Sinnsuche mit Pferdeschwanz

von Hartmut Krug

Weimar, 6. September 2013. Langes schwarzes Kleid mit weißem Kragen, die blonden Locken zum Haarkranz geflochten, so steht die Darstellerin der Margarete auf der hölzernen Vorbühne vor rotem Vorhang und spricht die Zueignung. Das folgende Vorspiel auf dem Theater aber zeigt uns dann deutlich: In Hasko Webers "Faust" liegt die Betonung stark auf ausgestellter, komödiantischer Theatralik. Wir erleben eine rauchende Direktorin im Frack, einen Dichter, der die Verse mit altertümlich hohem Pathos knödelt, sich dann die Kleider vom Körper reißt und, im goldenen Höschen gelenkig turnend, posiert, eine Schauspielerin als lustige Person, die ihre Markierungen und Absprachen auf der Bühne schwer findet, einen Musiker, der zu spät auf die Bühne stolpert, und eine Abonnentin, die aus dem Publikum auf die Bühne klettert. Der Prolog im Himmel ist dann, ganz ohne Engel, auf die Wett-Vereinbarung reduziert.

Nerd mit Pferdeschwanz

"Faust" in Weimar als Einstand. Das ist eine Ansage. Zwar hatte Hasko Weber zum Auftakt seiner Stuttgarter Intendanz dem Eröffnungs-Inszenierungsreigen einen "Faust" beigefügt. Doch in Weimar war Goethe Leiter des Hoftheaters, hier wirkte er gemeinsam mit Schiller und steht mit diesem im Denkmal vereint vor dem Theater. (Rechts daneben ein Goethe-Kaufhaus, links ein Schiller-Kaufhaus.) Weimar wurde als erstes deutsches Theater nach dem 2. Weltkrieg wieder aufgebaut und 1948 neu eröffnet – mit "Faust 1". Nimmt man die Projekte des Kunstfestes Weimar hinzu, dann hat es seitdem rund ein Dutzend "Faust"-Inszenierungen in Weimar gegeben, die letzte von Tilmann Köhler 2008.

faust4 560 matthias horn uFaust (Lutz Salzmann) © Matthias Horn

Dem Erwartungsdruck hält Weber mit schöner Inszenierungslockerheit und einer überzeugenden dramaturgischen Konzeption stand. Da liegt der schmächtige Lutz Salzmann, der gerade noch Gott gespielt hat, als Faust wie ein Nerd mit Pferdeschwanz auf metallener Spielfläche im hölzernen Bühnenkasten, hustet und spuckt seine Verse und Bilder auf den Boden und wirft sich Drogen ein. Dabei fragt er sich, bin ich ein Gott? Aber nichts "vom Himmel durch die Welt zur Hölle". Er erlebt die Welt, wie sie sich ein Suchender in Gedanken erredet. Beim Pakt mit Mephisto sprudelt Faust seine Sätze wie besoffen von Rede-Erkenntnissen nur so heraus, während ihm Mephisto den Arm abbindet und das Blut in die Höhe und die Kanüle spritzt. Grandios, wie Salzmann die zu Sprichwörtern und Zitaten geronnenen Sätze herunterrattert und sie dabei lebendig und schön klingen lässt.

Im Drogenrausch geschaffene Phantome

Dieser Faust braucht nur den Lärm von einer Handvoll Leute im Hintergrund, um beim Osterspaziergang eine lange Phantasiebeschreibung zu entwickeln. Er sieht und erkennt nicht, er erdenkt sich die Welt und sucht weniger nach Wahrheiten als nach Wahrnehmungen und Erlebnissen. Sein Famulus ist ein cooler amerikanischer Dealer. Was Faust erkennt, was ihm erscheint, sind im Drogenrausch selbst geschaffene Phantome. Wie Mephisto, den der hochgewachsene, kräftige Sebastian Kowski als Spielmeister der übrigen Schauspieler gibt. Faust wird vorgespielt. Und wenn Mephisto aus der Stube wieder heraus will, auch einmal vorgesungen: Mit Karel Gotts Einmal um die ganze Welt, und die Taschen voller Geld lullt Mephisto ihn in seinen Wünschen ein. Wirklich heraus aus seiner Stube aber kommt Faust nicht.

faust1 560 matthias horn uMarthe (Birgit Unterweger), Margarethe (Nora Quest), Faust (Lutz Salzmann) und Mephisto (Sebastian Kowski) © Matthias Horn

Weber reduziert Szenen teilweise geschickt und witzig auf ihr Anspielungs- oder Bedeutungspotential, wie bei Auerbachs Keller. Und die Walpurgisnacht ist, nun ja, eine Video-Projektion von einer wilden Disko-Nacht (ohne Hochzeit von Oberon und Titania). Während beim Vierer-Treffen im Garten mit Marthe (eine biegsame Komikerin: Birgit Unterweger) und Mephisto, die sich mit urkomischer Direktheit in wild-ironische Kopulationen stürzen, ein Kontrastprogramm zum drängenden Faust und einer schier hinschmelzenden Margarethe gezeigt wird.

Eine Lust!

Nach der Pause werden die Margarete-Szenen in einem altmodischen Kulissentheater gespielt, über dem "Wie weh wie weh wie wehe" steht. Während Margarete und Faust im leeren Raum heftig aufeinander zu rennen, ruft Mephisto, wie ein Regisseur vor der Bühne sitzend, für jede Szene ein neues Hintergrundbild herab. Mit, bei den Knien beginnend, immer weiter sich den Körper hinaufbewegenden Ausschnitten einer nackten Frau. Schließlich erkennt man den Tod und das Mädchen.

Darunter braucht es nicht mehr als ein Kissen auf nackter Bühne, um Margaretes Zimmer, oder völlige Leere vor schwarzer Rückwand, um einen auf dem Boden liegenden Faust phantasierend in Wald und Höhle vorzustellen. Dabei wirkt dieser wie schier besoffen von sich selber und seinen Sinnspruch-Sucharien. Während die schwangere Margarete ihr "Neige du Schmerzensreiche" ganz ohne Mater dolorosa aufsagt und dabei unentwegt vom Stuhl springt. Solche einfachen, ja, durchaus plakativen, aber überzeugenden Bilder prägen Hasko Webers Inszenierung immer wieder. Auch wenn der Schluss, mit den Valentin-Szenen, etwas zu glatt abgespielt wirkt, ist dies doch eine packende und muntere Faust-Version.

Mit einem souveränen, energischen, auch ein wenig ordinären Mephisto (rote Stiefel, Fellmantel, dicke Zigarre) und einem Faust, der uns als windiger Phrasendrescher nicht unbedingt sympathisch wird. In der Schlussszene wirkt er an der Rettung Margaretes nicht wirklich innerlich beteiligt, und das letzte Wort hat nach "Gerichtet" und "Gerettet" Mephisto mit seinem herrischen Befehl "Her zu mir." Dieser Faust in Weimar ist eine Lust.


Faust. Der Tragödie erster Teil
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Hasko Weber, Bühne: Olver Helf, Kostüme: Syzzy Syzzler, Video: Bahadir Hamdemir, Dramaturgie: Beate Seidel.
Mit: Lutz Salzmann, Sebastian Kowski, Nora Quest, Elke Wieditz, Birgit Unterweger, Krunoslav Sebrek, Roswitha Marks, Fridolin Sandmeyer.
Dauer: 2 Stunden, 50 Minuten, eine Pause

www.nationaltheater-weimar.de

 

Kritikenrundschau

"Weber gibt - scheinbar - dem Publikumsgeschmack nach, spielt in Wahrheit geschickt mit den Erwartungshaltungen, die an seine Intendanz gerichtet sind, und führt andererseits mit dem 'Faust' vor, was das Theater - was sein Theater können wird", so Stefan Petraschewsky auf mdr Figaro (8.9.2013). "Mit einem Wort: es ist die perfekte Auftaktinszenierung, indem sie die Aufgabe des Deutschen Nationaltheaters in der Klassikerstadt Weimar selbst thematisiert." Es wird ganz viel auf der Vorderbühne gespielt, nah am Publikum, die Scheinwerfer links und rechts sind deutlich zu sehen. "Kleine Brüche überall. Mephisto hat seine - private - Uhr am Handgelenk - Hat da die Garderobe nicht ihren Job gemacht?! Doch. Hat sie. Gegen die üblichen Regeln. Es gibt auch keine vierte Wand. Das Publikum wird angespielt."

"Da, wo dieser Abend ernstlich überzeugend ist, da ist er heiter. Und wo er ernst ist, überzeugt er nicht", so dreht es Henryk Goldberg in der Thüringer Allgemeinen (9.9.2013). Webers Faust habe "alles Hoffen, alles Suchen schon hinter sich, der tut nicht einmal mehr so, als wolle er sich verbinden mit etwas anderem als: Ich". Das tauge durchaus als "Konzeption" und "Beschreibung von Wirklichkeiten", stehe aber "dem Spiel im Wege". Entsprechend sei Lutz Salzmann als Faust "eine künstlerische Leerstelle, eine dramaturgische Konstruktion". Fast alle anderen dürften spielen, nur er "exekutiert, demonstriert ein Konzept, das sich bleischwer auf die Vitalität, die Möglichkeiten des Schauspielers legt". Dennoch sei es "ein weitgehend kurzweiliger, entspannter Abend" mit einer Truppe voller "Spiel-Lust" – "Um auch ein spannender zu werden, hätte er einen Faust benötigt".

Weber habe sich von Einar Schleef und dessen Collage "Droge Faust Parsifal" zu dem "Faust-Junkie" Lutz Salzmanns inspirieren lassen, schreibt Frank Quilitzsch in der Thüringischen Landeszeitung (9.9.2013). Des Pudels Kern sei der "Ego-Teufel in ihm selbst", er "ein Bedrängter, der letztlich Erkenntnisstreben gegen Genuss-Sucht eintauscht und im Rausch nicht merkt, wie ihm bloß Ersatzbefriedigung zu Teil wird". Er sei "vor allem eines: ziemlich blass". Mitunter habe man Mühe, ihm und dem Text ratternden Mephisto zu folgen", "zumal vieles nur angerissen und kaum etwas zu Ende gesprochen wird". Webers "unkonventioneller" Zugriff wähle eine "betont spielerische Variante" und biete den Plot "als nach außen projizierten inneren Zweikampf der dialektisch angelegten Hauptfigur". Die "gereihten Szenen-Fragmente lassen zwar selten Langeweile aufkommen, aber auch kaum Tiefgang zu".

Als Fall für den Arzt nimmt Helmut Schödel von der Süddeutschen Zeitung (12.9.2013) bereits die Studierzimmerszene wahr: Faust "liegt auf einem metallenen Podest (Bühne: Oliver Helf) und stopft jammernd Tabletten in sich hinein, während ein fürchterlicher Redeschwall von ihm Besitz ergreift, ein 'Faust'-Gebrabbel." Danach wird diagnostiziert, dass "die ganze Aufführung nach dem Muster 'Hurra, die Schule brennt' verläuft" und "keinen Ort und keine Figuren findet". Auch die Darsteller können den Kritiker nicht überzeugen. "Aber Schauspielerkritik verbietet sich eigentlich an diesem Abend, sie hatten alle keine Chance."

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