Großmutter Finnlands Schweigen

von Wolfgang Behrens

Berlin, 20. Dezember 2007. Die Zeit der großen Erzählungen ist vorbei. So jedenfalls hat’s Lyotard vor 30 Jahren gesagt, und gemeint hat er’s wohl geschichtsphilosophisch. Aber immerhin hält Lyotard auch einen Trost bereit: "Der Niedergang der großen Erzählungen hindert Milliarden von kleinen Geschichten nicht daran, weiterhin den Stoff täglichen Lebens zu weben." Was aber, wenn auch die kleinen Geschichten versagen?

Wie Großmutter erzählt

In ihrem kurzen Zweipersonenstück "plus null komma fünf windstill" lässt die Finnin Maria Kilpi eine junge Frau aus Helsinki, im Text nur "Mädchen" genannt, an Weihnachten zu ihrer Großmutter aufs Dorf fahren, um mit ihr "über alte Zeiten zu reden". Eigentlich aber will das Mädchen ihrer Großmutter eine zusammenhängende, eine nachvollziehbare Lebenserzählung abfordern: ausgerichtet am Faden ihrer Vertreibung im finnisch-sowjetischen Krieg.

Das aber kann oder will – Kilpis Stück lässt das offen – die Oma nicht liefern. Anstatt eine lineare kleine Geschichte aufzubieten, erinnert sie sich nur punktuell an herausgehobene Details und Fragmente. Ihre Erzählung zerfällt in emotional aufgeladene Erinnerungsinseln.

Fremde Verwandte

Kilpis kleines Stück ist von anrührender Lakonie, was auch der Jury des diesjährigen Theatertreffen-Stückemarkts nicht verborgen blieb, wo es – da noch unter dem irreführend komödiantischen Titel "Wie ärgerlich!" firmierend – mit dem Förderpreis für neue Dramatik ausgezeichnet wurde. Was nun die Uraufführung im Studio des Maxim Gorki Theaters nach sich zog, die der erst 24jährigen Regisseurin Nora Schlocker anvertraut wurde.

Schlocker hat sich nicht dazu hinreißen lassen, die melancholisch gefärbte Oberfläche des Stücks elegisch zu verdoppeln. Anstatt die beiden Frauen aus einer langen, auch physischen Vertrautheit heraus agieren zu lassen – eine Möglichkeit, die der Text durchaus geboten hätte –, betont Nora Schlocker von Anfang an die Fremdheit zwischen Großmutter und Enkelin. Bei der Begrüßung stehen sie sich gegenüber, als hätten sie sich noch nie gesehen. So etwas wie liebevolle Nähe will gar nicht erst aufkommen, die wenigen Berührungen zwischen den beiden erfolgen überfallsartig aggressiv.

Nein, meine Geschichte bekommst du nicht!

Das Ungemütliche, ja Desolate dieser Beziehung findet seinen Widerhall in dem Raum, den Magdalena Musial entworfen hat: Auf der Spielfläche ist unordentlich eine Plastikplane ausgelegt, zwischen den Falten der Plane stehen Wasserlachen, über denen ein paar Bretter dem trockenen Fuß einen schmalen Weg bieten, Töpfe fangen von oben nachtropfendes Wasser auf – nicht das jedenfalls, was man sich gemeinhin unter einer betulichen Alte-Damen-Wohnung vorstellt.

Ruth Reinecke gibt die Oma als harte, hart gewordene, verbitterte Frau. Bei ihr unterliegt es keinem Zweifel, dass sich die Großmutter nicht an alles erinnern will. Wenn sie der Enkelin vorschlägt, doch Fernsehsendungen über die Vertreibung anzuschauen, falls sie sich informieren möchte, dann ist das nicht nur Ratlosigkeit angesichts des eigenen Unvermögens zur Erzählung, sondern auch Bosheit: Du bekommst meine Geschichte nicht! Oder Selbstschutz: Zu lange ist in der alten Frau ein vielfach verletztes Ich verschüttet gewesen, als dass es nun, ohne zu neuen Verletzungen zu führen, einfach erzählt werden könnte.

Vergebliche Identitätssuche

Das Mädchen erhält bei Julischka Eichel eine ganz eigene Geschichte. Ihre Körperhaltung drückt permanente Unsicherheit aus. Oft hält sie sich verlegen und fahrig an ihrer Handtasche fest, dann wieder geht sie übertrieben beflissen und zielstrebig und mit der Videokamera in der Hand auf ihr Projekt los, die Großmutter zum Reden zu bringen.

In einer schönen stillen Szene aber (Nora Schlocker beweist des Öfteren den Mut zur Stille) lässt Julischka Eichel schließlich erahnen, was das Mädchen treibt: Lange schaut sie in die Ferne, offenbar zu dem alten Haus auf der anderen Seite des Flusses hinüber, in dem sie als Kind bei den Großeltern war. Sie hält eine Abbildung des Hauses in den Händen, das sie schließlich in einem konvulsivischen Akt der Verzweiflung in einer der Wasserlachen versenkt: Ihr Versuch, sich ihre Identität aus einer stimmig erzählten Herkunft neu zu erklären, ist kläglich gescheitert. Langer freundlicher Applaus für einen kleinen, runden Abend.

Und, ach ja: Wollte noch jemand wissen, was der neue Titel "plus null komma fünf windstill" bedeutet? Der tote Großvater des Mädchens hatte nämlich seine eigene Form, sich die Zeit zu erzählen: Jeden Tag hat er in seinem Kalender die aktuelle Wetterlage verzeichnet. Sonst nichts.

 

plus null komma fünf windstill. UA
von Maria Kilpi, Uraufführung
Deutsch von Stefan Moster
Regie: Nora Schlocker, Bühne und Kostüme: Magdalena Musial, Musik: Theo Solnik. Mit: Julischka Eichel, Ruth Reinecke.

www.gorki.de

 

 

Kritikenrundschau

"Es begann so hübsch beiläufig im Foyer des Gorki-Studio, dass die Hoffnung aufkam, das prämierte Stück "plus null komma fünf windstill" der Finnin Maria Kilpi bekomme die nüchtern doppelbödige Uraufführung, die sein Titel verdient", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (22.12.2007). Und auch das Stück selbst weiß die Kritikerin zu loben: Kilpis "wortarme Abbreviaturen" vermessen "die Kluft zwischen erlebter Erinnerung und spätem Gedenken". Das "Brot der Kilpi" entfessele dabei "keinen Proust'schen Madeleine-Effekt, sondern bleibt ein rätselhaftes Zeichen". Im Gorki-Studio liegt es aber "ungekostet auf dem Brettersteg, auf dem sich Oma und Enkelin treffen". Denn "leider trägt Schlockers Spielidee darüber viel zu dick auf: Julischka Eichel schimpft mit Kamera in der Hand wie ein hysterisches Schulmädchen die Oma aus ihrem Vergangenheitstraum, während Ruth Reinecke sich zwar verschmitzt, aber allzu störrisch weltflüchtig in ihrem überschwemmten Bretterverschlag einnistet. Das viel zu aggressive Wasserplanschen beider verspritzt alle Ambivalenz des Erinnerungsbildes und beider zartes Aufeinanderverwiesensein ersäuft unerkannt."

Sehr kurz meldet sich Christoph Funke im Tagesspiegel (28.12.2007) zu Wort und meint: "Den geradezu verzweifelten Versuch, sich nicht preiszugeben und doch, mit einem Lächeln, Kontakt zu finden, spielen die Schauspielerinnen mit Härte und Genauigkeit. Umso schärfer, aufwühlend- verstörender tritt zutage, wie in ihrem Trotz, ihrer sturen Hingabe an das Eigene ein heißes Begehren steckt, endlich anders, aufrichtiger sein zu dürfen. Aber – alles ist vergeblich."

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