Von andersher beleuchtet

Die "Anmerkungen zum Außenseiter", die Botho Strauß Ende Juli mit seinem Essay "Der Plurimi-Faktor" meinte im Spiegel veröffentlichen zu müssen, sind aus einigen wenigen Passagen zusammengesetzt, die es jetzt im Kontext zu lesen gibt, in dem Band "Lichter des Toren" mit dem schönen Untertitel "Der Idiot und seine Zeit". Man mag die Auswahl als Hinweis darauf lesen, was Strauß für heraushebens- und der Leserschaft eines Nachrichtenmagazins für unbedingt mitteilenswert erachtet. Und wichtig scheint ihm zu sein, den "Plurimi-Faktor" als Untergangsbeschleuniger zu skizzieren.

cover strauss lichter des toren 180Das, so schien mir beim Lesen des Spiegel-Textes, sagt er im trauten Einklang mit jener inkludierten Kulturbetriebsmehrheit, die keine Gelegenheit auslässt, sich besonders von der Online-Wirklichkeit beleidigt zu fühlen. Diesen Eindruck verstärkt der nun vorliegende Band zwar, aber Strauß' Einspruch gegen das "Zeitalter des Postscriptum", erscheint hier varianten- und gedankenreicher, auch poröser, weniger verbittert, weniger verlautbarend.

Seine Feststellung "Früher gab's mehr von dem, was war. Heut gibt's zuviel von dem, was wird" nimmt Strauß nicht nur als Einladung zur Klage über eine götzendienerische Digital-Zeit, die das Populäre und die "Rattenplage der Kommunikation" in den Erlöserstand hebt, sondern als Ermöglichung eines "Bewusstseinssturzes, um zu prüfen, wie weit er (der Idiot, der Außenseiter, D.P.) über seine Verhältnisse gedacht und gefühlt hat".

Und wenn in dieser Gedankensammlung zu lesen ist, der Idiot im Strauß'schen Sinne lebe "in Anklängen" und im Verlustgefühl einer "verlorenen Einfalt", rede zudem "wie ein Angesprochener", vom "Unabsehbaren gewärmt", dem das Leben und die "großen Gemälde lehren", dass "der Mensch noch von andersher beleuchtet (ist) als nur von Mensch zu Mensch"  – dann ist es, als spräche kein "Abgesonderter", sondern ein Sehnender, Suchender, der vergebens zu erreichen versucht, was sein Denken und Fühlen erhofft: ein Andersher, mit dem das Bewusstsein nicht länger über seine Verhältnisse sehnen müsste.

Es ist, als staune er zu Martin Mosebach hinüber, der in seinem jüngsten Buch, "Der Ultramontane", auf den ersten Blick ähnliche Perspektiven wie Strauß zu entwickeln scheint. Ultramontanismus sei, so Mosebach, "ein Gefühl für die Vorläufigkeit unserer Umstände zu entwickeln, zu lernen, sie als Übergangsphase zu begreifen". Hier aber spricht im Unterschied zu Strauß ein vorkonziliarer Altkatholik, der in der Überzeugung lebt, "dass die Gesellschaft seines Heimatlandes in den Fragen von Recht und Moral nicht das letzte Wort zu sprechen hat".

mosebach ultramontane 180Wer wie Mosebach auf der Basis einer "katholischen Grunddisposition" fühlt und denkt, ist "mit einem Teil der Person Ausländer im eigenen Land", was er ausdrücklich als "Einübung" darin versteht, "sich in den eigenen Umständen nicht allzu behaglich einzurichten". Unabhängig von den heiklen Implikationen, die damit verbunden sind (und nicht mit den gewöhnlich gehandelten Etiketten des Reaktionären oder Verstockten einzufangen sind), hat es Mosebach von Strauß aus gesehen besser: Er weiß sich nicht nur als Angesprochener, er bekennt sich auch zu dem, der ihn da "von andersher" anspricht, zu seinem römisch-katholischen Gott. Mosebach muss keine "verlorene Einfalt" beklagen, er hat sie nie aufgegeben.

Dass diese Mosebach'sche Perspektive in einem ästhetizistischen Salonkatholizismus (noch so ein gängiger, arg vereinfachender Vorwurf) nicht aufgeht, lässt sich in einer soeben erschienen Studie des italienischen Philosophen Mario Perniola nachlesen, die eingehend und  scharfsichtig das philosophische und theologische Hinterland dessen offenlegt, was einer wie Mosebach vertritt und Strauß offenbar gern vertreten würde, nämlich einen "Glauben ohne Dogma", der anders als die (gegenwärtige) Glaubenslehre der katholischen Kirche die "religiöse Sensibilität nicht beleidigt". Vom "rituellen Fühlen" spricht Perniola, von der Kraft der Form, der Aufhebung des Subjektiven im Liturgischen, von einem Glauben und Fühlen ohne "ideologisch-politische Apparatur".

Diese Sehnsucht nach rituellem Fühlen ist offenkundig eine anziehungs- und aufschlusskräftige Facette unserer Zeit, was nicht nur über unsere Gegenwart viel zu verraten mag, über ihre Erlösungsbedürfnisse und Übergangssignaturen etwa, sonden auch über den Außenseiter wie Botho Strauß ihn zeichnet: Selbst der Idiot kann sich ihr nicht entziehen. (Dirk Pilz)

Botho Strauß:
Lichter des Toren. Der Idiot und seine Zeit.
Diederichs Verlag, München 2013, 175 S., 20 Euro

Martin Mosebach:
Der Ultramontane. Alle Wege führen nach Rom
Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2012, 160 S., 16,95 Euro

Mario Perniola:
Vom katholischen Fühlen. Die kulturelle Form einer universellen Religion
Aus dem Italienischen von Sabine Schneider
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013, 183 S., 26,90 Euro

 

Stil, Sinn und Form

Viel ließe sich von der Geschichte dieser Literaturzeitschrift berichten (und lernen), von dem schwierigen Beginn unter ihrem ersten Chefredakteur Peter Huchel, von den Texten, die in DDR-Zeiten nicht erscheinen durften, mehr noch von jenen, die es überraschenderweise doch in die Öffentlichkeit schafften, von Bechers stalinismuskritischem Gedicht etwa, das 1988 fast zum Verbot des Blattes geführt hätte, auch von der berühmten Ausgabe im Sommer 1989, als es den 40. Geburtstag zu feiern galt und Erich Honecker ein Glückwunschschreiben übersandte, das die damalige Redaktion unter ihrem Chef Max Walter Schulz zwar druckte, aber hintersinnig zu kommentieren verstand, indem im selben Heft Auszüge aus Christoph Heins komisch-bösem, entlarvendem Stück "Die Ritter der Tafelrunde" veröffentlicht wurden.

sinn und form 180Seit 65 Jahren gibt es Sinn und Form, herausgegeben unter dem Dach der Akademie der Künste. Wenn man ältere der zweimonatig erscheinenden Hefte jetzt noch einmal durchsieht, liest man sich immer wieder fest, findet zu Unrecht Vergessenes wie die Protokolle von Gabriele Eckert, die sie in den 80er Jahren mit Havelobstbauern über ihr Leben und Hoffen führte, auch wahrscheinlich zu Recht nur in der jeweiligen Zeit Relevantes wie die Texte von Ludwig Renn oder Alexander Twardowski – und nie ein Editorial. Der Leser durfte und darf hier immer selbst die Linien und geheimen Korrespondenzen unter den Texten entdecken.

Das war Sebastian Kleinschmidt besonders wichtig; 1984 wurde er in die Redaktion geholt, seit 1991 war er Chefredakteur. Jetzt tritt er ab, mit einem Heft, in dem ihm der befreundete polnische Lyriker und Essayist Adam Zagajewski den Gefallen tat, die Charakteristik von Sinn und Form bleibend auf den Punkt zu bringen. Die Zeitschrift repräsentiere einen "Denkstil", sagt er im Gespräch mit Kleinschmidt, "der diese falschen Trennungen zwischen dem linken, liberalen, ironischen und nicht-metaphysischen Denken auf der einen Seite und dem religiösen, metaphysischen und politisch 'verdächtigen' Denken auf der anderen Seite aufhebt". Das sei großartig.

Das ist es. Es setzt dabei Leser voraus, die geneigt (oder gestimmt) sind, sich herausfordern zu lassen, heraus aus dem Gehäuse der Gewissheiten, heraus aus den Schutzbauten der eigenen, womöglich lieb gewonnenen Überzeugung. Das aktuelle Heft etwa will Georg Lukács und Carl Schmitt gleichermaßen zu ihrem Recht auf ein differenziertes Lesen verhelfen, sucht nach der Musikalität und Sakralität in den Gedichten von Christian Lehnert, druckt Volker Brauns welteinfangendes wie unbeirrbar weltkritisches Gedicht "Wilderness", erinnert an den Theologen Rudolf Otto, befasst sich mit Naturgedichten und Architektur.

Der Denkstil von Sinn und Form ist eine Suche nach der Literatur, auch der Wahrheit, mit sehr verschiedenen Wirklichkeitsfäden. "alles setzt segel. und alles legt ab", heißt es in diesem Heft in einem Gedicht von Jan Wagner.

Wir gratulieren Sinn und Form zum 65. Geburtstag. (Dirk Pilz)

Sinn und Form
65. Jahr, viertes Heft, 2013
Akademie der Künste Berlin, 171 S., 9 Euro

 

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