In den Krieg gezogen

von Sarah Heppekausen

Bochum, 23. August 2013. Vorne vor die Bochumer Jahrhunderthalle, dem Hauptspielort der Ruhrtriennale, hat der Künstler Mischa Kuball eine hohe, weiße Treppe gesetzt. Da kann sich der Festivalbesucher eine neue Sicht auf den alten Industrieort erklimmen. Weiter hinten in der Turbinenhalle ist der Perspektivwechsel nicht bloß Möglichkeit, er ist Programm. Das Dokumentar-Theaterkollektiv Rimini Protokoll setzt dort dem Zuschauer Charaktermasken auf. Computergesteuert, versteht sich, wir befinden uns im digitalen Zeitalter.

Vom Zuschauen kann bei "Situation Rooms" auch eigentlich gar nicht mehr die Rede sein. Mit iPad samt griffigem Holzstiel und Kopfhörer ausgestattet, für die bessere Beweglichkeit befreit von Taschen und sonstigen Lasten, wird der Besucher zum aktiven Teilnehmer. Jeder übernimmt den Blick von zehn Protagonisten (insgesamt gibt es 20), durchläuft mit ihnen an der Tablet-Computer-Hand verschiedene Räume und Situationen. Organisiert mit dem Protokollstabsoffizier Wolfgang Ohlert einen Besprechungsraum, in dem der Kampfpanzer Leopard 2 an Chile übergeben werden soll. Besucht mit dem Bundestagsabgeordneten Jan van Aken eine Waffenmesse. Rührt mit der Kantinenchefin einer russischen Munitionsfabrik im großen Borschtsch-Topf. Und entscheidet mit einem Arzt ohne Grenzen in Sierra Leone über dringende und aufschiebbare Operationen nach Machetenverletzungen.

Schneller Rollenwechsel
Waffen sind das verbindende inhaltliche Element der Situation Rooms. Die einen exportieren sie, die anderen wollen sie abschaffen, wieder andere fordern sie zur besseren Verteidigung. Als Alltagsexperten stehen sie den Zuschauern diesmal nicht auf einer Bühne gegenüber. Videokünstler Chris Kondek hat sie gefilmt, die Rimini Protokollanten Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel haben sie in ein Gewebe aus Ansicht und Gegensicht, Argument und Gegenargument verwoben. Besser gesagt verwickelt. In der Küche trinkt der libysche Bootsflüchtling Tee, oder der Munitionsfabrikant isst seine Suppe. Im Konferenzraum tagen mal Vertreter der Vereinten Nationen, mal die Ärzte ohne Grenzen. Das ist die eine Ebene der Verschränkung, die räumliche. Auf der zweiten führt der Besucher die Handlungen stellvertretend durch. Er zieht sich eine Sicherheitsweste an, schießt als Kindersoldat, betätigt den Schaltknopf für die Drohne. Und beobachtet einen anderen Besucher, der als Rebellenopfer im OP-Zelt liegt. So entsteht ein permanenter Wechsel von menschlicher Nähe und filmisch-theatraler Distanz. Das ist das simple Rimini-Protokoll-Prinzip, das immer auch Schwierigkeiten birgt: Realität auf die Bühne zu bringen.

situation rooms 560 pigi psimenou uNoch Arzt ohne Grenzen oder schon Waffenschieber? "Situation Rooms"© Pigi Psimenou

Dominic Huber hat ein beeindruckend detailgetreues Filmset gebaut. Mit Familienfotos an der Wand, unerträglicher Hitze im Lazarett und Skyline-Ausblick aus dem Chefbüro des Rüstungsherstellers. Man schaut vom Balkon auf eine dunkle Straße in Homs, verfolgt von einem Ausguck den Drohnenflug. Aber es bleibt gar keine Zeit, sich die Räume genauer anzuschauen, die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen. Der ständige Blick aufs iPad lenkt ab. Man könnte den Hinweis auf die nächste Tür verpassen. Vor lauter Konzentration bleibt keine Zeit zur Reflektion über das Gehörte, Gesehene, selbst Ausgeführte.

Die Entkräftung der Objektivität
Auch das ist kein seltenes Phänomen nach dem Besuch einer Rimini-Vorstellung: Erst ist da dieser Frust, diese Unzufriedenheit über bloß angerissene Themen auf der Bühne. Dann, beim anschließenden Über-den-Abend-Nachdenken, beim Biografie-Nachlesen im Programmheft, bekommen diese Themen aber doch eine Brisanz und eine Sogkraft. In diesem Sinne sind Haug, Kaegi und Wetzel Spurenleger. Sie nehmen den Zuschauer ein Stückchen mit auf ihrer Recherchereise durch die Realität.

In "Situation Rooms" bietet die Methode der Multiperspektive Einblicke, aber keinen Überblick. Nachgestellt sind hier die unübersichtlichen Abwege des Krieges, vom Waffenhändler über den Fotografen bis zum flüchtenden Opfer. Das Starren auf den kleinen Computer ähnelt manchmal dem eines Scheuklappenblicks. Keine Zeit fürs Rechts- und Linksschauen, die ganze Aufmerksamkeit auf die eine Sichtweise. Auch das ist vermutlich nicht weit entfernt von der Wirklichkeit. Wer am Krieg beteiligt ist, ob freiwillig oder nicht, muss eindimensional denken. Und Außenstehende haben eine klare Sicht auf die Dinge? So einfach ist das eben nicht, das demonstriert das Multiplayer Video-Stück ziemlich anschaulich. Mit aller Unbefriedigtheit, die diese Tatsache mit sich bringt.


Situation Rooms
von Rimini Protokoll
Regie: Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, Szenografie: Dominic Huber / blendwerk, Video: Chris Kondek, Recherche: Cornelius Puschke, Malte Hildebrand.
Mit: Abu Abdu Al Homssi, Shahzad Akbar, Jan van Aken, Narendra Divekar, Nathan Fain, Reto Hürlimann, Maurizio Gambarini, Andreas Geikowski, Marcel Gloor, Barbara Happe, Volker Herzog, Richard Khamis, Wolfgang Ohlert, Irina Panibratowa, Ulrich Pfaff, Emmanuel Thaunay, Amir Yagel, Yaoundé Mulamba Nkita, Familie R, Alberto X, sowie: Karen Admiraal, Christopher Dell, Alexander Lurz.
Dauer: 1 Stunde, 20 Minuten

www.rimini-protokoll.de
www.ruhrtriennale.de


Mehr zum komplexen Verhältnis von Theater und Realität: Das Versprechen des Realen - Über die Vorstellungen von Wirklichkeit im Theater des 20. Jahrhunderts von Barbara Gronau.

 

Kritikenrundschau

Stefan Keim beschreibt seine Erlebnisse in Fazit auf Deutschlandradio Kultur (24.8.2013) und resümiert schließlich: "Nach 80 Minuten rast der Kopf. Der Zwang, ständig etwas tun zu müssen, verhindert die Reflexion, wen man eigentlich gerade verkörpert. Das kommt später. Dieses Theater hat Nachwirkung."

Die Wirkung der zum Teil erschreckenden Erkenntnisse des Abends entfalte sich "für die pro Gang 20 zugelassenen Zuschauer durch eine logistische Meisterleistung und eine ausgeklügelte Zuschauer-Lenkung", schreibt Max Kirschner in der Westdeutschen Zeitung (26.8.2013) – und "dank der Recherche von Rimini-Protokoll, die sich erneut von traditionellen Guckkasten-Inszenierungen weit entfernen und ihrem Ziel treu bleiben, der Erweiterung des Theaterbegriffs."

Für Pedro Obiera, der auf dem Zeitungsportal Der Westen (26.8.2013) schreibt, übersteigt "Situation Rooms" "an Eindringlichkeit die Eröffnungspremiere [der Ruhrtriennale] von Partchs 'Delusion of the Fury' bei weitem". Die "15 verschachtelten, durch Treppenaufgänge und Korridore zusätzlich verwinkelten Zimmer" seien "liebevoll und bisweilen erschreckend realistisch gestaltet". Am Ende bleibe jedoch "die Möglichkeit einer Aussprache leider ungenutzt. Das einzige Manko dieser lebensnahen Produktion, die zwar nur einen Schimmer von der Situation echter Kriegsopfer vermitteln kann, damit aber mehr leistet als viele Worte."

Das Team von Rimini Protokoll verschiebe in seinem "begehbaren Stück auf geniale Weise das klassische Gefüge von Darstellern und Zuschauern" und gebe "nachhaltig wirkende Einblicke in eine Welt im Kriegszustand", schreibt Max Florian Kühlem in den Ruhr Nachrichten (26.8.2013). "Mit einer postmodernen, fragmentarisierten Erzählweise entspricht Rimini Protokoll der alten aristotelischen Lehre, die das Durchleben extremer Gefühle im Theater fordert." Man sollte sich diese Performance, so Kühlem, "auf gar keinen Fall entgehen lassen".

Zum Festival-Gastspiel beim Münchner SpielArt schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung: "Ein hybrides Meisterwerk, seit der Premiere im August deutlich suggestiver und intensiver geworden." Man durchstreife einen hyperrealistischen Parcours, spüre die Hitze des Krieges, die Kälte der Waffenschmieden, werde angeleitet von einem iPad, überfrachtet mit Informationen, "agiert selbst mit Requisiten und erspürt Krieg in allen Aspekten, sofern bei der Überlagerung der Mittel noch Zeit zum Nachdenken bleibt".

Zum Gastspiel beim Kampnagel Sommerfest in Hamburg schreibt Esther Slevogt in der taz (11.8.2014): "Es ist eine Arbeit, die auf geradezu haptische Weise die Frage nach den Bildern stellt, die der Krieg produziert: und zwar der (gefälschten) Propagandabilder ebenso wie der innersten Alptraumbilder". Erzählt werde von der für den Einzelnen so undurchdringbaren medialen Benutzeroberfläche dieser Bilder ebenso wie von der Totalität moderner Kriege, die inzwischen fast jeden zum Akteur und Mittäter machten: "Man braucht nur ein Konto bei einer Bank zu haben, die das Geld ihrer Anleger mit Rüstungsgeschäften vermehrt." Die Zuschauer in dieser inhaltlich wie logistisch virtuos durchdachten Arbeit würden in diesem Theaterstück auch selbst zu Akteuren, "wie in einem Ego-Shooter". Schärfer könne man die Facetten heutiger Kriege nicht ins Visier nehmen.

"Ob das möglich ist, unverfälscht vom Krieg zu erzählen – und von den Waffen, mit denen er geführt wird –, ist die große Frage dieser Inszenierung", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (16.12.2014) anlässlich des einmonatigen Berlin-Gastspiels von "Situation Rooms" im HAU. Das Stück sei allein in technischer Hinsicht eine große Leistung. Und sonst? "Mitmach- und Einfühlungstheater, keine Frage. Aber ein perfekt durchchoreografiertes, das jeden Besucher sein eigenes Stück erleben lässt." "Situation Rooms" spiele schlüssig mit der Mehrfachbelichtung der Perspektiven und erzähle von einer Bilderproduktion, "die eben keine letztgültige Wahrheit birgt".

"Der Zuschauer ist kein Zuschauer, auch wenn er es allzu gerne wäre an manchen Stellen der multimedialen Erlebnissimulation", schreibt Ines Alwardt anlässlich der Berliner Gastspiel-Reihe für die Süddeutsche Zeitung (online 18.12.2014). Die Szenerie lasse "keinen Raum für Distanz, die Besucher erleben Krieg, Mord und Waffengeschäft hautnah und ungeschönt." Hier bekomme man "unausweichlich das mit, was Menschen in Deutschland sonst nur aus nüchterner Distanz sehen, wenn sie gemütlich auf der Couch vor dem Fernseher sitzen." Es sei "nicht nur die Frage nach der eigenen Rolle, die sich der Besucher (...) stellt, sondern auch die nach der Rolle des eigenen Landes" im weltweiten Rüstungsgeschäft. "Zwischen Besuchern und Protagonisten entsteht während des Rundgangs eine Nähe, die irritiert", und am Ende bleibe die Frage: "Wer ist denn nun eigentlich schuld an diesem System, diesen Kriegen, diesem Töten?" Die Essenz des Abends sei, so meint Alwardt angesichts der anfänglichen Bitte des Teams, den iPad-Aufforderungen Folge zu leisten: "Das System erhält sich selbst - solange jeder einzelne mitmacht."

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