Beim Zuschauen zuschauen

von Thomas Irmer

Berlin, 30. August 2013. Jean-Luc Nancy ist heute der Gebrauchsphilosoph bei Theaterleuten. Das Verstehen des "Offenen" im Sinne Nancys hat nun seinen Landsmann Laurent Chétouane zu einer Choreographie zum Thema der Möglichkeiten des Zusammenseins inspiriert. Einfacher gesprochen: Beieinander in Variationen. Das Grundmodell liefert allerdings nicht die Philosophie, sondern die moderne Dramatik. Denn von Edward Albee bis Yasmina Reza ist das Aufeinandertreffen von zwei Frauen und zwei Männern die effektivste Figurenkonstellation, was Variantenreichtum im Verhältnis zur Personenzahl angeht: wechselnde Paarbildungen, Soli und Trios, und natürlich das Quartett.

Offen ist im wahrsten Sinne auch die Bühne des HAU1, leer bis zu den schwarzen Mauern am hinteren Rand. Vier Tänzer, zwei Männer, zwei Frauen, treten in Alltagskleidung auf, Jeans, T-Shirt oder Longshirt, Turnschuhe. Drei legen sich nach kurzer Erkundung des Raums auf den Boden – die Kombinatorik beginnt. Chétouanes Purismus, den er ab Ende der 90er Jahre als Schauspielregisseur ausgefeilt hat, zeigt sich hier zum Abschluss des Festivals "Tanz im August" mit einer konzeptuell strengen Choreographie, die von exzellenter Musik getragen, ja, geleitet wird. Es sind Stücke moderner Kammermusik des Amerikaners Nico Muhly – auch hier spielt die wechselnde Kombination der vier Instrumente eine wesentliche Rolle –, umrahmt von zwei Stücken des Barockkomponisten Domenico Gabrielli. Es ist praktisch ein sehr, sehr guter Konzertabend mit Tänzern.

Fein sein, auseinander bleiben

Fast alles, was diese machen, ob Figuren im Stile des modern dance oder der stilisierten Alltagsbewegung wirkt flüchtig, nur angerissen für Momente, ob als Solo, Paare oder Gruppe. Nichts ist auch nur für einen kürzeren choreographischen Zusammenhang beständig. Am markantesten stechen Zitate heraus, wie etwa die charakteristischen Kreisschwingbewegungen, die Anna Teresa de Keersmaeker einst als minimal dance zu Kompositionen von Steve Reich erfand.© Oliver FantitschBeieinander in Variationen © Oliver Fantitsch

Aber auch diese währen nur einen Moment. Man mag das schnell als das inhaltliche Anliegen von Chétouanes Beziehungsuntersuchungen sehen. Bei aller Vielfalt der möglichen Beziehungen bleiben diese nämlich vor allem eins: Momente des beieinander Getanzten, denen wesentlich öfter das Auseinandersein gegenüber steht. Paradoxerweise wirken ausgerechnet die Pausen zwischen den Musikstücken, in denen die Tänzer sich um ihr leeres Geviert neu arrangieren, am stärksten für diese Stimmung.

Der Regisseur im Choreographen hat dafür – neben der alles zusammenhaltenden Musik – noch ein As im Ärmel, mit dem die schon etwa zur Hälfte aufkommende Gleichförmigkeit des Ganzen zwar nicht wirklich durchbrochen, aber die konzeptuelle Seite noch gestärkt wird. Denn wer von den Tänzern gerade nicht an den Variationen beteiligt ist, schaut ostentativ zu. Meist von der Seite, einmal jedoch auch zur überdeutlichen Demonstration von vorn an der Rampe, wobei eine das Publikum mustert und die anderen beiden das Solo mit dem Rücken zum Publikum verfolgen.

Das Denken der Beine

In dieser Spiegelung des Zuschauens ist sicher noch viel mehr drin als aus der Quartettkombinatorik herausgeholt wird. Damit wird der Abend zwar nicht größer, aber in sich noch konsequenter und wohl noch ein bisschen Nancy-hafter: Sieht man doch auch in dieser Beziehung, dass nicht alle das Gleiche sehen oder besser: betrachten und begreifen können, auch wenn diese Situation der flüchtigen Tanzfiguren alle beziehungsreich im Theater zusammenbringt.

Im Festivalprogrammheft steht ein Schmuckstück des polnischen Meisteraphoristikers Stanislaw Jerzy Lec: "Das Tanzen ist die Kunst, wo die Beine denken, sie seien der Kopf." Was man hier ohne weiteres sofort unterschreiben kann.

 

15 Variationen über das Offene
Choreographie: Laurent Chétouane, Musik: Domenico Gabrielli, Nico Muhly.
Mit: Matthieu Burner, Mikael Marklund, Senem Gölce Ogultekin, Sigal Zouk sowie Emmanuelle Bernard (Violine, Bratsche), Matthias Halvorsen (Klavier), Michael Rauter (Cello).
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten

www.tanzimaugust.de
www.hebbel-am-ufer.de

 

Zum Auftakt von "Tanz im August" porträtierte Astrid Kaminski die zeitgenössische deutsche Tanzszene. Eine weitere Nachtkritik vom Festival gibt es zu Trachtenbummler von Jochen Roller.

Kritikenrundschau

In der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel (31.8.2013) schreibt Sandra Luzina innert einer Sammelrezension einen Kurzabsatz: Chétouane habe sich "angeblich" von Jean-Luc Nancy zu seinem Stück "anregen lassen". Das sei "ganz schön anmaßend". Die vier Tänzer bewegten sich "wie unter Valium". "Einschläfernd".

 

 

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