Pressekonferenz der neuen Intendanz am Berliner Maxim Gorki Theater
Beim Ich anfangen
von Esther Slevogt
4. September 2013. Fangen wir mit dem umgedrehten R im Wort "Gorki" an, wie es nun im neuen Logo des Maxim Gorki Theaters erscheint, das aus eben diesem Wort besteht: GOЯKI. Das einzige deutschsprachige Theater, darauf wies Co-Intendant Jens Hillje bei dieser Eröffnungspressekonferenz hin, das nach einem nicht-deutschsprachigen Autor benannt worden ist, nach dem russischen Schriftsteller Maxim Gorki eben. Darüber hatte man bisher auch noch nicht nachgedacht. Wie mehrfach winzige Details und Beiläufigkeiten auf dieser Pressekonferenz plötzlich ganz neue Bezüge und Blicke auf diesen Ort in der historischen Mitte Berlins eröffneten.
Wer ist Ich?
Das umgedrehte "R" ist so ein Detail. Marianna Salzmann, die in Russland geborene deutsche Dramatikerin und künftige Hausautorin des neuen, alten Maxim Gorki Theaters, erklärte, was es damit auf sich hat: So nach links gedreht, wird aus dem lateinischen Buchstaben "R" nämlich der kyrillische Buchstabe "Я", gesprochen "Ja", und heißt auf Deutsch "Ich". Und um dieses "Ich", beziehungsweise um die unterschiedlichsten Identitätskonstruktionen, die stets ein Ich ergeben, wird es an diesem Haus in Zukunft gehen.
Großes Interesse an den Plänen der neuen Leitung – die Rücken gehören von rechts: dem Geschäftsführenden Direktor Jürgen Maier, der Leiterin des Studios Marianna Salzmann und dem Co-Intendanten Jens Hillje. © Lutz KnospeDas klingt erst mal simpler als es ist – steht dieses Ich doch vor dem "Wir", aus dem dann eine Gesellschaft werden soll. Doch wer sind diese Einzelnen überhaupt? Nicht alle kamen in der Hochkultur bisher vor. Nicht alle haben das Selbstbestimmungsrecht über die Zuschreibung, für wen sie in dieser Gesellschaft gelten: Kinder von Eltern zum Beispiel, die nicht in Deutschland geboren wurden.
Im Rosennetz der Geschichte
Dies soll und muss anders werden, auch mit dieser Forderung tritt das Gorki-Theater an. Aber bei aller Entschiedenheit tut es dies zugleich auch mit großer Behutsamkeit, mit einem ausgeprägten Sinn für vorhandene oder verschüttete Bezüge. Darunter auch den zur bürgerlichen 1848er Revolution, die sich rund um diesen Ort herum ereignete, zur Neuen Wache mit Helmut Kohls Pieta direkt gegenüber, zum Platz der Bücherverbrennung jenseits des Boulevards Unter den Linden. Man ist ja jetzt mitten in Berlin, sagt Shermin Langhoff. Nicht nur im historischen Zentrum mit seinen Überschreibungen und Deutungshoheitsgebieten. Sondern auch im touristischen Zentrum, ein guter Grund, weshalb in Zukunft alle Vorstellungen (außer Premieren) englisch übertitelt sein werden.
Shermin Langhoff, die neue Intendantin und vormals Erfinderin des "postmigrantischen Theaters" am Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße, leitete die Pressekonferenz mit einem schönen Satz von Carl Friedrich Zelter ein, jenem berühmten Leiter der Singakademie, für den Karl Friedrich Schinkel das Gebäude am Festungsgraben bis 1827 erbaute: Jeder Fremde und jedes hinzutretende Mitglied solle hier etwas für sich finden. Danach stellte sie, als eigentliches Statement und statt großen Konzeptgetues, das neue Gorki-Ensemble vor: lauter Berliner unterschiedlichster Herkunft. Und wieder gibt es fein gesponnene Bezüge: Da ist auf der einen Seite Ruth Reinecke, seit den 1970er Jahren Mitglied des Ensembles. Auf der anderen Seite (als Gast) der Schauspieler und Regisseur Çetín Ípekkaya, der in den 1980er Jahren das türkische Theater Tyatrom in Westberlin geleitet hat, eine Art Urzelle des postmigrantischen Theaters, dem unter Shermin Langhoff das Ballhaus Naunynstraße in den letzten Jahren ein so kraftvolles Forum geschaffen hat.
von links: Marianna Salzmann, Jens Hillje und Shermin Langhoff, die Drei vom Maxim Gorki Theater
© Lutz Knospe
Stadttheater in der Übergangsgesellschaft
Ruth Reinecke und Çetín Ípekkaya werden am 15. November gemeinsam in der Eröffnungspremiere der Intendanz Langhoff auf der Bühne stehen: in Anton Tschechows Stück über einen Epochenwechsel "Der Kirschgarten", von Nurkan Erpulat inszeniert – Reinecke als Ranewskaja und Ípekkaya als alter Diener Firs. Erpulat wird neben Sebastian Nübling (der zuerst ein Stück von Sibylle Berg uraufführen wird) und Yael Ronen fest am Maxim Gorki Theater arbeiten. Regisseure wie Falk Richter, Christian Weise und Hakan Savaş Mican gehören ebenfalls künftig dazu.
Der "Kirschgarten" ist nicht nur mit seiner Besetzung, sondern auch als Bekenntnis zum Stadttheater programmatisch: die alte bürgerliche Institution soll am Gorki-Theater unter den Bedingungen einer veränderten, sich verändernden Gesellschaft weitergedacht werden. Zugleich symbolisiert "Der Kirschgarten" das Bekenntnis zur Geschichte des Hauses, das als Theater für zeitgenössische sowjetische Dramatik 1952 gegründet worden war. Weithin berühmt in der Theaterwelt wurde es spätestens 1988, als Shermin Langhoffs Schwiegervater Thomas Langhoff mit Volker Brauns "Kirschgarten"-Fortschreibung "Die Übergangsgesellschaft" die finale Sackgasse, in die die DDR geraten war, auf die Bühne brachte. Und weil wir auch heute wieder in Zeiten aufgezwungener Veränderungen leben, wird Thomas Langhoffs Sohn Lukas Langhoff die "Die Übergangsgesellschaft" zur abermaligen Kenntnisnahme im neuen Gorki-Theater inszenieren.
Labor unternational
Die Studiobühne heißt nun "Studio Я", geleitet von der Dramatikerin Marianna Salzmann, die hier eine Art postnationales Labor einrichten will – sozusagen "unternational" arbeiten, wie es eine schöne neue Gorki-Wortschöpfung beschreibt. Hier soll das Projekt des Selbstbestimmungsrechts über Zuschreibungen und Verortungen, das sich das Theater auf die Fahnen schreibt, noch mal radikalisiert werden – ohne Sprachbarrieren, Gattungs- oder sonstige Grenzen. Mit von der Partie wird (gefördert aus dem Fonds "Doppelpass" der Bundeskulturstiftung) das Künstlerkollektiv "Conflict Zone Arts Asylum" sein, zu dem neben Marianna Salzmann auch Michael Ronen, Deniz Utlu und der Musiker Daniel Kahn gehören.
Vom neuen Maxim Gorki Theater, dessen Programm im November beginnt, könnten vielleicht bald schon wichtige Impulse für das ziemlich angeschlagene Stadttheaterkonzept ausgehen. Das wenigstens ist die vorsichtige Hoffnung, mit der man am Ende diese erste Pressekonferenz verlässt.
Von 2008 bis 2012 leitete Shermin Langhoff das Off-Theater Ballhaus Naunynstraße in Kreuzberg, ein ehemaliges Stadtteilkulturzentrum, das sie mit ihrem Konzept des "postmigrantischen Theaters" zu überregionaler Bedeutung brachte. Einen großen Erfolg markierte die Einladung der Ballhaus-Produktion Verrücktes Blut von Nurkan Erpulat zum Theatertreffen 2011. Es wird nun in den Spielplan des Maxim Gorki Theaters übernommen.
Presseschau – Hinweise
TV-Bericht in der Abendschau des Rundfunk Berlin-Brandenburg (4.9.2013)
Interview mit Shermin Langhoff auf Deutschlandradio Kultur (Fazit, 4.9.2013)
Interview mit Shermin Langhoff im Berliner Tagesspiegel (5.9.2013)
Kommentar von Sascha Krieger auf dem Blog "Stage and Screen" (4.9.2013)
Kommentar von Matthias Heine in der Welt (5.9.2013)
Kommentar von Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (5.9.2013)
Kommentar von Stefan Kirschner in der Berliner Morgenpost (5.9.2013)
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Und nun mal schön abwarten.
hubere" oder (neudeutsch) Branding, das immerneue Logo bei neuen Intendanzen, nervt mich allerdings zunehmend (zB. auch Karin Beiers D im Kreis), hat was von Beinchenheben an jeder Laterne, und das umgedrehte R erinnert mich vor allem an "Toys-ICH-us" oder an die berüchtigte "Kinderkost"-Szene aus Lars von Triers "Idioterne". Berechtigte Zweifel, ob wir wirklich in einer "Übergangsgesellschaft" leben, klingt für mich eher wie ne verpaßte Chance dieser Titel von heute her gesehen, und das weckt natürlich schon Neugier, was eine Inszenierung dieses Stoffes heute sein kann. Naja, und die Sache mit dem einzigen Theater, das nach einem ausländischen Autoren benannt ist, sehe ich auch eher in jenem Zusammenhang, den Herr Heine aufmacht; so furchtbar neue Perspektiven eröffnet mir dieser "unerhörte" Gedanke nicht. "Anton-Tschechow-Theater" hätte es ja ums Verrecken nicht heißen dürfen beispielsweise; perfiderweise stand "MGT" seinerzeit für so eine Denke, wenngleich das Verhältnis Tschechow-Gorki wiederum ganz andere und tatsächlich eröffnende Züge im Sinne des obigen Textes von Frau Slevogt zeitigte. Wenn der Start mit Tschechow und Braun etwas davon streift, fände ich das spannend, ich werde mich gedulden müssen.
was sie über staatliche schauspielschulen schreiben ist quatsch. nicht mehr und nicht weniger. schauen sie sich doch erst mal auf den homepages der schulen ihre abschlußjahrgänge an, bevor sie so ein agitatorisches zeug in den äther blasen. an den schulen hat schon vor mindestens 15 jahren ein umdenken stattgefunden.
Zuletzt im Juli habe ich erlebt wie eine junge Frau asiatischer Herkunft eben nur aus diesem Grund abgelehnt wurde. Sicherlich gibt es Schulen wie beispielsweise die Folkwang Essen, welche mit gutem Beispiel vorangehen. Sollten Sie andere Erfahrungen gemacht haben, bin ich gerne bereit Ihnen das zu glauben. Ich kann allerdings nur von den Erfahrungen berichten, welche ich vor Ort gemacht habe. Nicht mehr und nicht weniger. Mir ging es lediglich um eine eigene Beobachtung, welche leider (!) von Ihrer Einschätzung abweicht.
Herzlich
B.S.
(Liebe/r B.S.,
Esther Slevogt hat mit diesem Lapsus gar nichts zu tun. Der amtierende Redakteur, nämlich ich, hat diesen tepperten Fehler gemacht, den sie hier aufmerksam korrigieren. Sorry und Danke schön dafür
nikolaus merck)
Das wirft allerdings eine Frage auf, warum statt eines Gorki nun unbedingt ein Tschechow programmatisch als Eröffnungspremiere gewählt wird, das kann nur die Inszenierung erklären. Drücken wir Erpulat die Daumen, angesichts der vielen guten Tschechow-Inszenierungen von Gosch und Gotscheff in Berlin ein Wagnis besonderer Art. Eine Inszenierung von Gorkis "Feinde" wäre natürlich eine wirkliche spielplantechnische Tat besonderer Art. Aber soweit muss die neue Mannschaft sich ja nicht trauen in der ersten Spielzeit. Später hoffentlich schon.
Auch Cechov ist eine eher mäßige Entscheidung, denn auch da gab es eine legendäre Inszenierung von T. Langhoff am DT, nicht nur von Gosch und Gotscheff.
Zuviele Rückbezüge und Lukas L. inszeniert auch. Und Herr Erpulat ist ja auch nicht gänzlich unverwandschaftlich zum Leitungsteam.
Da greift zuviel in einander. Eher traurig.
Denn!? Befinden wir uns abermals in einer vergleichbaren historischen Situation wie zu Braun´s Zeiten? Wohl kaum.
Ein schwacher Fokus.
(Werte Zensurbehörde, die Häme tut nicht Not. Redaktionen - nicht nur auf nachtkritik.de - redigieren Texte. Oft verbessern sie sie, manchmal verschlimmbessern sie auch, was hier auf nachtkritik.de idealerweise zügig korrigiert werden kann. Wir stehen im engen Dialog mit unseren Autor/innen und sind stets dankbar für Hinweise auf Fehlerhaftes von unseren Leser/innen. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)