Auf der Greifswalder Straße - Maik Priebe inszeniert Roland Schimmelpfennigs Fuge über urbanes Leben am Theaterlabor Bremen
Die Magie der Großstadt
von Tim Schomacker
Bremen, 15. August 2013. Das Wort "Copyshop", könnte man meinen, sei eigens erfunden, um es auf einer Theaterbühne zu sprechen. Im kleinen Chor aus drei Figuren, ganz vorn am Rand der mit weißem Klebeband auf dem roten Pflastersteinboden abgemessenen Spielfläche. Drei symmetrische Vokale, umgeben von einer einigermaßen erschöpfenden Auswahl von Konsonanten: "Copyshop". An diesem Wort kommt der Satz zum Stehen, prallen die vorangegangenen Worte wie "Café", "Kiosk" oder "Fotoladen" ab, scheinen sich zu sortieren. Unmittelbar danach kehrt Ruhe ein für einen sehr kurzen Moment.
Poetisierung des Alltags
Kopierläden gibt es sowohl auf der real existierenden Greifswalder Straße, die wie ein graues Band der Normalität den kernsanierten Prenzlauer Berg vom stetig schicker werdenden Friedrichshain trennt. Und es gibt sie auch in "Auf der Greifswalder Straße", diesem 2006 uraufgeführten Berlintext, in dem Roland Schimmelpfennig Biographien und Zeiten ineinander verhakt. Zwischen Mietshäusern, Straßenbahnsträngen und vier Fahrspuren. Und nicht ohne ein Quantum dunkelmagische Ausweglosigkeit. In den guten Momenten des Stücks gelingt eine ebenso dezente wie aussagekräftige Poetisierung alltäglichen Sprechens, mit all seinen schönen Redundanzen, mikrogrammatischen Variationen, Intonationsspektren.
Maik Priebes Inszenierung konzentriert sich dann auch weniger auf die szenischen Momente des Panoramas als auf die Klangstruktur des Stückes. Von einer Reihe von Stühlen aus, die im Bühnenhintergrund auf einer Fläche aus Kalk- oder Mehlstaub stehen, entwickeln die sieben Akteure des Bremer Theaterlabors diese Große Fuge über urbanes Leben. Figurenbeschreibungen werden in den Raum hineinerzählt wie Prosaminiaturen, Spielszenen werden angerissen und bei Bedarf weiterverfolgt. Fetzen von Lebensgeschichten werden hineingegeben in eine ungemein leise schleudernde Zentrifuge des Schicksals.
24 Stunden und einige Jahrzehnte
Wir hören die Geschichte eines Handwerkers, der 1945 seinen silbernen Tauflöffel einmauerte und dabei von einem Querschläger tödlich getroffen wurde. Der Löffel fällt bei einer Sanierung erst Bauarbeitern in die Hände – und dann einem jungen Mann, der unten auf der Straße vorbeigeht, vor die Füße. Der nimmt das Besteck als Zeichen, schenkt es seiner Angebeteten. In Schimmelpfennigs Berlin gibt es magische Gegenstände. So wie es Wölfe gibt, Supermarktkassiererinnen, die langsam unscharf werden, und die plötzliche Liebe im Krämerladen, die so groß ist, dass man sie nicht überlebt. Schließlich halten drei Rumänen die Sonne an, sodass die hier erzählten 24 Stunden tatsächlich keinen Tag ergeben.
Die Akteure sind dabei weniger Figuren als selbst geisterhafte Existenzen, die zwischen Erzählen und Spielen hin und her springen können, die durchgehen können durch das Personal des Stücks. Kalkweiße Spuren hinterlassen ihre Füße auf der Spielfläche. Und auch an ihnen bleibt – das Schicksal greift mit seinen Pranken in diesem Bühnenberlin gewaltig aus – etwas hängen. Mit sparsamen Bühnenmitteln und im Handumdrehen werden die Figuren als Gezeichnete kenntlich. Einer pappt sich einen mehlweißen Bart ins Gesicht. Eine erzählt von einem Hundebiss und verteilt dazu nach und nach Blut im Raum. Kohlestriche markieren einen innerlich geschundenen Frauenkörper. Wenn sechs Akteure einer Kollegin Kalkstaub ins Gesicht pusten, produzieren sie sichtbar "eine junge Frau mit riesigen Augen wie im Schock".
Im alten Hafen
Das Erzählen, so scheint es, lässt die erzählte Geschichte erst entstehen. Wie in einer entschleunigten Version von "Lola rennt", einer lokalen Variante des Films "Babel" oder einer mythisch unterfütterten Verbeugung an Robert Altmans Carver-Kompilation "Short Cuts" haben "Auf der Greifswalder Straße" alle mit allen zu tun. Die frühere Generatorhalle im vormaligen Bremer Hafengebiet ist insofern ein passender Spielort, als sich auch hier Vergangenheiten und Gegenwarten miteinander verschränken, Reste früherer Funktionen eine Art natürlichen Viebrock-Raum ergeben.
Während Schimmelpfennigs Stück – es misstraut der chronologischen Zeit zutiefst – bisweilen ein wenig ins Taumeln gerät, zwischen alltagsmagisch aufgelösten Zufällen umhermäandert, gelingt Priebe und seinem Ensemble eine unterhaltsame Hör-Spiel-Fassung. Diese überrascht zwar weder mit grandiosen Einsichten in menschliche Existenz noch bezieht sie fulminant Position zu gegenwärtigen Bühnenmöglichkeiten und Theatergründen – aber sie kontert Schimmelpfennigs Schicksalsschläge mit angenehmer Beiläufigkeit. Als ein Paar, das sich im Laufe des Abends – wir ahnen es bereits – noch entzweien wird, beim Frühstück sitzt, läuft das Radio. Zu diesem Zweck singt im Bühnenhintergrund eine Schauspielerin in ein Stück Frischhaltefolie, so dass der Gesang leise schnarrt. Eine von zahlreichen souveränen Bühnenwinzigkeiten. Unscheinbar-prägnant wie der richtige Einsatz des Wortes "Copyshop".
Auf der Greifswalder Straße
von Roland Schimmelpfennig
Regie, Raum: Maik Priebe, Kostüme: Susa Hansen, Dramaturgie: Andreas Menzel.
Mit: Stefanie Bruckner, Nina Heithausen, Lesley Jennifer Higl, Manuel Castillo Huber, Mandy Neukirchner, Alessandro Nanía Pacino, Jan Alexander Zabée.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.theaterlabor-bremen.de
Mehr über den Autor Roland Schimmelpfennig und den Regisseur Maik Priebe erfahren Sie im nachtkritik.de-Lexikon.
Von "knapp zwei eindringlichen Stunden" berichtet Andreas Schnell in der taz (17.8.2013) und in der Kreiszeitung (17.8.2013, Link hier). Schimmelpfennigs Text "konfrontiert uns mit wahrhaft eigenartigen Episoden, die einerseits komplex ineinander verschlungen sind, andererseits sich regelrecht naiv überkreuzen." Wie von "unsichtbarer Hand" scheinen die Figuren "ihrem Geschick zugeführt zu werden". Maik Priebe choreographiere die "Textcollage" in "ein weiß gerahmtes Spielfeld, auf dem das siebenköpfige Ensemble mit minimaler Requisite, die einzelnen Figuren nur durch schlichte Zeichen markiert". Dabei scheine es, als "spielte der Text eher sie als umgekehrt. Szenenanweisungen kommen ihnen wie Eingebungen, denen sie nachkommen."
Schimmelpfennig wird in der Kurzrezension von Sven Garbade im Weser Kurier (20.8.2013) als der "märchenhafteste Realist" vorgestellt. Seinem Stück begegne Maik Priebe mit "konzentriertem Sprech-Theater", das die Vorstellungskraft der Zuschauer herausfordere und die einzelnen Spieler "besser als in früheren Theaterlabor-Inszenierungen" zur Geltung kommen lasse. "Minenspiel, Mut zu Monologen und Ausschnitte von emotionalen Zuständen sind in diesem szenischen Füllhorn bestens aufgehoben".
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Drei falsche Aussagen in einem Satz... nicht übel für einen Theaterkritiker.
"Ich habe nur einmal im Theater etwas gefühlt, das war in Kassel, im Winter 2008. Ich weiß nicht mehr, was ich in Kassel zu tun hatte, aber an einem der Abende ging ich mit Thomas in die Aufführung von Blick zurück im Zorn, die gerade an seinem Theater lief. Junge deutsche Schauspieler von heute spielten junge Engländer von früher so ergeben und ohne Übertreibung, dass man dachte, sie werden auch in hundert Jahren auf dieser Bühne reden und schwitzen und unglücklich sein."