Mit Philipp geht die Sonne auf

von Thomas Rothschild

Salzburg, 13. August 2013. Ein "Don Carlo" mit Jonas Kaufmann in der Titelrolle, Anja Harteros als Elisabeth, Ekaterina Semenchuk als Eboli, Matti Salminen als Philipp und mit Thomas Hampson, der den Posa bereits 2001 in der mit wechselnder Besetzung vier Spielzeiten im Programm aufbewahrten Salzburger Inszenierung von Herbert Wernicke gesungen hat, wie zuvor in der legendären Pariser Inszenierung von Luc Bondy, die übrigens wie die aktuelle Inszenierung von Antonio Pappano dirigiert wurde, wäre überall auf der Welt ein Publikumsmagnet. Aber eine Oper ist, anders als ein Oratorium oder eine Kantate, nicht nur ein musikalisches, sondern auch ein theatrales Ereignis. Dass in der Oper oft interessantere Regiearbeiten zu finden sind als im Sprechtheater, ist nicht mehr ganz neu. Es hat begonnen, als Gerard Mortier auf die Idee kam, einige der besten Schauspielregisseure in sein Théâtre Royal de la Monnaie nach Brüssel einzuladen.

don carlo 560 monikarittershaus uOper im Salzburger Breitwandformat: "Don Carlo" © Monika Rittershaus

Es gehört heute zum guten Ton unter jüngeren Kritikern, Regisseure wie Peter Stein, Andrea Breth oder Luc Bondy ins Altersheim oder wenigstens ins Museum zu verweisen. Dass sie die Protagonisten eines Regietheaters waren, das den Text interpretierend oder auch kritisch begleitete, statt ihn bloß zum Anlass für geschichtslose und analytisch unbedarfte Selbstprofilierung zu missbrauchen, ist vergessen oder wird zumindest nicht gewürdigt. Dass Regisseure, die sich um das deutschsprachige Theater und eben auch die Oper jedenfalls eher verdient gemacht haben als ihre Kritiker um die Theaterpublizistik, Journalisten nicht sonderlich lieben, kann man angesichts dieser Situation nachempfinden. Zwischen der Freiheit der Kritik, die es unter allen Umständen zu verteidigen gilt, und einer präpotenten Rotzigkeit gibt es einen Unterschied. Es ist nur eine Frage der Symmetrie, wenn Künstler auf gnadenlose Verrisse mit Arroganz oder auch Aggression reagieren.

Es beginnt zu schneien

Nun also hat Peter Stein bei den Salzburger Festspielen Verdis "Don Carlo" inszeniert. Zuvor gab er keine Interviews. Was er zu sagen hat, sieht man auf der Bühne. Nehmen wir es vorweg: Bei der Premiere gab es für alle Beteiligten, also auch für die Regie, freundlichen, wenngleich für Salzburger Verhältnisse nicht überschwänglichen Applaus. Mehr als zehn Minuten hielt er nicht an.

Gespielt wurde die modifizierte frühe Fassung in italienischer Sprache, mit dem später gestrichenen Fontainebleau-Akt, der den Handlungsabläufen größere Plausibilität verleiht. In knappen Strichen skizziert er die Exposition: Dem leidenden, bei Peter Stein grauen Volk steht in rot die gütige Königstochter gegenüber. Der Krieg endet und die Liebe beginnt. Gleich darauf muss die Liebe – zu Carlos nämlich – beendet werden, damit der Krieg nicht erneut anfängt. Elisabeth opfert ihre Liebe der Staatsraison und heiratet statt Carlos dessen Vater, den spanischen König Philipp II. Sie wird auf den Thron gehoben, nach hinten hinaus getragen. Sie streckt ihre Hand nach dem auf der leeren Bühne zurück bleibenden Carlos aus. Es beginnt zu schneien. Ende der Einleitung.

Tragödie des Diktators, der geliebt werden möchte

Peter Stein inszeniert das holzschnittartig, unter weitgehendem Verzicht auf Psychologisierung. Der zweite Akt führt an das Grab Karls V., der bei Peter Stein als Geist wie Hamlets Vater leibhaftig auftritt. Ferdinand Wögerbauer, insgesamt stilistisch eher unentschlossen, hat für diesen Akt einen Kreuzgang angedeutet, der ein wenig an de Chirico erinnert.

don carlo 280h monikarittershaus uDer König-Diktator (Matti Salminen) und sein
Großinquisitor (Eric Halfvarson)
© Monika Rittershaus
Wenn dann der König die Bühne betritt, wird es hell. Paradoxerweise geht mit ihm die Sonne auf. Die Inszenierung lässt auch Philipp Gerechtigkeit widerfahren. Sie unterschlägt nicht die Tragödie des Diktators, der geliebt werden möchte. In der Gegenüberstellung von Thron und Altar gewinnt Philipp sogar an Sympathie. Die eigentliche Negativfigur ist der Großinquisitor. Ins Zentrum aber rückt die Aufführung Elisabeth. Sie verkörpert das Prinzip der Tugend.

Die breite Panoramabühne des Großen Festspielhauses kommt Steins Chor-Tableaus entgegen. An anderen Stellen, beim Dialog zwischen Posa und Philipp sowie beim einsamen Solo ("Sie hat mich nie geliebt") im Arbeitszimmer des Königs, das wie der gekachelte Eingangsbereich zu einer Badeanstalt aussieht, wird der Bühnenausschnitt um die Hälfte oder zwei Drittel verkleinert.

Verdis Musik der großen Gesten findet, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß, insbesondere aber bei der Visualisierung des Freundschaftspathos auch schauspielerisch ihre Entsprechungen. Dies ist eben Oper, nicht Sprechtheater. Andrea Breth konnte bei ihrer Inszenierung von Schillers Drama andere Mittel anwenden.

Anhaltende Gültigkeit

Der Scheiterhaufen der Inquisition stellt eine Verbindung her zu Jeanne d'Arc, die einen thematischen Schwerpunkt der diesjährigen Salzburger Festspiele liefert. Auch hier scheut sich Peter Stein nicht vor einer Genauigkeit, die aus der Mode geraten ist. Er arrangiert ein Zeremoniell als Zeremoniell. Er nimmt auch dem Schrecken nicht seine Größe.

"Das Volk ist in Aufruhr." Als es, wie in "Panzerkreuzer Potemkin", über eine Treppe zur Revolte schreitet, rettet der Großinquisitor den König. Kirche und Staat haben wieder zu einander gefunden. Man muss Philipp nicht die Maske des Generalissimus Franco aufsetzen, um die anhaltende Gültigkeit des historischen Exempels erkennbar zu machen.

Don Carlos aber holt nicht der Teufel und nicht der Komtur, sondern Karl V.

 

Don Carlo
von Giuseppe Verdi
Regie: Peter Stein, Dirigent: Antonio Pappano, Bühne: Ferdinand Wögerbauer, Kostüme: Annamaria Heinreich.
Mit: Matti Salminen, Jonas Kaufmann, Anja Harteros, Thomas Hampson, Ekaterina Semenchuk, Eric Halfvarson, Robert Lloyd, Maria Celeng, Sen Guo, Benjamin Bernheim, Antonio Di Matteo, Peter Kellner, Domen Križaj, Roberto Lorenzi, Iurii Samoilov, Christoph Seidl.
Dauer: 5 Stunden 10 Minuten, 2 Pausen

www.salzburgerfestspiele.at

 

Kritikenrundschau

 "Gemessen am musikalischen Glück, das mit dieser Verdi-Festspielproduktion beschert wurde, blieb die szenische Dimension hilflos bis kläglich, sagt Frieder Reininghaus im Deutschlandradio Fazit (13.8.2013). "In den günstigen Momenten am Anfang und Ende handelte es sich um unauffällige optische Begleitung." Den psychoanalytisch spannenden Konstellationen bleibe die Inszenierung ebenso wie dem Historiendrama so gut wie alles schuldig: "Die mobilen zwischenmenschlichen Verhältnisse bleiben ebenso wenig wie die der Geschichte und zur Geschichte stehen, auch wenn konservativer Starrsinn sich dies einbildet."

"Dieser 'Don Carlo' blendet, rührt, bewegt, zumindest im Graben", schreibt Manuel Brug in der Welt (15.8.2013). Auf der Bühne inszeniere Peter Stein in Ferdinand Wögerbauers monumentalistischen Bastelbühnenbildnern und Annamaria Heinreichs historienschlichten Kostümen eine kalte Klosterkiste als stilisierte Haupt- und Staatsopernaktion. "Niemand erwartet wohl mehr von diesem selbst ernannten Lordsiegelbewahrer der Tradition den Aufbruch in die Moderne oder auch nur einen Blick hinter die Oberfläche; aber zumindest stand Stein einmal für psychologisches Feilen." Doch davon zeige sich so gut wie nichts mehr, es gebe nur noch pauschale Gestik, dazu in den intimen Szenen viel Händeringen und zu Boden Sinken. "Ein Aufstand alter Opernmänner, manchmal, etwa im plakativen Autodafé, müdes Spektakel."

"Geht es um einen Krieg der Phonstärken in diesem Stück, den der Lauteste gewinnt? Ist Verdi ein Fall für Schwerhörige?", fragt Eleonore Büning in der FAZ (15.8.2013). "Oder, besser gefragt: Wie viele Proben gab es überhaupt für diese hochkarätige, teure, starbesetzte Festspielopernproduktion?" Man fühle sich – "auch szenisch" – manchmal wie ein Zaungast bei einer Hauptprobe. Die Figuren würden von Peter Stein auf der mit hellen Laminatpaneelen ausgekleideten Bühne hin und her geschoben in ihren aufwendigen historischen Kostümen, als wären sie Anziehpuppen. "Vielleicht, dass diese museale Kühle, die Stein wie eine Schutzhülle über das Stück gestreift hat, zu seinem regiehandwerklichen Konzept gehört, dass sie übergroßes Pathos abwehren, Identifikation verhindern soll." Aber eine Oper von Verdi sei kein Brecht-Lehrstück. "Musik verlangt Bewegung."

"Im Großen Festspielhaus gelingt es nicht, die gefragteste Aufführung der Salzburger Festspiele im Verdi-Jahr – sechsmal seit Monaten ausverkauft – zu einem wirklich bedeutenden Theaterabend zu machen", schreibt Sibyll Mahlke im Berliner Tagesspiegel (15.8.2013). Das gelte auch musikalisch. "Antonio Pappano, der das Werk seit vielen Jahren (zuerst 1996 in Paris) dirigiert, wirkt unentschlossen in seinen Tempovorstellungen und seltsam eigenschaftslos im dramaturgischen Verlauf." Zum szenischen: "Dekorativ rennen die Volksmengen auf die Bühne, um sogleich Choraufstellung anzunehmen und das Rampensingen zu beginnen. Dazu Aufmärsche wie aus holdem Vorgestern. Das 'Fest' der Ketzerverbrennung wird zum Breitwand-Tableau. Harmloser, ungefährlicher lässt sich die Szene einer Hinrichtung durch die kirchlich unterwanderte Staatsmacht nicht vorstellen als in den schönen bunten Bildern von Peter Stein." Nichts tue weh, einzig das letzte Lebewohl von Elisabetta und Don Carlo. Allerdings verbucht Mahle das nicht als Regie-, sondern als Darstellerleistung: "Dass diese große Szene bezwingend klingt, verdankt sich Anja Harteros und Jonas Kaufmann."

Eine "Sternstunde" der Salzburger Festspiele hat Peter Hagmann für die Neue Zürcher Zeitung (16.8.2013) erlebt. Peter Steins „szenische Handschrift, die gern als klassizistisch bezeichnet wird, könnte man auch postmodern nennen. Und als Rückkehr verstehen – zu einem Theater, das nicht mithilfe eines emphatisch in Anspruch genommenen Akts der Deutung sich selbst herzeigen will, sondern das dem Werk dient." In einer "reduzierenden wie ästhetisierenden, in hohem Masse Atmosphäre schaffenden Formensprache" zeige sich die Bühne. Was sich "in der grandiosen Kulisse an zwischenmenschlicher Interaktion abspielt", fasziniert den Kritiker. "Selten erlebt man in einer Grand Opéra menschliches Schicksal so hautnah und bewegend wie in dieser Produktion", weil die Darsteller "ihr Agieren ganz aus den musikalischen Verläufen heraus entwickeln; dass dabei die eine oder andere verbrauchte Geste auftaucht, kann man hinnehmen."

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