu fremd, Theater prall und satt und lieber ein bisschen platt als zu intellektuell-experimentell."

 

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